Erste Besteigung der Surettahörner
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Erste Besteigung der Surettahörner

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Dr. A. Baltzer.

3025 m ~ 9312 Von

Am 17. Juli 1869 kam ich mit Führer Trepp von dem prächtigen Tambohorn ( 3276 m ) zurück. Es war die erste Alpentour nach langer Pause, wer genösse da nicht mit doppelter Lust den frischen Hauch der Berge! Wie leicht hebt sich die Brust, wie frei schweift der Blick statt an Häuserwänden den majestätischen Bergfronten entlang! Da und dorthin liess ich ihn wandern, um mir für den nächsten Tag eine Hochwarte des Gebirgs auszusuchen! Als solche erschien mir der Piz Stella ( 3406 m ) bei Campodolcino an der Splügenstrasse. Macht er sich doch gar stattlich mit den zwei Riesenschultern, die zu der feingeformten Spitze ansteigen, den Firnfeldern, die wie wallende Gewänder seine Flanken bedecken. Wahrhaftig eine stolze, prächtige Masse! Rasch wurde sie gezeichnet.

Doch was ist das drüben für ein wilder, zerrissener Grat mit einzelnen imposanten Zacken? Kaum vermag hie und da eine Schneezunge im nackten Gestein sich anzuklammern. Das sind die Surettahörner, und bei ihrem Anblick taucht ein alter Plan, sie zu besuchen, wieder mit Macht auf. Fahr wohl, du italienische Schönheit

14* Piz Stella;

hier gilt 's einen noch unbesiegten schweizerischen Gipfel zu bemeistern!

„ Trepp, wie steht 's mit den SurettahörneriiIch denke, es war noch Niemand oben, dürfte aber auch schwierige Arbeit sein, Herr. Schauen Sie nur die steilen, nackten Felsen. Das höchste Horn liegt weiter zurück; bin bei der Gemsjagd hinten am Fuss desselben gewesen, weiss aber nicht, ob hinaufzukommen ist. " "

„ Trepp, es gilt, wir wagen 's morgen mit der höchsten Spitze. "

Nach einigen Einwendungen erklärte er sich einverstanden. Rasch ging es hinunter über die stotzigen Grashalden auf die Splügenstrasse. Wir erreichen sie auf der italienischen Seite, unterhalb der Passhöhe. Rechts und links liegen prachtvolle Glimmerschieferblöcke. Wie Diamanten funkeln die grossen Glimmertafeln in der Sonne.

Nach Passirung der Passhöhe und der gewölbten Gal lerie liegt die höchste schweizerische Cantoniera vor uns. Eine gutmüthige, dicke Frau mit einem Häuflein schwarzbrauner und blonder Kinder betreibt die Wirthschaft armselig, aber gutwillig und freundlich. Meistens treten nur Fuhrleute und Arbeiter ein, den unvermeidlichen Schnaps zu nehmen. Das viereckige, massive steinerne Haus mit den kleinen Bündner Fenstern bietet keine Bequemlichkeiten; aber man ist unter Dach.

Solch ein Abend auf einer Passhöhe hat sein Eigenthümliches. Man steht an einer der grossen Verkehrsadern, wo mächtiger als anderwärts das Völkerleben pulsirt. Wie eine Schlange windet sich auf schweizerischer Seite in 16 grossen Biegungen das letzte sichtbare Stück der schönen Poststrasse zur Passhöhe ( 2117 m ) herauf. Ja wahrlich, dieser grossartig kühn sich entwickelnde Stras- senbau ist nicht das Schlechteste, was Oestreich geleistet hat;

der Splügenpass bildet die kürzeste Yerbindung zwischen Lombardei und Bodensee. Nachdem Napoleon im Anfange dieses Jahrhunderts die erste Alpenstrasse, den Simplon, gebaut, folgten die Oestreicher mit dem Splügen 1818 — 1823 nach, und gleichzeitig baute die Schweiz mit Hülfe Sardiniens den bei Splügen sich abzweigenden, nach dem Lago maggiore ausmündenden Bernardino.

