Die Jöriseen und ihre Tierwelt.
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Die Jöriseen und ihre Tierwelt.

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Die Entstehung der Jöriseen.

Die Jöriseen und ihre Tierwelt.

Dr. Hans Kreis ( Sektion Basel ).

Von Illustration nach Aufnahmen des Verfassers.

I. Die Jöriseen.

Die Jöriseen ( 2445— 2700 m ) liegen im Flüela-Scalettagebirge, welches mit seinem verhältnismäßig großen Gletscherreichtum einen letzten Ausläufer des gewaltig ausgedehnten Silvrettamassives darstellt. Die höchste Erhebung, das Flüela-Weißhorn ( 3083 m ), umrahmt die zu seinen Füßen sich ausbreitende Kette der 13 Jöriseen. Das ganze Gebiet wird geographisch von der Silvretta durch das Vereina-und Süsertal, den Fleßpaß und das Fleßtal getrennt. Flüelatal und Flüelapaß bilden die tiefeinschneidende Grenze zwischen der Weißhornkette und dem Albulagebirge. Nach drei Seiten hin entsendet das Fittela-Weißhorn seine Ausläufer. Der eine strahlt nach Süden, dem Flüelapaß entgegen, als zackiger kantiger Felsrücken; der zweite verliert sich gegen Nordosten in den endlosen Trümmerfeldern und Schuttwällen der Endmoräne des Jörigletschers, der dritte endlich verläuft gegen Nordwesten, ein bizarrer Felsgrat mit zahllosen Spitzchen und Felskegeln, hinweg über das Gori-oder Eisenhorn ( 2989 m ) und die Pischa ( 2982 m ) bis zum letzten Bergwall vor Klosters, dem Lauenzughorn ( 2471 m ), welches mit breitem Rücken gegen das Tal von Monbiel abfällt.

Um uns mit den Jöriseen bekannt zu machen, wollen wir von der Vereinahütte aus eine Wanderung unternehmen, die uns durch das wilde Jörital hinauffuhren soll in eine kleine Welt für sich, in eine Welt, die uns erinnert an die Seenwelt am Rande des grönländischen Inlandeises oder an die unzähligen Wasserbecken des spitzbergischen Inselreiches.

Schon steigt die Sonne über den Zinnen des Ungeheuerhorns hervor und färbt mit einem leisen rosigen Duft die Zacken der die Hütte umgebenden Alpen, als wir unser Nachtquartier verlassen, um zu den Jöriseen aufzusteigen. Wolkenlos blaut der Himmel über dem Hochgebirge. Um uns den Umweg über die untere Brücke zu sparen, gehen wir kurz nach der Hütte vom Sträßchen ab und nehmen durch Heidelbeeren- und Wachholdergestrüpp den Weg zum Steglein, welches schwankend über eine tiefe, vom Wasser durchtobte Schlucht hinüberfuhrt. So gelangen wir etwas rascher in die Fremd -Vereina.

Munter und gewandt schlüpft ein kleines Eidechschen, dessen Panzer einfach graugrün und braun schillert, durch das lose Gebüsch der Alpenrosen. Langsam übersteigen wir die Hügelwellen. Die Hochmatten werden vom schnellströmenden Bache durchschnitten. Zwischen den hohen Fruchtträgern der Anemone alpina var. sulfurea blühen noch vereinzelt ihre blaßgelben Kronen und erinnern an den vergangenen Frühling. Und dazwischen erglühen die goldigroten Köpfe der Habichtskräuter. Vom Winde leise bewegt, schaukeln die düstern schwarzen Ähren der Alpengräser hin und her.

Da öffnet sich der Blick ins Süsertal. In seinem Hintergrunde steht stolz und mächtig der Felsendom des Linards. Sein Haupt ragt und strahlt noch im Greisen-scheitel des ewigen Schnees, und hart und scharf zeichnet sich die große steile Schneerinne vom schwarzen Felsgestein ab. Zu seinen Seiten erheben sich seine Trabanten: der fürchterliche senkrechte Absturz des Ungeheuerhorns, die gewaltigen Steinmassen der Plattenhörner und das feine spitze Spitzchen des Piz Fleß.

Immer weiter geht es in die Höhe. Den Bergrücken entlang fährt ein kühler Wind. Bald beginnt die Weide steiniger zu werden. Große Felsblöcke liegen zerstreut umher. Wir schreiten über sumpfige Matten dahin, um dann schließlich zu einem aufgetürmten Steinwalle zu kommen. Die Blöcke werden größer und fester. Da und dort ertönt in der Geröllhalde der schrille Pfiff eines Murmeltiers. Und bald werden die Hänge zu zerissenem Felsenwerk und sind mit Trümmern übersät. Wenn aber der Blick über die düstere Steinöde dahingleitet, hinein in ihre Spalten und Risse, in welchen sich ein Häufchen Erde angesammelt hat, dann fällt er unverhofft auf die tiefblauen Sternlein der Gentiana brachyphylla, die lachend und leuchtend in schönster Blüte stehen. Ihre taubehängten Blumenblätter schillern wie wunderbar rätselhafte Diamanten. Dann und wann umgaukelt ein munterer Falter übermütig ihre Blumenkelche und erzählt ihnen von seinen langen Fahrten und Abenteuern.

Das Tal wird unwegsamer, zerrissen und zerklüftet, ein weites, ödes und leeres Felsengewirr mit endlosen Geröllhalden. In tiefen Runsen quillt das Wasser, das von allen Seiten dem Jöribache zufließt. Überall plätschert und gluckst es, das scheinbar einzig Lebende in dieser Wüste; allüberall rinnt es als eilfertiges Bächlein über das Gestein, tropft und rieselt, wohin das Auge sieht. In nie von der Sonne bestrahlten Klüften lagert der letzte schmutzigweiße Schnee. Karge kümmerliche Moos- und Flechtenpolster überziehen die scharfen kantigen Felsen, und nur verzagt wagen wenige Gletscherranunkeln ihre Blütenköpfchen hervorzustrecken.

