Die Leiden des jungen Kletterers
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Die Leiden des jungen Kletterers Kolumne von Emil Zopfi

Während des Winters besuche ich gelegentlich eine Kletterhalle, hänge ein bisschen an den farbigen Griffen herum. Oft befällt mich dabei ein seltsam wehmütiges Gefühl. Mit einem Psychologen könnte ich mich wohl stundenlang in aller Tiefe darüber unterhalten. Aber da man sagt, auch Schreiben sei Therapie, setze ich mich lieber schreibend mit meiner Gefühlswelt rund um Griff und Tritt auseinander. Übrigens soll auch Klettern eine Art Therapie sein, die Kletterhalle Ersatz für die Couch des Psychoanalytikers. Aber lassen wir das. Ich wollte doch meine Kletterhallen-Wehmut analysieren.

London fällt mir ein, wo vor Jahren The Castle Climbing Centre mein zweites Zuhause wurde, Fluchtort vor der Einsamkeit in der Grossstadt. Dort lernte ich einen meiner besten Kletterfreunde kennen, Alan, Exbanker und extremer Kletterer. Bei schönstem Frühlingswetter rauften wir uns in der von Lärm und Magnesiastaub erfüllten Kletterhalle in der alten Pumpstation an schweissglitschigen Kunstgriffen durch die Spanplattenwände und fühlten uns wie im Gebirge. Wenn wir auch lieber durch eine echte Felswand geklettert wären. Später fuhren wir oft zusammen zu den sonnigen Kliffen an der englischen Südküste. Die Halle ist eben doch nur Ersatz für etwas, woran es uns Kletterern und Kletterinnen mangelt: Granit, Kalk oder Sandstein.

Ein Mangel sei auch der innere Antrieb zum Schreiben, wusste der Schriftsteller Martin Walser. Das erinnert mich an meine Kletterjugend, als es noch keine Kletterhallen gab. Wenn der erste Schnee fiel, war Ende der Klettersaison. Es begann das Leiden des jungen Extremkletterers. Der Mangel an Fels trieb mich dazu, die Kletterabenteuer des Sommers aufzuschreiben – und dabei wieder und wieder jene grossen Tage und kleinen Heldentaten durchzuleben. Therapie eben. Ein Redaktor der Zeitschrift meiner SAC-Sektion begeisterte sich für meine melancholischen Texte und druckte sie ab. Hätte es damals schon Kletterhallen gegeben, dann wäre ich wohl kein Schriftsteller geworden. Dafür vielleicht ein besserer Kletterer. So wie die jungen Klettertalente, denen ich in der Halle zuschaue – mit ein bisschen Neid, ich gebe es zu. Wehmut hat viele Wurzeln.

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