Draussen vor der Cantoniera auf- und abschlendernd, hatte ich Gelegenheit, die Fuhrwerke aller Art zu mustern, die hier durchgehen. Selbst einem Linné dürfte es schwer werden, sie alle zu klassifiziren. Eben keucht die schwere, schweizerische Post herauf; der Kondukteur nimmt den kürzeren Weg, um den unvermeidlichen Bittern auf der Passhöhe zu sich zu nehmen; die Reisenden sehen schläfrig zu den Fenstern heraus und finden sich nicht bewogen, in 's Innere der Cantoniera einzutreten. Weiter kommt einer jener bequemen, vierspännigen Eeisewagen, wie man sie hin und wieder auf Pässen sieht. Glückliche Insassen, die die Natur vom Polster aus geniessen! Die Polster wollt'ich gerne missen, wenn nur der Inhalt jener gefüllten Seitentaschen im Wagen, wo verlockende Flaschenhälse zum Vorscheine kommen, der bedrängten Küche meiner Wirthin zu Hülfe käme. Langsam und knarrend schiebt sich nun ein schwer belasteter Fraeht-wagen heran. Die Ladung scheint gut zu sein; der Fuhrmann tritt dem entsprechend grob und selbstbewusst auf; er verlangt seinen Schoppen ganz anders wie die kleinen Fuhrleute, die ihre Wägelchen manchmal in Kolonnen von zehn und mehr hintereinander mit Säcken beladen nach der Schweiz herüberführen.

Oben auf der Passhöhe werden Steinbrüche betrieben;

weiter unten finden sich Marmor und Alabaster. Auch weisse Alpenrosen und die seltenere Sesleria disticha und Primula longiflora winken dem Botaniker.

Aus den Steinbrüchen mögen jene zerlumpten, italienischen Gestalten stammen, die eben in die Gaststube eintreten, um sich an Wein, Schnaps und Brisagos zu erlaben » Man sollte nicht meinen, dass die eleganten Douaniers in der italienischen Douane, mit der aufgeschnürten Taille, Landsleute dieser Banditenphysiognomien seien.

Zu der Staffage des Splügen gehören endlich noch die Bergamasker, oder wie sie im Mittelalter hiessen, Lamparter. Man sommert etwa 1000 Stück Schafe auf dem Splügen selbst; grosse Heerden gehen durch nach Avers, Stalla und Rheinwald. Zu den 1000 Stück Schafen kommen noch 100—150 Pferde, welche die Hirten in die Kost nehmen. Mit dem Zins, den sie aus den Pferden lösen, schlagen sie allein schon das Pachtgeld für die Weide heraus, was sich auf 400 Gulden pro Jahr belaufen soll.

Mittlerweilen haben sich drunten im Unterland Wolken zusammengeballt; bald fallen einzelne Tropfen. Mit einer halbfertigen Zeichnung flüchte ich mich in 's Haus; denn schon klatscht der Regen gegen die Fensterscheiben. Adieu Surettahorn! Trepp schläft den Schlaf des Gerechten auf der Ofenbank; ihn quälen weder Scrupel noch Zweifel.

Wider Erwarten war aber doch am Morgen der Himmel frei. Etwas spät, um 6 Uhr, brachen wir Yom Berghaus auf.

Die Surettagruppe ist eine sogenannte Zentralmasse. Das Alpensystem stellt eine Mosaik solcher Zentralmassen dar, die nicht in fortlaufender Kette hintereinander liegen, sondern ziemlich unregelmässig neben- und hintereinander vertheilt sind.