Doch bald erscheint ein anderes Bild. Noch ein letzter steiler Geröllabsturz, und wir stehen inmitten einer leuchtend grünen Weide. Träumend ruht hier ein lieblicher Alpensee, der ringsum das Gelände widerspiegelt und sich zu freuen scheint am Anblick der herrlichen Alpenwelt. Offen lacht er der Sonne entgegen und Jäßt sich bis auf den steinigen Grund durchschauen. Hie und da schwebt in ruhigem Fluge eine Wasserjungfer über die schimmernde Fläche und läßt ihren metallroten glänzenden Körper im Lichte funkeln. Nur wenig tief sind die Wasser des Sees, kaum daß sie einen Meter erreichen. Der Abfluß ist seicht und sumpfig. Wenn Tag für Tag über der Gegend das liebliche Sommerwetter herrscht, dann versiegt der Abflußquell, und der See geht seinem sicheren Ende entgegen. Hat der Winter alles blendend weiß überfirnt und muß er dann nach nutzlosem Ringen der Gewalt des Sommers weichen, dann sammeln sich in der Mulde die getauten Wasser an, und gar bald beginnt hier ein reges Leben einer kleinen Organismen weit. Doch strahlt während Wochen ein blauer Himmel, dann versickern die Wasser, das Bett wird trocken gelegt, und inmitten der grünen Alpmatte breitet sich dann eine düstere grau-steinige Wüste aus.

Jetzt noch ein letzter steiler Anstieg und dann ist das Signal erreicht, von dem aus das Auge frei über die Seen hinweg nach dem Weißhorn schweift oder hinunter blickt in das Jörital. Alle Gipfel flammen im flüssigen Gold der Sonne. Steil stürzen die Ufer der Seen an der Seite des Jörigletschers ab, Geröll und Schutt in die Becken ergießend. Doch gegen das Tal hin leuchtet ein grünes flaches Gestade, das übersät ist von den weißen Blüten der Alpenwucherblume ( Leucanthemum alpinum ). Bescheiden strecken kleine Alpenehrenpreise ( Veronica alpina ) ihre zarten himmelblauen Köpfchen hervor, umgeben von dem zierlich kleinsten Augentrost ( Euphrasia minima ), welcher kaum sichtbar zwischen den Halmen der Alpengräser hervorblinzelt. Unser Blick ruht auf einem buntdurchwirkten Teppich der Alpenweide. Die schmucklosen Windblütler sind fast alle verschwunden; nur noch als karger, die kahlen Abhänge überkletternder Graswuchs, als graugrüne Decke, von der sich die Blumen nur um so leuchtender abheben, haben sie sich behauptet. Hier fällt uns der gedrungene Wuchs der Alpenpflanzen auf. Die Stiele haben sich meist verkürzt und dadurch die Blätter zu Wurzelrosetten zusammengedrängt, die sich oft zu dichten Polstern zusammenschließen ( z.B. Silène acaulis, Androsace helvetica ).

Die Erscheinung des gedrängten Wuchses unserer Alpenpflanzen ist eine Folge des Alpenklimas. Sonnen- und Schattenseite schaffen hier große klimatische Unterschiede auf ganz geringe Entfernungen. Die zerstörende Wirkung des Windes läßt nur niedere Gewächse zu und verlangt eine feste Verankerung im Boden. Kurz ist der Alpensommer; spät tritt er ein und wird häufig von Schneefällen unterbrochen, Dr. Hans Kreis.

und die Nächte drohen oft mit harten Frösten in die volle Vegetation. Um daher die Art zu erhalten, muß die Alpenpflanze sich in kürzester Zeit voll und ganz entwickeln können. Diese Fähigkeit erhält sie durch die starke Ausbildung der unterirdischen Organe, die Speicherung und somit rasche Entwicklung ermöglichen.

Da fährt erschreckt ein Schwärm von Schneehühnern ( Lagopus nutans ) empor und fliegt mit lautem Gekreisch an uns vorüber. Im Sommer schillert ihr Gefieder erdbraun mit bunten Flecken und Bändern, um das Tier vor den Augen des Feindes zu schützen. Kurzer, dicker, glänzendschwarzer, gebogener Schnabel, stark befiederte Beine mit kräftigen Scharrnägeln an den Zehen kennzeichnen den Vogel. Und kommt der Winter und legt seine weißen Linnen über die Erde, dann verfärbt sich das Schneehuhn und wird weiß vom Schnabel bis zur Zehe.

Selten sind in unserem Gebiete die Gemsen. Nur wenige Rudel haben wir nach der Pischakette hin gesehen, die wie der Sturmwind über Abgründe und an Abhängen vorbeigestoben sind. Hoch in schier unermeßlicher Höhe am blauen Firmamente zieht stolz und selbstbewußt ein kühner Raubvogel seine großen Schleifen. An den nickenden Blumenkronen, auf losem schaukelndem Blatte sitzt das kleine Blutströpfchen ( Zygaena exulans ), und verirrte Bienen und Hummeln summen von Blüte zu Blüte.

Doch hinunter zu den Seen. Terrassenförmig liegen sie übereinander; in einer langen Reihe ziehen sie sich in gerader Richtung Ost-West hin nach dem Fleßpaß. Vereinzelt lagern noch weite Schneefelder im Tale und an den Uferhängen. Und dazwischen breitet sich eine endlos erscheinende Steinöde aus, die in den Strahlen der Sonne zu glühen scheint. Jedes Becken bietet ein neues Bild. Dort unter dem Signal liegt der See in sonniger Weide, hier oben in oft unwirtschaftlichem Felstrichter, wo öde Geröllhalden sich in die Ufer senken oder ein wildes Durcheinander von Schutt und Felsen sich um die Wasser schlingt. Ja sogar Firnwände und Gletscher umschließen tiefblaue Wasserbecken.

