Der Wichelplankstock
Ein Hochgebirgsbild von eigentümlicher Pracht enthüllt sich dem Blicke, wenn man vom Meiental kommend sich der Paßhöhe des Susten nähert und der phantastisch gezackten Kette gegenübersteht, die sich von den Fünffingerstöcken zu den Spannörtern zieht. Was die Kühnheit ihrer Felsgipfel anbetrifft, hält sie den Vergleich mit jeder andern Gebirgsgruppe der Urner Alpen aus. Trotzdem gehört sie zu den von Bergsteigern am meisten vernachlässigten Gebieten derselben. In dieser Gruppe nimmt der Wichelplankstock ( 2976 m ) eine dominierende Stellung ein. Als ein Felsgipfel von erhabener Wildheit entragt er den ihn umgebenden Schneefeldern des Stößen- und Wichelplankfirns. Der kecke Aufbau dieser Gneisnadel läßt sich in den Urner Alpen nur etwa mit dem Sonnigwichel vergleichen. Wenn man die kühnen Klippen des letzteren vom Spiellauifirn betrachtet, ist eine Ähnlichkeit mit dem Wichelplankstock, wie er sich auf der oben stehenden Skizze zeigt, unverkennbar. Beide Gipfel wurden fast zu gleicher Zeit ( Juli 1895 ) zum erstenmal bestiegen. Während sich aber das Interesse der Bergsteiger nachher mehr dem Sonnigwichel zuwandte, blieb der Wichelplankstock die Jahre hindurch unbeachtet und erhielt den spärlichsten Besuch, so daß der Gipfel bis jetzt im ganzen kaum von zehn Partien bestiegen wurde, und in der alpinen Literatur kein ausführlicher Bericht seiner Besteigung existiert, mit Ausnahme des interessanten Aufsatzes von Mr. Legh. S. Powell im „ Alpine Journal " XXII, pag. 24-25. Trotzdem ist die Besteigung des Wichelplankstocks entschieden interessanter, die Kletterei etwas kürzer, aber schwieriger.
Es war noch Nacht, als wir, die Herren A. Stöcicli, H. Laporte und ich, am 28. Juni von Färnigen im Meiental aufbrachen, um die Sustenstraße aufwärts zu verfolgen. Etwas vor der Stelle, wo die Straße die Meien-Reuß übersetzt, verließen wir dieselbe und stiegen auf einem schmalen Pfad empor zur Alp Oberplatti ( 2055 m ). Ein klarer Morgen, noch eingehüllt von den grauen Fittichen der Dämmerung, stieg über die Berge, als wir dort eintrafen und wohl einige verfallene Mauern, aber nichts von einer Hütte fanden. Über weglose Matten schwach ansteigend hielten wir uns gege.n den Südwestfuß des Murmelsplankstocks, wo wir an einer Quelle die Feldflaschen füllten und dann den Stößenfirn betraten. Derselbe war in so hartem Zustande, daß wir uns nur mit Mühe fortbewegen konnten und nach Möglichkeit die glatten Felsbänke zur Rechten benützten. Plötzlich stiegen hinter einem Felsausläufer die beiden nadeiförmigen Gipfelzacken des Wichelplankstocks empor, die in dämonischer Wildheit ihre Umgebung beherrschen. Am Fuße des Westgrates verließen wir den Slößenfirn und erstiegen eine steile Rinne in östlicher Richtung, indem wir Stufen in den harten Schnee schlugen. Der Einstieg in die Felsen, den wir ziemlich weit oben nahmen, war etwas unbequem; die darauf folgenden Felsen sind leicht zu erklettern und führen rasch in die Höhe. Auf einem horizontalen Bande traversierten wir hinein in den Kamin, der in der Scharte zwischen Nord-und Südgipfel ausmündet. Derselbe wird durch ein kurzes, etwas überhängendes Wändchen unterbrochen, dessen Überwindung aber nichts auf sich hat, da die Kletterei nicht exponiert ist. Wir passierten die Stelle, ohne die hier ganz unnötig herumhängenden Seilschlingen zu benützen, und betraten bald darauf die Gipfelscharte. Einen andern Charakter hat die nun folgende Kletterei über den beinahe senkrechten Grat zum Gipfel; sie ist außerordentlich exponiert und durch die ungünstige Schichtung des Gesteins auch ziemlich schwierig. Nach zirka einstündigem Klettern betraten wir die wenig Platz bietende Spitze, wo wir uns gegenseitig mit dem Seil gehörig versicherten, um die Aussicht gefahrloser zu genießen ( 8 Uhr 40 Min. ).