Jede Zentralmasse besteht geologisch aus Urgestein, z.B. Granit, Gneis, um welches sich ein schmaler Gürtel von Sediment, d.h. aus Wasser abgesetztem Gestein, wie Schiefer, Kalk und dergleichen lagert. Dieser Gürtel ist freilich hin und wieder sehr schwach entwickelt oder fehlt auch ganz.B.esonders charakteristisch für diese Zentralmassen ist die Fächerstruktur, d.h. die Schichten sind gestellt wie ein ausgespannter Fächer. Wer über den Gotthard geht, beobachtet auf der schweizerischen Seite ein Fallen der Schichten nach Süd, auf der italienischen Seite ein Fallen nach Norden.

Solcher Zentralmassen zählt Desor im ganzen Alpensystem 35 auf; zu den bekanntesten gehören die des Finsteraarhorn, Mont Blanc, Gotthard, Monte Rosa etc. Die Zentralmasse des Suretta umfasst Tambo- und Surettahörner; die Splügenstrasse theilt sie in der Mitte. Das Gestein ist Gneisglimmerschiefer, daran sich anschliessend Dolomit, Marmor. Der grünliche Gneis der Rofflaschlucht, der zum Theil porphyr- und granitartig wird, ist unter dem Namen Rofflagestein bekannt; er steht auch auf der Tambohornspitze an. Die Einfassung von Sedimentgestein wird durch Schiefer gebildet, in denen die Bernhardinstrasse aufwärts führt. Diese Schieferzone trennt die Gruppe von der Zentralmasse der Adula. Im Ganzen folgen die Surettahörner dem Hauptzug der Alpen; bei der Adulagruppe ist das weniger der Fall. Ein Blick auf die Karte lehrt, dass Thäler und Gräte dort oft fast senkrecht auf der Hauptrichtung der Alpen stehen.

Nach dieser Abschweifung kehren wir ,zum schweizerischen Grenzstein zurück. Dort wandten wir uns östlich und stiegen scharf bergan. Nach Verlauf von dreiviertel Stunden standen wir am Rand eines kleinen namenlosen Alpensees. Die Karte gibt ihn nicht an. Nicht weit von hier beginnt ein einförmiges Firnthälchen * ).

Dasselbe ist beim Aufwärtssteigen rechts begrenzt von der Kette der Surettahörner, links von einem weniger hohen, gebogenen Grate.Vor sich sieht man einen Sattel, der in 's Yal Suretta auf die andere Seite hinüber führt. Zu ihm mussten wir emporsteigen. Der ganze Surettagrat geht ungefähr von West nach Ost, biegt sich aber in der Mitte stark nach Norden aus. In der Biegung liegt der Hauptgipfel 3025, von dem ein Grat zu dem erwähnten Surettasattel hinabführt. Diesen Grat hat der Suretta-besteiger zu passiren.

In dem Firnthälchen war es still und einsam; gleichmässig stiegen wir die geneigten Schneehalden hinan. So oft der Blick rechts oder links etwas Erfreuliches suchte, traf er auf nackte, zerrissene Gräte. In neuerer Zeit soll sich eine unheimliche Wildschützenepisode hier oder doch in diesem Revier zugetragen haben. Landjäger Coray, im Thal unten stationirt, hatte vernommen, dass sich an den Surettahörnern italienische Jäger unerlaubter Weise herumtrieben. Er machte sich desshalb eines schönen Morgens auf und stieg zu diesen unwirthlichen Höhen empor. Das Gewehr hatte er geladen. Richtig, wie er das Hochthal betritt, sieht er zwei Jäger, von denen einer ein erlegtes Thier mit sich schleppt. Auf seinen Anruf antwortet der eine in einer Weise, die man nicht leicht missversteht oder vergisst, nämlich mit einer Kugel, die dem biedern Landjäger durch den Hut pfeift, l1tiefer und Coray wäre ein Kind des Todes gewesen. Da war nun kein lang Besinnen, Coray reisst die Büchse von der Schulter und schiesst den, der ihm die Kugel zu-

* ) Vergl. die Abbildung, die ich der Güte des Herrn Müller-Weg-mann verdanke.