Der größte See, SI, liegt vor uns als eine riesige trüb - grünliche Fläche, die keine nahen Bergspitzen und Firne wiederzuspiegeln vermag. Tag für Tag bleibt der Anblick der gleiche, ob der Wolken wildes Getriebe vorüberbraust, oder der Himmel im tiefsten Glänze blaut. Die Wasser umfluten den Steilabsturz des Jörigletschers. Dieser sendet seine Schmelzwasser hinein in das Becken, Schutt und Ge- röll, Sand und Gestein, alles, was der Gletscher ausstößt, mit sich führend. So füllt er langsam, dafür aber um so sicherer, den See aus, und in absehbarer Zeit wird sich vor den Blicken des Wanderers nur noch eine öde Steinwüste ausbreiten, durch die sich mühsam der Gletscherbach einen Weg in das Tal gewühlt haben wird. Es ist der stille stumme Kampf eines wehrlosen Gefangenen, der langsam und planmäßig zu Tode gemartert wird. Die Gletscherseite fällt steil ab; Geröllhalden, Firn und armselige Rasenpolster wechseln miteinander ab. Im Gegensatz dazu lachen im hellsten Blumenflor die Nordufer uns entgegen, saftiges frisches Grün mit nickenden Blütenköpfchen, durch das sich behende der Abflußquell des Sees schlängelt, um bald darauf in toller Fahrt über Fels und Gestein in das Jörital hinabzudonnern.

Der Nachbar von See I: See X zeigt ein ganz anderes Bild. Ringsherum steile Ufer. Sie sind überdeckt mit den weißen Linnen des Winters. Nicht die Hälfte des Sees ist sichtbar, denn noch meterhoch lagert der Schnee in dem tiefen Kessel. Stahlblau funkeln die Wasser, durchsichtig bis auf den über 6 m tiefen Grund. Dort lassen sich wie weiße Gespenster und Ungetüme die riesigen Felsblöcke erkennen. Und dazwischen lebt ein munteres kleines Völklein von Krebschen, das sich nicht um die Welt da draußen scheert, sondern frei und froh herumtummelt, sich vermehrt, für die Nachkommenschaft besorgt ist und dann wieder spurlos verschwindet.

In fast gleicher Höhe liegend, schließt sich an das erste Becken der zweite See, der sich uns darbietet als ein seichtes versandendes Wasser, das rings von flachen Gestaden umsäumt wird. Der kaum metertiefe Seegrund schimmert in eigentümlich violettroter Farbe, was auf den reichen Eisengehalt des Gesteins schließen läßt. Öd und leer liegt das Südufer vor uns, das vom Endsaume der Randmoräne gebildet wird. Hier ist der See vollkommen versandet, und auf seinem Boden entstehen schon da und dort dichte Polster von Moosen und Saxifraga stellaris. Wie See I, so geht auch dieser See seinem unfehlbaren Ende entgegen.

In der Mitte der Seenkette liegt die tiefblaue Fläche von See III. Die Durchsichtigkeit des Wassers ist sehr gering, kaum 5 m. Aber in diesem Dunkel haust eine zahlreiche und farbenprächtige Schar kleinster Lebewesen, feuerrote Ruderfüßer ( Copepoda ) und Wasserflöhe ( Cladocera ). Das Becken zeigt eine recht beträchtliche Tiefe, die in der Seemitte zirka 22 m erreicht. Alle Ufer fallen ohne Ausnahme steil ab. Im Westen und Norden breitet sich eine spärliche Weidenvegetation aus, welche aber oft von weiten Geröllwüsten durchzogen wird. Über die anderen Ufer dehnen sich große Trümmerfelder aus, welche die Seitenmoräne des Jörigletschers darstellen.

Zwischen See II und See III befindet sich eine kleine Wasseransammlung: See XI. Wie bei See II und III, so bildet auch hier die End- und Seitenmoräne des Gletschers zum größten Teil die Ufer. Das Wasser ist auffallend sauber und rein, dagegen nur spärlich bewohnt, wohl wegen seiner geringen Tiefe.

Nach See III wird das Gebiet immer öder und leerer. Nackte Felsgesteine starren uns entgegen, karg überwuchert von Moosen und Flechten. Flache unfruchtbare Ufer zeichnen die Seen bis zum Fleßpaß aus. Zum größten Teil werden sie von Firn begrenzt, der auf die Temperaturverhältnisse entscheidend einwirkt und stark in die faunistische Zusammensetzung eingreift. Hier beginnt denn auch der Alpenstrudelwurm, Planaria alpina, häufiger zu werden. Noch selten in See IV, wird er in See V und VI immer zahlreicher und in See VII bewohnt er massenhaft die untergetauchten Ufersteine.

Die Seen IV—VII liegen in dem tiefen Einschnitt des Fleßpaßes, der von den schroffen Felsmassiven der Weißhorn-und der Fleßkette eingerahmt wird. Die sich hinabziehendenTrümmer-halden reichen bis an die Ufer und bedingen so die Untergründe der Seen, die zum größten Teil aus Gneißgeröll bestehen. Wo das Geröllmaterial nicht ausschließlich den Boden überdeckt, setzt sich die- ser aus einem feinkörnigen, sehr reich an glim- mersplitterhaltigem Schlamme zusammen. Der Kessel liegt kahl und vegetationslos vor uns. Durch fortwährende Trümmerrutsche und im Frühling durch wochenlang andauernde Lawinenzüge wird das Gedeihen einer Pflanzenwelt an den Seen verunmöglicht, und alle diese Wasserbecken werden bald vollständig ausgefüllt sein. Durch die ins Wasser stürzenden Schneemassen wird die Seentemperatur erniedrigt, und dadurch auch die Seltenheit der höheren Krebsarten bedingt. Von einem pflanzlichen Leben kann hier keine Rede mehr sein. Seine Abwesenheit wirkt direkt auf die Zusammensetzung der tierischen Bevölkerung der Seen ein.

Etwas anders allerdings verhält sich das Wasser am Fleßpaß: See VII. Das Becken, das in rechtem Winkel nach Norden umbiegt, zeigt ziemlich große Tiefen ( fast 10 m ). Dadurch wird der Fauna eine größere Ausbreitung ermöglicht. Merkwürdig ist hier, daß der rote Ruderfüßer, Diaptomusbacillifer, sogar an heiteren Sommertagen sich immer an der Oberfläche aufhält, sodaß der scharfe Beobachter dieses leichtfertige Völklein in Mengen sich herumtummeln sieht. In der Regel leben diese Tierchen während des Tages in der Tiefe, um erst während der Nachtstunden an die Oberfläche zu steigen. Ein Grund für diese außerordentliche Erscheinung in See VII mag die stets tiefe Temperatur ( im Maximum 8° C ) sein.

Doch nicht nur die Seen selbst und ihre Umgebung besitzen einen tiefgehenden Einfluß auf ihre Lebewelt, sondern auch die Zuflüsse. Gewöhnlich haben die zuströmenden Bäche nur einen sehr kurzen Verlauf. Während bei den großen Alpenrandseen die Zuflüsse eine ungeheure Nahrungsquelle an Tieren für das Wasser darstellen, fallen sie in den Jöriseen fast außer Betracht. Hier sind es kalte tief-temperierte Gletscher- und Schmelzwasser, die eine Menge Geröll in die Becken hinein-schwemmen und so die Ausdehnung einer reichen Tier- und Pflanzenwelt verhindern. Wenn wir zwischen See I und See II den mäßig steilen Geröllhang am Jörigletscher hinaufsteigen, so gelangen wir zu See XII. Er erhält gewaltige Wassermassen vom Abflußquell des obersten Jörisees, See XIII, der in vielgegliederten und reich verzweigten Bahnen seinen Inhalt in das fast 100 m tiefer gelegene Becken entleert.

Die Ufer bleiben bis in den Spätsommer hinein schneebedeckt und fallen überall steil ab. Infolge seiner hohen Lage bleibt die Wassertemperatur sehr niedrig und erreicht kaum 5° C an günstigen Sommertagen.

Zu oberst im Jörifirn liegt tot und leblos der höchste See: S XIII, der während des ganzen Jahres sozusagen geschlossen bleibt. Kaum daß in günstigen Sommern ein Teil seiner Ufer vom Eise befreit wird. Das Becken hier oben bleibt vollkommen für sich abgeschlossen. Die Zufuhr an Nahrung ist ausgeschaltet. Eine Einfuhr an Tieren wird durch die Schneemaßen verunmöglicht. Die Planktonfänge haben ein durchwegs verneinendes Ergebnis geliefert. Nur im Schlamme habe ich vereinzelte Fadenwürmer, Nematodes, und Bärchentierchen, Tardigrada, getroffen. Sonst scheint der See unbelebt zu sein.

II. Die Entstellung der Jöriseen.

( Siehe die Kopfleiste auf pag. 89. ) Alle Alpenseen sind postglaziale Ergebnisse der letzten großen Eiszeit. Ein schönes Bild für die Entstehung der alpinen Gewässer geben uns die Jöriseen. Sie sind entstanden nach dem Zurückweichen und Abschmelzen der Jörigletscher-Eismassen. Das Jörifleßtal mit seinen weit ausgedehnten Schuttwällen, welche als Moränenzüge die ganze Südseite der Seen flankieren, mit den tiefeingreifenden Erosionen des Jörigletschers, welche noch heute deutlich zu verfolgen sind, mit seiner Verschiedenartigkeit der Seebecken, welche teils Trichter inmitten wüster Geröllhalden, teils flache Wannen in spärlich bewachsener Hochweide, teils schüsseiförmige Gruben darstellen, gibt noch voll und ganz den Typus einer nordischen Gletscherlandschaft mit ihren zahlreichen welligen Erhebungen wieder. Das ganze Tal ist das Ergebnis jahrhundertlanger Arbeit des im Süden sich ausbreitenden Jörigletschers, welcher heute nur noch ein schwaches Abbild seiner einst gewaltigen Größe wiederzugeben vermag. Noch in historischer Zeit muß er sich über die ganze Talmulde erstreckt haben. Der heutige Zustand der Kandmoräne zeugt dafür, daß das Zurückfluten erst in neuester Zeit vor sich gegangen ist, denn die verstrichenen Jahre haben es noch nicht vermocht, hier, trotz der schon weiten Entfernung der Eismassen, ein reicheres organisches Leben sich entfalten zu lassen, obgleich die Lage des Tales für das Gedeihen einer üppiger sich entwickelnden Lebewelt sehr günstig beschaffen wäre.

Bei der Betrachtung des heutigen Landschaftsbildes kommen wir zu dem Schlüsse, daß der Jörigletscher ursprünglich die ganze Talmulde mit seinen Eismassen ausgefüllt hat. Die Nordseite der oberen Talhälfte zeigt uns sehr eindrücklich und schön die Spuren ihrer einstigen Vergletscherung. Die weiten, steilen Abhänge, welche zum größten Teil mit gewölbten Felsplatten überdeckt sind, reden eine deutliche Sprache von der Arbeit der verschwundenen Eiswelt, und die Hänge auf der Südseite lehren uns in vollstem Umfange die Tatsache, daß der Rückzug des Gletschers noch nicht zum Stillstand gekommen ist. Im unteren Teil des Tales umrahmt die weitausgedehnte Seitenmoräne des heutigen Gletschers die ganze Seenkette von See III bis hinunter nach See I, während auf der gegenüberliegenden Halde sich die Spuren der ehemaligen Übereisung mehr und mehr verwischt haben und mit einer karg bewachsenen Hochweide überdeckt worden sind.

Dr. Hans Kreis.

Mit der immer höher werdenden Temperatur sind sicherlich die Eismassen im Osten zuerst zurückgegangen, da sie am weitesten dem Hauptgletschergebiet vorgeschoben waren, d.h. also die Eismassen des obern Jörifleßtales, wo heute die Seen IV—VII sich befinden. Zur Zeit der größten Vereisung zweigte vom oberen Teil der heutigen Seitenmoräne eine gewaltig aufgeschüttete Mittelmoräne ab, welche das ganze Tal in zwei Teile trennte. Sie lagerte sich über die Gegend, wo sich heute das vierte Becken befindet, und noch heute erkennt man im Norden und Süden des Sees die letzten Überreste dieser natürlichen Stauwehr. Da die Dicke des Eises in der oberen Talhälfte naturgemäß erheblich geringer war als in der unteren Stufe, mußte die Gletschermasse dort zuerst abschmelzen.