Als riesiger Turm erhebt sich gegenüber der Südgipfel, der von hier aus eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Nordgipfel der Aiguille du Géant hat. Es herrscht noch Unklarheit darüber, wer diesen Gipfel zuerst erreichte1 ). Herr H. Rütter besuchte ihn 1904 mit Jos. Zgraggen, wobei sie von der Spitze direkt in die Scharte abstiegen, eine Route, die, vom Nordgipfel gesehen, einen ganz desperaten Eindruck macht.
Nach 1'/dstündigem Aufenthalt traten wir den Abstieg an und waren in einer Stunde bei unsern Säcken, die wir am Fuße der Wand zurück- gelassen hatten. Wir hatten nun nicht übel Lust, den namenlosen Felsgipfel zu erklettern, der am Ende des zackigen Südgrates des Wichelplankstocks liegt und den Charakter eines selbständigen Berges hat, was sich besonders deutlich zeigt, wenn man die Gruppe vom untern Ende des Meientals betrachtet. Die Steilheit der Wände aber, mit denen er gegen diese Seite abbricht, bewog uns, zuerst seine Südseite anzusehen, d.h. wir beschlossen, vorläufig den Murmelsplankstock ( 2862 m ) zu besteigen.
Wir kochten noch einen Tee und fuhren dann durch die Schneerinne auf den Stößenfirn hinunter. Einen Schneetrichter traversierend gewannen wir den Westgrat des Murmelsplankstocks und hierauf nach einem mühsamen Aufstieg durch eine Schuttrinne den Sttdwestgrat, der unschwierig zur Spitze führte ( 12 Uhr 55 Min. ).
Unser größtes Interesse nahm natürlich wieder der namenlose Felsgipfel in Anspruch, der damals noch unerstiegen war. Er überragt den Murmelsplankstock um zirka 60 m ., so daß er die Aussicht nach Norden vollständig versperrt und der Wichelplankstock nicht sichtbar ist. Seine Südseite sieht womöglich noch abschreckender aus; immerhin schien es uns denkbar, hier einen Aufstieg zu finden, doch reichte die Zeit zu einem Versuche nicht mehr aus ' ).
Einen Glanzpunkt der Aussicht bilden die Fünffingerstöcke und die gegenüber kühn aufragenden Gipfel der Susten- und Fleckistockkette. Überhaupt verdiente der Murmelsplankstock als hübscher, leicht zu besteigender Aussichtsberg mehr Besuch; er ist ganz besonders für Frühsommertouren geeignet.
Wir verweilten gegen zwei Stunden auf dem Gipfel und nahmen den Abstieg wieder über den Südwestgrat bis in eine Scharte, wo uns nun eine prächtige Abfahrt in die tiefern Regionen bevorstand. Durch die mit Alpenrosen übersäten Matten der Oberplattialp wanderten wir hinunter ins Meiental und langten um 7 Uhr nach ermüdendem Talmarsche in Wassen an.
Für Bergsteiger, welche es vorziehen, jene Pfade zu betreten, die der breite Touristenstrom unbeachtet läßt, können die Berge nördlich vom Sustenpaß warm empfohlen werden. Es ist eine eigenartige, reizvolle Gebirgsgruppe, die noch den Hauch des Ursprünglichen atmet. Besonders wird eine Besteigung des Wichelplankstocks jeden Kletterer aufs höchste befriedigen.Henry Ludescher ( Sektion Uto ).