Der Hartnäckige und der Märtyrer
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Der Hartnäckige und der Märtyrer Doppelgänger in der Natur

Haben Sie schon einmal bemerkt, dass es im Winter faktisch unmöglich ist, den Bayerischen Enzian vom Schnee-Enzian zu unterscheiden? Ersterer wird vom Schnee bedeckt, und der Zweite verschwindet komplett vom Radar. Und dies obwohl er dort wächst, wo der Wind den Schnee von den Graten weht und man ihn eigentlich beobachten könnte.

Ebenso erstaunlich ist es, wie ähnlich sich die beiden hübschen, kleinen blaublütigen Pflanzen im Sommer sind. Jede ihrer Blumenkronen scheint mit einer himmlischen Essenz angereichert und erfreut uns Erdlinge, sollten wir ihr auf unseren Wegen einmal begegnen. Fast verlieren könnte man sich in ihrem Blau. Auch die Blütenröhren, die Blätter, die unglaublich viel kleiner sind als die Blüten, und der gut entwickelte Kelch gleichen sich. Gemeinsam ist den beiden Enzianen, dass sie im Jura praktisch nicht vorkommen und dass sie oberhalb der Waldgrenze verbreitet sind. Fügt man noch die offensichtlich morphologische Variabilität der Arten an, ist das Verwirrspiel perfekt, und es scheint keine Möglichkeit mehr zu geben, sie voneinander zu unterscheiden!

Der Unterschied liegt im Detail

Dinge aufzudecken, die im Verborgenen liegen, ist des Menschen Glück. So findet man bei ganz genauem Hinschauen zum Beispiel heraus, dass der Bayerische Enzian einblütig, aber mit sterilen Trieben ausgestattet ist und dass der Schnee-Enzian im Allgemeinen vom Grund an verzweigt ist. Ebenfalls entdeckt man, dass die gleich grossen Blätter des Bayerischen Enzians entlang des Stiels wachsen und einen glatten Rand sowie eine konische Form haben. Beim Schnee-Enzian hingegen ist der Kelch nicht geflügelt und die Krone anliegend. Und trotz seinem Namen scheut er den Schnee, man findet ihn zusammen mit der Alpenazalee eher im Gras der windigen Grate, während der Bayerische in den verschneiten Karmulden der Kalksteinböden gedeiht.

Überleben in der kalten Jahreszeit

Kommen wir zurück zum Winter. Erlauben Sie mir, Ihre Aufmerksamkeit auf einen wesentlichen, wenn auch sehr diskreten Unterschied zwischen den beiden Arten zu lenken: Der Bayerische Enzian ist eine mehrjährige Pflanze, während der Schnee-Enzian einjährig ist. In einer ziemlich beispielhaften Form der Hartnäckigkeit überlebt die erste Art in Form eines winzigen Baumes, in dem das Leben tief in den Knospen schläft. Der Schnee-Enzian hingegen verliert im Herbst Wurzeln, Stängel und Blätter, kurz gesagt sein gesamtes vegetatives System. Er existiert dann nur noch in Form von Samen, nachdem sich die Pflanze quasi zum Wohle der nächsten Generation geopfert hat.

Die Erforschung von Überlebensstrategien in der kalten Jahreszeit ermöglichte es, jede Pflanzenart einem biologischen Typ zuzuordnen und für jede Klimaregion die charakteristische Verteilung der biologischen Typen zu definieren. Bei unserer Bergflora machen die einjährigen Pflanzen einen Anteil von weniger als 2% aus. Der einjährige Schnee-Enzian ist somit eine aussergewöhnliche Art!

Und wir als Vertreter der menschlichen Spezies? Sind wir eher Bayerischer Enzian oder Schnee-Enzian?

Doppelgänger

Es gibt sie nicht nur unter den Menschen, sie sind in der Natur auch sonst vorhanden. In dieser kleinen Serie, die dem Pflanzenreich gewidmet ist, lädt uns der Biologe, Bergführer und Wanderleiter Bertrand Gentizon ein, einige überraschende und manchmal gefährliche Ähnlichkeiten zu entdecken. Dieser Text bildet den Abschluss der Serie.

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