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Surettahörner.217

sandte, über den Haufen. Darauf fühlt er sich nicht mehr ganz gleichmüthig, und wie der andere, wüthend über den Fall des Freundes, zielend auf ihn zugeht, gibt er Fersengeld; wer wollte es ihm auch verdenken! Noch pfeift ihm eine Kugel an, den Ohren vorbei; sein guter Stern schützt ihn zum zweiten Mal. Drauf rastet er nicht, bis er unten in Splügen die Anzeige gemacht; man gibt ihm Begleitung mit, und Alle begeben sich an den Ort der That. Hier fand man wohl den Schnee zusammengelegen und Blutspuren; aber von der Stelle hinweg führte nur eine Spur. Es hat bis jetzt meines Wissens nichts über das räthselhafte Verschwinden der Leiche verlautet. Spalten und Klüfte gibt 's in der Nähe; der zurückbleibende Leichnam hätte den andern Jäger verrathen; drum übergab er ihn wohl dem starren Gletscher, der nichts, ausplaudert. Eine andere Version wäre die, dass der Jäger den bloss verwundeteu Kameraden auf dem Kücken über den Berg in Sicherheit getragen habe; dazu gehörten aber, wenn man die Lokalität in 's Auge fasst, Kräfte, die weit über die eines Einzelnen hinausgehen. Endlich sind wir oben auf dem Sattel. An einem Ausläuferchen der mit 2922 bezeichneten Felsmasse machen wir kurze East. Jenseits sieht man über bedeutende Firn- und Gletschermassen in 's einsame Val Suretta.

Jetzt erst sehen wir unsre Aufgabe klar vor uns. Zunächst müssen wir die ganze Breite des Sattels quer passiren, wo eine Spalte mit ungleich hohen Eändern uns entgegenklafft; dann führt der schon erwähnte steile Grat direkt zum Gipfel 3025. Es gelang uns, etwas rechts Bût einem tüchtigen Satz über die Spalte hinwegzukommen. Bei Trepp hatte ich gewissermassen mich dadurch, ich am Seil voranging, legitimirt. Der Grat aufwärts war jäh, jedoch immerhin nicht so wie der famose Firngrat zum Bec Epicoun im Wallis hinauf, den Weilenmann zum ersten und letzten Mal betreten hat.

War doch bei uns der Schnee günstig. In raschem Tempo stampften wir hinauf, sahen »weder rechts noch links, schlugen die Bergschuhe möglichst tief in den weichen Firn ein. An einigen Stellen wurde es recht leiterartig steil; dafür kam man aber straff in die Hohe, und auf einmal, ehe wir uns dessen versahen, standen wir auf einer recht geräumigen, behaglichen Kuppe... aber nur einen Moment; denn plötzlich fuhr ich mittelst Versenkung wie Banko's Geist in das Innere des Gipfels. Klüfte ( würde ein prosaischer Geolog sagen ) durchziehen den Gipfel in verschiedenen Richtungen; der Gneis verwittert aber gar leicht, Blitz und Frost thun das Uebrige. Schnell hatte ich mich herausgearbeitet. Ich kündigte nun Trepp an, dass ich diesen Gipfel nicht für die höchste Spitze halte, vielmehr würden wir über den Grat in östlicher Richtung nach dem nächsten Gipfel klettern. Yor Erstaunen wäre Trepp beinahe auch in eine Versenkung gefahren. Zweifelnd sah er bald mich, bald die Spitze, bald den Grat an. Wozu die Mühe, dachte er ohne Zweifel, ein Gewehr hatten wir nicht, und Gemsen waren auch nicht sichtbar.

Dieser Gipfel ist unzweifelhaft der höchste, meinte er; ich war zwar auch dieser Ansicht, behauptete aber das Gegentheil. Wir hatten vom Quartier aus nur 3^4 Stunde auf den Punkt 3025 benöthigt und waren beide noch ganz frisch; mir schien es daher passend, den Grat noch etwas weiter hin zu untersuchen.

Verbindungsgräte zwischen Hochgipfeln sind verschieden wie die Dachfirst eines gewöhnlichen Hauses und die steile, schwindlige First eines Kirchthurmdaches. Dazwischen gibt es Uebergänge. Je nachdem, wird den Nerven und Muskeln des Steigenden mehr der weniger zugemuthet.

Es gibt ferner Gräte mit und solche ohne Hindernisse. Zu den erstem gehört der scharfe Grat, der zum höchsten Gipfel der Ruinette hinaufführt. Nicht nur ist er steil, sondern unterbrochen und zerrissen. Felsige, übereiste Partieen treten auf, die zu überschreiten schwierig wäre, auch wenn keine Abgründe zu beiden Seiten gähnend sich aufthäten. Blankes Eis unter ver-rätherischem, lockern Schnee kommt vor. Noch drohen auf solchen Gräten die Schneegwächten, die unter der Last der darauf Gehenden zusammenstürzen und sie dem Abgrund zuführen. Eine solche Schneegwächte wurde für Lieutenant Peyer Verhängnis s voll, als er in der Ortlergruppe mit dem unerschrockenen Führer Pinggera den Grat überschritt, der Punta S. Matteo mit dem Tresero verbindet. Er erzählt* ): „ Genau in dem Augenblick, wo ich die erneute Warnung „ wenn es jetzt hier wieder eine Schneegwächte gäbe " ausgesprochen, erfolgte ein dumpfer Knall, verursacht durch die Ablösung des gesammten Schneeüberhanges, auf welchem wir uns befandenich sah Pinggerra lautlos kopfüber die Eiswand auf den Fornogletscher hinabstürzen und folgte ihm mit dem Bewusstsein des Unterganges in demselben Moment nach. Sogleich verlor ich Hut, Brille und Bergstock, und schneeumhüllt, gewissermassen in einer Lawine, glitten wir in raschem Flug die Hänge hernieder, wurden an senkrechten Abbruchen hinausgeschleudert und momentan befanden wir uns dann in freier Luft, mit bangem Gefühl das Auffallen — möglicher Weise auf ein Felsriff — erwartend... Während dieses, nur wenige Augenblicke dauernden Sturzes hatte ich Anfangs den Kopf voraus^

* ) Siehe Petermann's Mittheilungen, Ergänzungsheft Nr. 27, S. 26.

sah Nichts, und Alles, an was ich mich anzuklammern suchte, war geballter, mitfliegender, aufwirbelnder Schnee... Ich selbst erreichte, zuletzt an einem über 80'hohen, senkrechten Absatz des Eises hinabstürzend, in horizontaler Seitenlage eine tiefe Schneegrube und blieb darin stecken — ein wunderbares Glück. "

Herr Syber und ich hatten diesen Sommer Gelegenheit, die Stelle zu sehen; die Sturzhöhe beträgt nach Peyer's Schätzung circa 800 ', und doch kamen Beide wie durch ein Wunder mit dem Leben davon.

Doch nun zurück zu unserm Grat! Er gehörte nicht zu den ganz bedenklichen. Immerhin war er durch verwitterte Felsen coupirt. Entweder musste man drüber-oder an der Seite hinklettern. Ersteres gelang gut; auf dem Eückweg versuchte ich der Abwechslung halber den seitlichen Weg, kam aber dermassen auf übereiste, schiefe ITelsplatten, dass ich Trepp beneidete, der nach dem Grundsatz, wro man einmal gut gegangen ist, da geht man wieder, ungefähr in der Hälfte Zeit die Stelle passirte. Nach einer Viertelstunde wrar die Schneide überwunden, und wir standen auf der zweiten, östlichem Spitze, von der aus der Grat sich stark senkte * ). Während dieser Viertelstunde hatten wir genau die schweize-risch-italienische Grenze verfolgt; hier hat vor uns kein Grenzwächter die Grenze begangen.

Schauen wir uns nun um. Es ist ein Tag zum Entzücken schön, so klar, dass der Blick die entferntesten Spitzen erfassen kann. Ich liebe es, möglichst lang auf den Gipfeln zu bleiben, 2—3 Stunden oder länger; nur

* ) Wenn man den Gipfel 3039 der Karte, wie Theobald es thut, zur Surettagruppe rechnet, so ist der höchste Gipfel der Gruppe noch unbestiegen. Es wäre interessant festzustellen, wie weit die später erwähnte Zone von krystallinischem Kalk sich gegen 3039 erstreckt.

so wird es möglich, sich in die unendliche " Wunderwelt zu vertiefen, nur so geräth man in jene poetisch-beschau-liche Stimmung, wo man in die weite Welt hineinsehend ganz fühlt, wie unendlich erhalben, grossartig und ewig schön die Alpennatur ist.

Der Glanzpunkt in der Surettaaussicht ist die Berninagruppe. Losgelöst in kühnen Formen, steht sie im Osten; der feine, gelbliche Ton, wie er den höchsten Gruppen eigen ist, liegt auf den blendenden Firnfeldern. Links sind wohl der spitze Piz Ot und der weltbekannte Piz Languard sichtbar; daran schliessen sich Tchierva und der Morteratsch mit seinen gefurchten, felsigen Flanken. Nun folgt der Altmeister Bernina selbst, " vor ihm der Tchiervagletscher, dann der so lang unbezwungene Roseg mit dem weissen Gletsehertalar und den schroffen Wänden; La Sella, Piz Tremoggia u.a. schliessen den Reigen.

In jeder Aussicht gibt es einzelne, besonders elegante oder auch wild imponirende Formen; diese sollte man studiren und das Gewimmel, in dem das Auge keinen Ruhepunkt findet, laufen lassen; es ist nur da zum Ausfüllen oder um den allgemeinen Eindruck zu geben »

Eine solche zierliche Gestalt bietet der Piz d' Err am Oberhalbstem. Auf einer Basis von schrägen, hellen Felsplatten erheben sich schön gefaltete Felscoulissen; sie wölben sich oben zu der schneebedeckten, gerundeten Kuppel. Die weissen, schrägen Platten werden Dolomit sein ( er wechselt dort mit Granitdaneben tritt Serpentin auf. Naher, gerade oberhalb Ferrera, liegt Piz Starlera ( 3048 m ). Er zeigt seine imposante Front: Felsenmauern, ^vie von Titanen aufgethürmt. Im Vordergrund bietet sich kein freundliches Bild; man sieht in den öden Glet-seherkessel des Val Suretta hinunter. Selbst weiter unten

5 bemerkt man nur Geröll und Gletscherschutt;

keine Rauchsäule verräth das Dasein eines menschlichen Wesens. Nach Süden die gleiche Unwirthlichkeit. Die Firnwand fällt in eine Gletschermulde ab, und weiterhin senken sich holprige und steinige Terrassen gegen die Splügenstrasse hinunter, gut für Bergamasker. Unten gibt1 s noch grosse Steinhalden; dann bleibt dej Blick mit einigem " Wohlgefallen auf einer grossen, grünen Fläche, an der Splügenstrasse gelegen, haften; die Alp Suretta liegt nicht weit davon.

Wer auf unserm Gipfel steht, dem fällt jedenfalls sofort das glänzende, schimmernde Gestein mit der eigenthümlichen, dunkeln Oberfläche auf. Man sollte, da dieser Gipfel von der Spitze 3025 in direkter Linie nur etwa 5 Minuten entfernt ist, denselben Gneis erwarten, wie er dort auftritt. Statt dessen haben wir hier einen feinkörnigen, krystallinischen Kalk, eine Art Marmor. Beim Auflösen in Salzsäure braust er stark und hinterlässt viel Glimmer, der in feinen weissen Schüppchen durch die ganze Masse verstreut ist. Ausserdem bleibt eine flockige, organische Substanz, wohl Gewebe von Flechten, welche den dunkeln Uebergang bilden. Der körnige Kalk kommt hier also in ähnlicher Weise vor, wie unten am Splügen als Gang oder Lager, was immerhin in solcher Höhe eigenthümlich erscheint.

Noch sei bemerkt, dass die Temperatur im Schatten 3—4° betrug; am nächsten Morgen las ich in Chiavenna 26° ab, macht binnen 16 Stunden eine Differenz von 22°.

Mein Trepp begann ungeduldig zu werden. Das ist das Elend, dass die Führer systematisch für baldigen Aufbruch sind, wofür sie die und jene Gründe mit mehr oder weniger Berechtigung in 's Feld führen. Eine Kriegslist verhalf mir zu einer weitern Stunde. Ich stellte nam-

lieh Trepp vor, dass, da wir die ersten Besteiger seien, nothwendig ein Steinmandli errichtet werden müsse. Dagegen liess sich vernünftiger " Weise nichts einwenden, und während Trepp stöhnend und schwitzend die schweren Kalkplatten in Bewegung setzte, vertiefte ich mich wieder in die Aussicht. Als das Steinmandli fertig war, hatte ich schon wieder eine Beschäftigung für den armen Trepp ausgesonnen, und er ging auch richtig in die Falle.

„ Trepp, was denket Ihr auch? Euer Steinmandli sieht man ja von Splügen aus nicht; kein Mensch glaubt, dass wir oben gewesen seien. Drüben auf dem ersten Gipfel müsst Ihr noch eines bauen. "

Trepp sah mich etwas zweifelhaft an; nun aber rückte ich mit dem schweren Geschütz vor, sprach von seinem Führerrenomme, welchen Effekt es machen werde, wenn er von der Bank vor dem Hôtel de la Poste in Splügen den Fremden das selbsterbaute Steinmandli zeigen könne etc. etc. Dem konnte Trepp nicht widerstehen. Seufzend, aber im Innersten von der Nothwendigkeit überzeugt, setzte er sich in Marsch nach dem ersten Gipfel zurück, und ich folgte. So erreichte ich 's, auf beiden Gipfeln zusammen fünf Stunden zubringen zu können, und ich kann nicht behaupten, die Zeit sei mir lang geworden. Wer zeichnet, weiss die Stunden zu schätzen. Mein Trepp ging, als wir auf dem ersten Gipfel anlangten, mit einer Energie an 's Werk, die einer grössern Sache würdig gewesen wäre, und schleppte die schwersten Steine heran.

Erwähnung verdient, wie sich die westliche Fortsetzung des Grates von 3025 aus gestaltet. Etwas Zerrisseneres, Zersägteres ist nicht leicht denkbar; manches Thürmchen, mancher Zacken wird da nächstens das Gleichgewicht verlieren, und jedenfalls findet ein Zeichner in 50 Jahren eine wesentlich andere Contour.

Man sollte hierauf achten und durch Vergleichung genauer Zeichen von sonst und jetzt gleichsam die historische Entwicklung der Contouren verfolgen, was dazu beitragen könnte, die Gesetze der Erosion zu ergründen. Zum Wenigsten liessen sich die Uebergänge in den Verwitterungsformen dadurch auffinden. Man gehe hin an die Kalkstöcke, wie z.B. an den Glärnisch, und betrachte näher die Erker Struktur ( kleine Erkerchen mit spitzen Dächern ) am Bächi oder die grossen, Heufeimen vergleichbaren Formen am Anfang des See's unten, oder die kammartige Verwitterung am Hochthorgrat, endlich die zahnförmige Verwitterung z.B. an einer Stelle des Grats nicht weit vom Ruchengipfel. Fragt man sich da nicht erstaunt, wie kommt 's, dass der Kalk allein solche Formen bildet und nicht der Granit, bei dem die Erosion mehr dachförmig nivellirende Furchen, jedoch auch spitze Nadeln bildend, wirkt? Schwierig sind die Gesetze dessen zu ergründen, was man den „ Zahn der Zeit " nennt.

Die Aussicht vom Gipfel 3025 ist entschieden grossartiger. Stattlich stellt sich das Tambohorn dar, mir ein guter Bekannter von gestern. Deutlich sehe ich unsern Weg: Die Kletterpartie am Grat von Val Loga, das grosse, steile Schneefeld, über das wir windesschnell hinabfuhren, dann das geneigte Plateau, was zur Gipfelpyramide führt, und die felsige Pyramide selbst, wo wir über lose Steine hinaufkletterten. Ich kenne die Herleitung des Wortes Tambo nicht; aber in dem Wort klingt die Statur des Berges selbst an mit seinen harten, trotzigen Formen. Einen Gruss Dir vom Suretta, Du stattliche Bergesma-jestät!

Trepp schaut fleissig bei der Arbeit nach Splügen hinunter; vielleicht denkt er, seine Liebste bemerke ihn,

wie er wie ein Cyclop Stein auf Stein thürmt. Ich betrachte mir unterdessen die Adula- oder Eheinwaldgruppe. Da liegen sie nebeneinander, die von " Weilenmann bezwungenen Grossen, der spitze Vogelberg, das Rheinwaldhorn mit der dunkeln Felswand auf der linken Seite, das schön domartig gewölbte, gleichfalls schroff nach Süden abfal^-lende Gufferhorn; rechts davon im Vordergrund fällt noch die sonderbare Gestalt des Einshornes auf.

Mit zufriedenen Blicken betrachtet Trepp sein ziemlich 8'hohes Steinmannli. Was mich bei diesem Führer besonders anmuthete, das ist seine Verwandtschaft mit dem berühmten Trepp, den Jeder kennt, der in Dresden verweilte. Erquickt er doch jahraus, jahrein die durstigen Dresdner und Fremden mit dem Schälchen Kaffee und dem unvermeidlichen Kuchen. Der Inhaber der Firma weilt unten in Splügen, seinem Heimathsort, zum Besuch; die einfachen Gebirgsbewohner staunen den reichen Conditor an, der in der Fremde sein Glück machte, wie so mancher Bündner. Freilich das Podagra und einen allzubeträchtlichen Leibesumfang haben über sein Glück neidische Götter ihm auferlegt.

Halb 3 Uhr war 's, als wir zum dritten Mal die Schneide betraten, nunmehr zum Rückweg; ich beabsichtigte in den südlichen Firnkessel hinab und an 2683 vorbei über Alp Suretta nach dem italienischen Zollhaus zu gelangen. Wie verführerisch war die steile Firnwand für eine Fahrt am Stock; Trepp aber behauptete, die lange Spalte unten sei zu bedenklich und so gingen wir denn am Seil im Zickzack hinunter. Lang und stellenweis langweilig war der Rückweg; man hat das Grossartigste gesehen; es folgt die Abspannung, und doch muss man noch stundenweit gehen. Unglücklicherweise wollte auch gar nichts passiren, keine Gemse, kein „ Munk ", nur lange

Schweizer Alpenclub.15

Steinhalden. Von einem Stein zum andern hüpfen war eine Art Tanz und Körperbildungsunterricht.

Endlich liegt es vor uns, das lange, graue Gebäude der Dogana. Wanderer, nahe ihm nicht von hinten, du befindest dich auf der italienischen Seite; dagegen welch'lieblicher Anblick wartet deiner vorn! