Ein Trug
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Ein Trug

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Nach einer unter strömendem Regen am Neuvagletscher im Freien verbrachten Nacht, und einer zwölfstündigen Irrfahrt über Fels und Firn, bei dichtestem Nebel, waren wir schließlich am 26. August 1903, gegen halb neun Uhr abends auf einer steilen Graslehne gestrandet. Mit der Dämmerung zerflossen die Nebel, die Luft klärte sich, was mir und meinen beiden der Gegend unkundigen Führern endlich erlaubte, uns einigermaßen zurechtzufinden und in der schwarzen Tiefe unter uns das Val Ferrex zu erkennen. Die Laterne hatten wir noch nicht angezündet, Jahrtuch de« Schweizer Alpenclnb. 40. Jahrg.22 und schritten rasch, aber vorsichtig auf dem feuchten, schlüpfrigen, mit Steinplatten durchzogenen Rasenboden abwärts, in der Hoffnung, bald irgend ein Gehölz zu erspähen, das uns zu einem Feuer verhelfen würde, als wir plötzlich, ein bißchen nach links, einer hohen, stattlichen Lärche gewahr wurden, deren Entfernung auf ein paar Minuten zu schätzen war. Mit großer Deutlichkeit zeichneten sich ihre schön befranzten, fein auslaufenden Zweige und ihr kaliler, aus verdorrten, knorrigen Ästen bestehender Wipfel gegen den Himmel ab. Sehr erfreut über diesen Anblick eilten wir dem Baume zu, indem der Träger bemerkte: „ Wenn nur die Äste so weitherabhängen, daß wir sie abbrechen können !" Die paar Minuten waren längst zu zehn geworden, als ich ausrief: „ Mir scheint 's, wir sind dem Baume um keine Linie näher gerückt; er muß offenbar viel weiter sein, als wir meinen«Nur Geduld ", antwortete der Führer, „ wir werden schon noch hinkommenFräulein hai recht, mir ist die Sache auch schon aufgefallen ", entgegnete der Träger. Wir zogen noch einige Schritte weiter: da wurde unsere Aufmerksamkeit durch ein vielversprechenderes Bild von der Lärche abgelenkt. Gerade unter uns war am Abhänge der oberste Saum eines nicht sehr dichten Tannenwaldes aufgetaucht; rechts davon zeigte sich eine reizende tannenbewachsene felsige Erhöhung, welche oben mit Gras bedeckt war. „ Auf dem Hügel dort zünde ich mir ein Feuer an ", rief ich entzückt. „ Und wir ", sagten die Führer, „ suchen uns lieber einen schönen, geschützten Platz unten im Walde aus. " Diesmal waren wir sicher, letzteren in etwa zehn Minuten erreichen zu können. Inzwischen war es dunkler geworden, und wir dachten eben daran, die Laterne anzuzünden, als ich plötzlich stehen blieb. ..Wir sind gewiß das Spiel einer optischen Täuschung, und wahrscheinlich trennt uns von den Bäumen ein Abgrund, der sie uns so nahe erscheinen läßt. Sehen Sie doch nur mal, wie die Lärche genau noch in derselben Entfernung steht.lMag sein, erwiderte der Führer; deshalb können wir aber ruhig weiter gehen. " Seit einiger Zeit hatte ich indessen beobachtet, daß die Felsplatten nach und nach größer wurden, und teilte darum den Männern meine Befürchtung mit, wir könnten uns gerade oberhalb der hohen Plattenschüsse befinden, die mir vom Tale aus an dieser Bergseite bekannt waren. Daraufhin ward alsbald, einstimmig, ein zweites Biwak beschlossen, wobei sich jeder im nassen Grase so bequem als möglich einrichtete. Ich schaute noch manchmal zur Lärche hinüber, wie sie unverändert im nächtlichen Dunkel dastand; desgleichen erging es auch den Führern, was ich am nächsten Tage erfuhr. Die Tannen und der Hügel, weil tiefer unten gelegen, blieben uns in unserer lagernden Stellung durch die Bodenlinie verdeckt. Doch siehe da: als wir im Frühlicht zum Morgenimbiß zusammenkamen, waren nicht nur Lärche, Tannen und felsige Erhöhung spurlos verschwunden, sondern in der ganzen Runde war durchaus nichts, ja, nicht der allerkleinste Strauch oder Felsen, weder auf dieser noch auf der jenseitigen Talseite, irgendwo zu entdecken, der auch nur im entferntesten die überraschenden Erscheinungen hätte verursachen können.

Der Ort, an dem wir uns befanden, war völlig kahl. Wir konnten uns glücklich schätzen, jenen Trugbildern nicht weiter nachgelaufen zu sein; denn schon wenige Meter unter uns fielen mächtige Plattenschüsse in die Tiefe ab, und wir hätten nirgends einen Platz mehr zum Übernachten gefunden. Um in das Tal zu gelangen, mußten wir die Steilhänge nach links hinüber queren, und erreichten erst nach dreistündigem, halsbrecherischem Abstiege das Ufer der Dranse. Das merkwürdige Naturspiel beschäftigte uns lange Zeit; ich frage mich heute noch, aus welch entlegener Gegend wohl der Lärchenbaum in jener Nacht auf Luft gefähr zu uns herübergewandert sein mag.Eugenie Boehat in Stuttgart.

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