Dadurch bildete sich ein primäres Becken I, welches die gesamte Talmulde von See V—See VII ausfüllte und in der Mittelmoräne eine gewaltige Staumauer besaß. Die vorhandenen Wassermassen aber nagten fortwährend an der Ostseite dieses Dammes, und mit dieser langsamen Zertrümmerung schritt Hand in Hand die Abbröckelung auf der Westseite, da sich auch dort die Eismassen beständig rückwärts bewegten. So mußte denn eines Tages dieser Vorgang dazu führen, daß die Stauwehr zusammenbrach. Dadurch wurde dem Wasser die Möglichkeit geboten, ungehindert nach Westen abzufließen. Eine Nachfuhr an Wasser blieb aber immer mehr und mehr zurück, große Zuflüsse waren keine vorhanden; sie wurde nur noch durch die abschmelzenden Schneemassen einigermaßen geregelt, und das Ergebnis davon war, daß das erste große Sammelbecken in seine drei heutigen Seen zerschnitten wurde.

Genau der gleiche Vorgang spielte sich auf der Westseite der einstigen Mittelmoräne ab. Auch hier Abschmelzung des Eisfeldes und Bildung eines einzigen großen Sammelbeckens II, das sich von See X bis hinüber nach See III erstreckte. Gegen das Jörital hin war der See durch einen weitausgedehnten Damm primär vollkommen abgeschlossen. Durch die beträchtliche Zufuhr an Wasser aus dem ersten ursprünglichen Becken, infolge des dort eingetretenen Dammbruches, mußte eine zweite tief eingreifende Veränderung zustande kommen. Die untere Staumauer gegen das Jörital fiel dem mächtigen Wasserdrucke zum Opfer; sie wurde eingedrückt, zum Teil vollkommen weggeschwemmt, und dadurch erhielten die Wassermengen die Möglichkeit, sich gegen Norden zu entleeren. Die Folge davon war, daß auch hier einzelne Becken entstanden. See I und See II blieben noch lange Zeit miteinander vereinigt und wurden nach Aussagen der Bewohner von Klosters erst in neuester Zeit voneinander getrennt Diese Trennung war eine Folge der stetigen Schuttablagerung des Jörigletschers in das Becken.

Eine Sonderstellung nimmt See IV ein. Er muß als das jüngste Becken unseres Gebietes angesehen werden. Er ist das Ergebnis der fortwährenden Einwirkungen des Abflusses der oberen Seen auf die einstige Mittelmoräne des eiszeitlichen Gletschers und ist erst spät nach ihrem Zusammenbruche entstanden.

See XII ist auf die gleiche Weise wie die Seen des Jörifleßtales entstanden: durch Erosion beim Vorstoß des Eises und die Abschmelzung beim Zurückweichen des Gletschers.

See XIII zeigt uns noch heute das Bild eines werdenden Alpensees, welcher bei weiterem Rückzuge des Jörigletschers freigelegt werden wird.

III. Die Tierwelt der Jöriseen.

Wir haben schon oben bemerkt, daß die Alpenseen als postglaziale Gebilde der letzten großen Eiszeit angesehen werden müssen. Sie besitzen einen vollkommen nordischen Charakter, der sich in der mannigfaltigen Entwicklung des organischen Lebens wiederspiegelt. Früh legt der Winter seine Eisdecke über die lachenden Fluten und umspannt sie mit seinen ehernen Reifen. Das Wasser kann bis auf den Grund erstarren und so jedem Lebewesen zum Verderben gereichen. Mehr denn Zweidrittel des Jahres herrscht dort oben uneingeschränkt der eisige Fürst und weicht nur nach langem Ringen den Gewalten des neuen Sommers. Wenn tief unten am Rande der Alpen in unseren Seen das neue Leben wieder zu pulsieren beginnt und eine neue Tierwelt die Fluten durchkreuzt, dann liegt dort oben am Gletscherrande, in grau-schwarzem Felstrichter, in weißem Firn noch alles im tiefsten Schlafe und ahnt noch nichts von der neuen Lebenskraft, die im Tale alle Welt beherrscht. Wochen, Monate vergehen noch, bis endlich die Eisschicht schmilzt, der Schnee zerrinnt, die Fluten sich erwärmen. Dann aber setzt das Leben ganz urplötzlich ein und benützt die kurz bemessene Zeit, um sich zu entfalten und zu vermehren. Aber es kann Sommer geben, wo ewiger Winter über den Alpenseen liegt.

Was die Seen unserer Hochalpen im allgemeinen auszeichnet, ist ihre niedere Wassertemperatur, die in der Regel zwischen nur engen Grenzen schwankt. So finden wir selten Seen, deren Wärme über 10° C steigt und dann nur in Wassern, die am Versanden sind, z.B. die Jöriseen II und IX.

Es muß hier im voraus festgelegt werden, daß wir es in den Jöriseen nur mit wirbellosen Tieren zu tun haben, Tieren, welche teils am Ufer, unter Steinen, in Moos- und Algenwiesen, im Schlamm hausen, teils im Wasser eine immer schwebende Lebensweise führen. Von einer Aufzucht von Fischen kann hier keine Rede sein, da die Nahrungsvorräte so gering sind, daß die Tiere nach wenigen Wochen dem Hunger anheimfallen würden. Auch Frösche und Salamander fehlen den Jöriseen vollkommen, eine unfehlbare Folge des mangelnden Pflanzenwuchses an den Ufern. Nur die Kleintierwelt der Krebse, Würmer und anderer Wirbellosen vermag hier ein karges Leben zu führen. Diese Tiere sind mit der geringsten Nahrungsquelle zufrieden und finden hier noch genug Stoffe vor, um sich zu erhalten.

Die Jöriseen lassen sich in fünf Gruppen einteilen, die durch die Art und Weise ihrer Bevölkerung bedingt wird. In der nachfolgenden Tabelle der vorkommenden Tierfamilien läßt sich diese Klasseneinteilung erkennen:

Dr. Hans Kreis.

i »il S XII S IV-VI, Vili, XI S 1, III, VII, X S II, IX Rhizopoda — WurzelfüßerTurbellaria — StrudelwürmerNematodes — FadenwürmerRotatoria — RädertiereOligochaetae — BorstenwürmerOstracoda — Muschelkrebse Copepoda — RuderfüßerCladocera — WasserflöheTardigrada — BärchentiereAcarina — MilbenTrichoptera — KöcherfliegenInsektenlarven Coleoptera — KäferLamellibranchiata — Muscheln

+

I

I

1

4-

Bei der Betrachtung der Tabelle erkennen wir, daß See XIII nur von wenigen Vertretern des Tierreiches bewohnt wird. Da der See von einer Zufuhr von außen her mehr oder weniger vollkommen abgeschlossen ist, so kann diese Armut nicht wundern. Die vorhandenen Rhizopoden und Nematoden, über deren wahrscheinliche Herkunft noch weiter unten die Rede sein wird, gehören zu den Allerweltsbürgern; der einzige Tardigrade muß wohl durch passive Verschleppung hier hineingeraten sein.

b ) Firnseen ( See XII ):

Hier gestalten sich die Verhältnisse schon viel günstiger als in See XIII. Die Tatsache, daß in normalen Sommern doch ein Teil des West- und Nordufers freigelegt wird, bringt es mit sich, daß sich eine reichere, wenn auch quantitativ arme Fauna zu entwickeln vermag. In erster Linie kommen die Rhizopoden und Nematoden in Betracht. Ganz untergeordnet erscheint der Alpenstrudelwurm, Planaria alpina, unter den Steinen der Uferzone. Die wenigen hier auftretenden Rotato-rie n hausen in den Moospolstern, welche die Felsen und GesteinstrümmerSee X.

der Abflußbäche überziehen. Etwas reicher vertreten sind dann die Copepoden. Charakteristisch ist das Fehlen der Cladoceren. Für diese gestalten sich die Verhältnisse viel zu ungünstig, als daß sie hier zu leben imstande wären. Die übrigen Familien, die noch vertreten sind, lassen sich aus der Tabelle ersehen.

c ) Kleinere Seen, welche in Gerölltrichtern und im Gebiete der Seitenmoräne des Jörigletschers liegen ( Seen IV—VI, VIII, XI ):

Die fünf Becken besitzen die gleichen charakteristischen Eigenschaften: der Seeboden wird von Trümmerfeldern und Moränenschutt gebildet; das Wasser erreicht nur eine geringe Tiefe; bis in den Sommer hinein bleiben die Ufer zum Teil mit Schnee überdeckt; eine Randbewachsung fehlt fast vollkommen. Die Folge davon ist, daß alle Seen spärlich bevölkert sind, wenngleich die Bewohnerschaft etwas artenreicher wird.

Auch hier stehen die Nematoden und Rhizopoden an erster Stelle. Den Seen IV—VI und VIII ist das Fehlen der Rotato rien eigen. Bei den Copepoden läßt sich deutlich eine reichere Entfaltung erkennen. Sie fehlen in keinem Becken.

Was diesen Wasseransammlungen den Stempel unfruchtbarer Gerölltümpel aufdrückt, ist der außerordentliche Mangel an Cladoceren. Viel üppiger dagegen gedeihen die Tardigraden. Auffallend zahlreich vertreten sind die Acarinen und Collembolen im achten See. Die Insektenlarven sind den Verhältnissen entsprechend nur vereinzelt vorhanden.

Der Gefahr, durch Lawinenzüge ausgefüllt zu werden, sind alle diese Seen ausgesetzt. So trafen wir im Sommer 1918 See V fast vollkommen mit tiefen Schneemassen erfüllt, welche die Entfaltung der Organismenwelt stark beeinträchtigten. See XI, der inmitten der Seitenmoräne sich befindet, unterliegt den verheerenden Einflüssen der immerwährend abbröckelnden Gesteinsmassen seiner Uferumrahmung und wird mit der Zeit vollkommen aufgeschüttet werden.

d ) Die großen Seen des Jörifleßpasses ( Seen I, III, VII, X ):

Trotz der oft recht erheblichen Tiefen und des großen Umfanges der Wasserflächen entwickelt sich auch hier das Tierleben nicht zu einer großen Blüte. Wenngleich die Seen bedeutend arten- und individuenreicher bevölkert werden, so fehlen ihnen doch die sonst so typischen Vertreter der hochalpinen Seen, z.B. der Wasserfloh, Daphnia variabili s. Dieser findet in keinem Becken die ihm zusagenden Bedingungen. Die gesamte Cladocerenfauna nimmt einen untergeordneten Rang ein. Es mag dies eine Folge des anscheinend vollkommenen Fehlens des pflanzlichen Planktons sein. Auch die Rotato rien vermögen sich nicht zu entwickeln. In See I läßt sich ihr Fehlen durch die unmittelbare Xähe des Gletschers erklären, da die stetige Verunreinigung des Wassers nicht nur auf diese, sondern auch auf die gesamte Tierwelt des Sees einen zersetzenden Einfluß ausübt. In reichlichen Mengen treten dagegen in allen Seen die Copepoden auf. In See III z.B. konnten ihre Vertreter Diaptomus bacillifer und Cyclops strenuus in ungeahnten Mengen gefischt werden. Sie färben das Netz in tiefroter Farbe, die diesen Tieren in den Alpenseen eigen ist.

Nahrungsmangel und Unfruchtbarkeit der Uferzone beeinträchtigen außerordentlich stark die Entwicklung der im Wasser lebenden Insektenlarven, die hier nur spärlich gefunden werden konnten.

e ) Seen, die der Versandung entgegengehen ( Seen II, IX ):

Beim Vergleichen der faunistischen Tabelle der Jöriseen fällt uns der Reichtum an Tieren in den beiden kleinen Wasseransammlungen deutlich in die Augen. Beide sind dadurch charakterisiert, daß sie durch ihre geringe Tiefe einerseits und ihre geographische Lage anderseits einen günstigen Wohnbezirk für die Organismen darstellen. Durch die Kraft der Sonnenbestrahlung kann sich das Wasser während des Tages sehr stark erwärmen ( z.B. in See IX bis auf 22° C ). Die Folge davon ist, daß typisch alpine Vertreter der Seenfauna, wie der genannte Diaptomus bacillifer, sozusagen vollkommen fehlen. Auch Planaria alpina bleibt in ihrer Mengenentfaltung sehr stark zurück.

Gewaltig dagegen wird die Vertretung der Cladoceren gesteigert. Sie überwiegen an Zahl alle übrigen Gruppen und bilden so den Hauptbestandteil der tierischen Lebewelt. Hier, wo die Ufer reich bewachsen sind, wo zum Teil noch der Untergrund von Algenwiesen durchwoben wird, finden die Cladoceren ein Gebiet, in dem sie sich zur vollsten Blüte entwickeln können. Die kurze Dauer des Alpen-sommers genügt hier, um der Schar durch die Bildung der Dauereier, die Trockenheit und Kälte zu überdauern imstande sind, die Nachkommenschaft zu sichern. Reichlich finden sich auch die Rotatorien und die Wasserkäfer, die zwischen dem Moosgewirr hausen. Auch Insektenlarven spielen eine bedeutende Rolle.

Zusammengefaßt ergibt sich, daß See II und See IX im Gebiete eine Sonderstellung einnehmen, welche ihren außerordentlichen hydro-geographischen Verhältnissen zuzuschreiben ist. See II wird im Laufe der Zeit verschwinden, da er durch Gletscherarbeit ausgefüllt wird. In absehbarer Zeit werden wir hier noch einen Tümpel finden, der die gleichen Eigenschaften besitzen wird, die heute See IX eigentümlich sind, d.h. See II wird zu einer ephemeren Wasseransammlung werden.

IT. Die Einwanderung der Tierwelt in die Jöriseen.

Zur Zeit des allgemeinen Gletscherrückganges, als die Wasseransammlungen das gesamte eisfreie Gebiet in zahllosen Adern und Stromsystemen durchzogen, als große Seen und Überschwemmungen zeitweilige Verbindungen herstellten zwischen sonst weit voneinander getrennten Becken, wurde die Grenze der Kaltwasserzone mehr und mehr in den Norden und in die Alpen verrückt. Damals hob die allgemeine Einwanderung in die neu entstandenen und entstehenden Seen der Hochgebirge an. Eine aktive Besiedelung der Gewässer muß in großem Maßstabe vor sich gegangen sein. Sie drang so weit vor, bis ihr eine Wasserscheide unbezwingliche Hindernisse entgegenstellte. Dadurch läßt es sich erklären, daß wir auf der Nordseite der Alpen Tiere nordischer Herkunft finden, die auf der Südabflachung vollkommen fehlen.

Für das Verbreitungsproblem der Wassertiere ist die Wassertemperatur von großer Bedeutung ( vgl. Thienemann 4 ). Es ist daher nicht zu verwundern, daß in der Alpenfauna die Allerweltsbürger, die zum Teil leicht verschleppbar und in hohem Grade anpassungs- und widerstandsfähig gegen den Wechsel äußerer Verhältnisse sind, in erster Linie stehen, während typisch alpine und nordische Arten erst in zweiter Ordnung folgen. Die in der eisfreien Zone Mitteleuropas entstandene Mischfauna, die während der jahrhundertlangen Dauer der Eiszeit an eine immerwährend tiefe Temperatur gebunden gewesen war, mußte beim Eintritt der wärmeren Perioden eine große Einbuße an alpinen und nordischen Arten erlitten haben, da diese Tiere dem Strome des Eises nicht schnell genug folgen konnten. Nur durch das Aussterben und Entvölkern läßt sich die geringe Zahl der Kaltwasserbewohner in den Hochgebirgen erklären.

Als sich durch die Abschmelzung der Eismassen im Jörifleßtal die großen Seen bilden konnten, setzte wahrscheinlich die Einwanderung in das Gebiet ein. Von Norden her drangen die aktiven Wanderer durch die Pforte von Klosters in das Vereina- und Jörital. Hier wurde den meisten Arten Halt geboten, da der Absturz des nördlichen Jörifleßstaudammes sich jäh in das Jörital senkte und so ein Hindernis für die meisten Tiere bot. Nur kühnen Schwimmern der Copepoden, wie Diaptomus bacillifer und Cyclops strenuus, ist es gelungen, auch diese Schwelle zu übersteigen und so die Jöriseen zu besiedeln. Auch Planaria alpina, die unter dem Geröll sehr leicht den Bach hinaufkriechen kann, wird auf diesem Wege in die Fleßbecken hineingelangt sein. Nach dem Zusammenbruch der Stauwehr gegen das Jörital, welcher die Bildung der heutigen Seen zur Folge hatte, fanden die aktiv eingewanderten Tiere noch Wasser genug vor, um sich in den einzelnen Becken zu erhalten.

Dazu kommt noch die Zahl der passiv verschleppten Ansiedler. Für sicher kann jedenfalls angenommen werden, daß die Cladoceren der Jörifleßpaßseen nur durch passive Übertragung ihrer Dauereier durch Insekten, vielleicht auch durch Vögel dort hinauf gelangt sind. Doch darf diese Besiedelungsart nicht überschätzt werden. Denn sollten die Alpenseen zum großen Teil ihre Fauna durch Verschleppung erhalten haben, so müßte jedes kleine Alpenbecken seine eigene Organismenwelt beherbergen. Dagegen spricht aber die Einförmigkeit der tierischen Zusammensetzung der Hoch-gebirgsgewässer ( vgl. Zschokke 5 ).

Die Armut der Lebewelt der Jöriseen ist ein Beweis für die erst neuzeitliche Einwanderung ihrer Tierwelt. Die Besiedelung des Alpenbeckens, welche durch aktive Wanderung, Wind, Insekten, Vögel und Bergbäche vor sich geht, kann nur langsam geschehen und ist von so manchen Zufällen abhängig, daß große Zeiträume erforderlich sein müssen, damit sich das Tierleben entfalten kann. Dazu kommt noch, daß Gletscher und Firn auf die Organismen zerstörend einwirken, da sie ein immerwährend arktisches Klima bedingen.

Die Süßwasserarten, die sich durch eine große geographische Verbreitung auszeichnen, sind fast alle befähigt, Dauerstadien zu bilden, welche verweht und vertragen werden können ( vgl. Nordquist 3 ). Diese Eigenschaft schafft die Gelegenheit der Übertragung von See zu See, sei es durch Insekten, durch höhere Wirbeltiere oder durch Vögel. Gerade die Verschleppung durch Insekten kann von großer Bedeutung sein. Zschokke ( 5 ) hat gezeigt, daß an günstig gelegenen Hochgebirgs-wassern eine verhältnismäßig große Zahl fliegender Insekten sich aufhält. Die Vertragung der Dauereier durch diese Tiere von Becken zu Becken mit Hilfe der in den Gebirgen vorherrschenden Luftströmungen ist jedenfalls nicht zu unterschätzen.

Wenn man bedenkt, wie lange der Kückzug'der Gletschermassen vor sich gegangen ist, was für große Zeiträume Besiedelung alpiner Seen zur Verfügung gestanden haben, so kommt man zum Schlüsse, daß die aktive Wanderung den Hauptanteil an der Bevölkerungsgeschichte eines Hochgebirgsbeckens genommen hat. Denn es muß immer wieder in Betracht gezogen werden, von was für Schwierigkeiten und Zufälligkeiten ein passiver Transport abhängig gemacht ist ( vgl. Monti 2 ). Immerhin gewinnt er mehr und mehr an Bedeutung, je größer die Gebiete sind, denn mit ihrer Größe wächst auch die Möglichkeit der Zufälligkeiten einer solchen Verbreitung der Tiere.

Es bleibt noch übrig, kurz auf die Tiere einzugehen, welche die Eiszeit an Ort und Stelle zu überdauern imstande gewesen sind ( vgl. Kreis 1 ).

Die große Zahl der in den Jöriseen auftretenden Nematoden und Khizopoden hat mir die Frage aufgedrängt, ob hier nicht Tiere vorliegen, welche die Eiszeit an Ort und Stelle überlebt haben. Denn gerade diese beiden Tiergruppen, welche doch nur durch passive Übertragung verbreitet werden können, lassen es für unwahrscheinlich erachten, daß sie einzig und allein auf diesem Wege in unsere Alpen gelangt sind.

Gewiß wurde ein großer Teil der Organismen, der dem stets weiter vorrückenden Eismeer nicht entrinnen konnte, durch die lange andauernde Kälteperiode ausgerottet. Eine nicht zu unterschätzende Anzahl aber konnte sich in kleine Wasseransammlungen flüchten, um dort während der Glazialzeit zu leben und sich nachher wieder beim Eintritt günstigerer Bedingungen über das Alpengebiet zu verbreiten. Wenn wir die Berichte der Südpolarexpedition von Scott durchgehen, so können wir des öftern lesen, daß die Keisenden inmitten der ausgedehnten Eiswüste der Antarktis zum Teil große Seen angetroffen haben, die eines organischen Lebens nicht vollkommen entbehrten.

Das Allerweltsbürgertum der Rhizopoden und Nematoden ist ja schon lange bekannt. Ihre Verbreitung über die ganze Erdoberfläche kann aber ganz unmöglich einzig und allein durch passive Verschleppung erklärt werden. Diese beiden Tierfamilien haben daher schon vor der Eiszeit die Alpen bewohnt. Sie haben sich zur Zeit der größten Vereisung in die kümmerlichen Überreste der Wasseransammlungen zurückgezogen, welche sich in geschützten Winkeln von Moränenzügen und Felsabstürzen erhalten konnten, und von dort aus haben sie dann die werdenden Seen wieder bevölkert.

Wenn durch die heutigen Verhältnisse der Alpen der aktiven Wanderung Grenzen gesetzt worden sind, so ist sie doch noch nicht vollkommen unterdrückt. So befinden sich auch heute noch fortwährend Tiere auf der Fahrt nach dem Gebirge, und fortwährend wird dessen Fauna durch das langsame Emporklimmen in die Alpen bereichert. Wenngleich die Einwanderung der nordischen Arten auf aktivem Wege ganz ausgeschlossen ist, so dienen die Wasserläufe, welche die Verbindung von Ebene und Gebirge herstellen, heute noch zahlreichen aufsteigenden Kosmopoliten als Weg in die alpinen Bezirke ( vgl. Zschokke 5 ). Nordische Bewohner können nur noch durch Vogelzug oder vielleicht außerordentlich starke Stürme nach den Alpen verschleppt werden, doch ist das Zustandekommen einer solchen Ansiedelung so zufällig, daß sie eigentlich nicht mehr in Betracht fällt.

Die Tierwelt der Alpenseen wird immer mehr und mehr eine für sich geschlossene Gesellschaft werden, die von außen her vielleicht noch hie und da einen Zuwachs von ganz unscheinbarer Bedeutung erhält.

Die Jöriseen und ihre Tierwelt.

Literatur.

1. Kreis, H.: Die Jöriseen und ihre postglaziale Besiedelungsgeschichte. Int. Rev. des ges. Hydrb. und Hydrg. 9. 1920/21.

2. Monti, R.: Le migrazioni attive e passive degli organismi acquatici d' alta montagna. 1908.

3. Nordquist, Os c.: Die pelagische und Tiefseefauna der größeren finnischen Seen. Zool. Anz. 10. 1887.

4. Thienemann, Aug.: Die Faktoren, welche die Verbreitung der Süßwasserorganismen regeln. Arch, für Hydr. und Pik. 7. 1913.

6. Zschokke, F r.: Die Tierwelt der Hochgebirgsseen. Neue Schweiz. Denkschr. 1900. Bd. 37.

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