Der verschwundene Seelenwärmer
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Der verschwundene Seelenwärmer

Man sieht ihn fast nur noch auf alten Fotos von berühmten Bergsteigern: den Pullover. Unsere Helden trugen ihn, vorzüglich rot oder weiss und grob gestrickt, vorn auf der Brust das Abzeichen eines exklusiven Kletterclubs oder allenfalls das grosse des SAC. Er ist verschwunden und mit ihm ein Stück Herz. Denn der Pullover des Bergsteigers (ich wähle bewusst die männliche Form) erzählte Geschichten – von Abenteuern, von Freundschaft, von Liebe gar. Masche um Masche. Ernst Reiss, Erstbesteiger des Achttausenders Lhotse, schreibt in seiner Autobiografie: «In jenen roten Norwegerpullover mit den weissen Halsstreifen hatte ich meinen ganzen Stolz, mein Vertrauen und viele schöne Bergfahrterinnerungen gelegt. Ich zerspritzte fast vor Freude, als mir meine Mutter einen solchen Pullover strickte. Das einmal so heiss ersehnte Kleidungsstück blieb über viele Jahre mein treuer Begleiter auf Skitouren und Bergfahrten. Nur mit schwerem Herzen trennte ich mich nach zehnjähriger Freundschaft von diesem mir lieb gewordenen ‹Seelenwärmer›. Der handgestrickte Wollpullover war also nicht nur warm und praktisch, er war auch Ausdruck einer Beziehung zur Mutter, zur Ehepartnerin oder Freundin. Wenn man im Biwak vor Kälte zitterte, erinnerte einen das kratzige Gefühl um den Hals an die Lieben zu Hause, und das stärkte die Lebenskraft und den Überlebenswillen.

Vielleicht hat das Verschwinden des Körper- und Seelenwärmers nicht nur mit dem Aufkommen neuer Materialien im Outdoorbekleidungssektor zu tun, also mit der Verlagerung von Handarbeit aus der Wohnstube in Fabriken in Fernost, sondern auch mit dem veränderten Rollenverständnis im Alpinismus. Der Mann klettert, die Frau strickt, das war gestern. Es gab zwar, ich erinnere mich, eine kurze Übergangsphase. Man sah Männer sogar im Zug mit Holznadeln und Schafwollknäueln werken, bestaunt wie Ausserirdische. Nun, der Markt hat es gerichtet, so wie der Markt, getreu liberaler Weltsicht, vieles richtet. Faserpelz, Fleece und Daunen haben die Emanzipation auch in der alpinen Welt befördert. Die modischen Produkte aus China oder Bangladesch sind praktisch, pflege- und federleicht und geben herrlich warm – nur die Seele fehlt.

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