«Die Berge kennen keine Verwaltungsgrenzen»
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«Die Berge kennen keine Verwaltungsgrenzen» Initiative für eine alpenweit einheitliche Lawinenprognose

Betreiber von Tourenplattformen und Blogger fordern eine einheitliche und mehrsprachige Lawinenprognose für den ganzen Alpenraum. Mit dem Anliegen rennen sie offene Türen ein. Auch der SAC unterstützt die Initiative.

Entlang der Schweizer Grenze gibt es Dutzende Übergänge und Gipfel, die von einem Land ins andere führen und von verschiedenen Seiten mit Ski bestiegen werden können. Einige Touren führen zum Beispiel nach Frankreich oder Italien, und gewisse Gipfel kann man von der Schweiz oder von Österreich aus besteigen und in ebenso viele Richtungen wieder hinunterfahren. In diesen Grenzregionen ist man mit entsprechend vielen Lawinenbulletins konfrontiert, denn jedes Land hat seinen eigenen Lawinenwarndienst oder gar mehrere davon. Die Bulletins sind in der jeweiligen Landessprache verfasst, haben verschiedene Darstellungen und prognostizieren unterschiedliche Gefahrenstufen – für ein und denselben Berg. «Die Berge kennen keine Verwaltungsgrenzen. Dasselbe gilt für die Schnee- und Lawinensituation. Für die Alpen werden jedoch von 17 Lawinenwarndiensten unterschiedliche Lawinenprognosen herausgegeben», heisst es auf der Website der Initiative für eine alpenweit einheitliche Lawinenprognose (IFALP). Die Initiative wurde vor gut einem Jahr lanciert. Zu den Initianten gehören Tourenplattformen wie Skitourenguru, Gipfelbuch oder Camptocamp, Blogger und andere Bergportale aus verschiedenen Ländern. Günter Schmudlach von der Plattform Skitourenguru hat auf Anfrage den Grund für die Initiative erklärt und dazu eine Umfrage unter den Initianten gemacht: «Berge sind oft gleichzeitig auch Landesgrenzen. Das heisst, wir Wintersportler bewegen uns häufig entlang von Warnregionsgrenzen.» Zudem seien Wintersportler sehr mobil unterwegs.

Immer mehr Onlineplattformen und Apps bieten Tourenplanungstools für die ganzen Alpen oder zumindest länderübergreifend an. Deshalb haben sie nicht nur ein Interesse daran, Lawinenprognosen aus allen Regionen und Ländern zur Verfügung zu haben, sondern auch daran, dass die Bulletins inhaltlich und formell zusammenpassen. Die SnowSafe-App zeigt zum Beispiel bereits einen grenzenlosen Lawinenlagebericht an. «Da treten die Diskrepanzen ganz offen ans Tageslicht», sagt Günter Schmudlach. Zwar würden alle Lawinenwarndienste dieselbe Skala verwenden, aber sie werde sehr unterschiedlich angewandt. Das hat auch die Studie eines Autorenteams um Frank Techel gezeigt, die 2018 publiziert wurde: Über Grenzen hinweg wurde im Schnitt nur an rund zwei Drittel aller Tage die gleiche Gefahrenstufe ausgegeben. Zudem ist es so, dass die einen Warndienste in der Tendenz die Gefahrenstufe immer eher tiefer und die anderen immer eher höher ausgeben. So ist es zum Beispiel mit den Lawinenbulletins aus Frankreich und der Schweiz. «In Frankreich ist es gang und gäbe, auch bei Stufe 3 (erheblich) oder Stufe 4 (gross) sehr exponiertes Lawinengelände zu begehen. Denn diese Gefahrenstufen sind dort eher die Regel als die Ausnahme», erklärt Günter Schmudlach. Komme nun aber ein Franzose in die Schweiz und verhalte sich wie zu Hause, gehe er hohe Risiken ein. Denn in der Schweiz wird die Stufe 4 im Vergleich nur selten ausgegeben.

Neben der konsistenten Verwendung der Gefahrenstufe wünschen sich die Initianten von IFALP aber noch einiges mehr, damit alle Lawinenbulletins für den Alpenraum gleich daherkommen: Die Berichte sollen zusätzlich zur Lokalsprache auch in Englisch verfügbar sein, zur gleichen Zeit ausgegeben werden und einheitlich auf einer dynamischen Karte dargestellt sein oder auf ähnlich grossen Warnregionen basieren. Mit ihren Forderungen rennen die Initianten offene Türen ein. «Das sind die gleichen Ziele, die auch die EAWS verfolgt», sagt Thomas Stucki vom WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF). Die EAWS ist ein Zusammenschluss von 26 europäischen Lawinenwarndiensten aus 16 Ländern, und Thomas Stucki wirkt als Koordinator in der internationalen Organisation. Er sagt, dass sie durchaus schon viel erreicht habe: «1994 wurde die fünfteilige Gefahrenskala eingeführt, das war ein zukunftsgerichteter Entscheid.» Nach und nach wurden weitere Standards umgesetzt. Etwa die Aufnahme der Lawinenprobleme in die Lawinenbulletins, die Lawinengrössen, die Informationspyramide für die Bulletins oder eine Matrix, die eine objektivere Beurteilung der Lawinengefahrenstufe unterstützt. «Das passiert alles auf der freiwilligen Basis der Lawinenwarndienste. Die Koordination braucht viel Zeit und Überzeugungsarbeit», sagt Thomas Stucki. Und trotz allen Standards bleibt Interpretationsspielraum. «Eine Lawinenprognose ist nicht das Resultat eines mathematischen Algorithmus», sagt er. Aber auch hier arbeite die EAWS an Verbesserungen. Eine interne Arbeitsgruppe beschäftige sich zum Beispiel mit einer griffigeren Definition der Gefahrenstufen. Die Mehrsprachigkeit, insbesondere die Ausgabe in Englisch, die Einführung der Ausgabezeit um 17 Uhr und die Verkleinerung der Warnregionen werde von vielen europäischen Warndiensten nach und nach umgesetzt.

Schwieriger dürfte es bei den Ressourcen und der Organisation der Lawinenwarndienste werden. «Wir sind in der glücklichen Situation, dass das SLF die Lawinenwarnung für die ganze Schweiz macht», sagt Thomas Stucki. In anderen Staaten ist die Lawinenwarnung je nach Bundesland oder Provinz unterschiedlich organisiert. Italien hat sogar drei Warndienste, die dasselbe Gebiet einschätzen. Zudem stehen den Warndiensten unterschiedlich viele Mittel zur Verfügung. Das österreichische Bundesland Kärnten beispielsweise habe nur einen einzigen Lawinenwarner, so Thomas Stucki. In der Schweiz befasst sich dagegen täglich ein dreiköpfiges Team mit der Lawinensituation. «Eine gute Lawinenwarnung ist ohne die entsprechenden Ressourcen nicht möglich», sagen die Initianten der IFALP. Gefordert sei deshalb auch die Politik. «Wir bemühen uns zurzeit, die grossen Alpen- und Skivereine an Bord zu holen», sagt Günter Schmudlach. Mit Erfolg: Zu den Unterstützern des Anliegens gehören mittlerweile auch der SAC und der Österreichische Alpenverein.

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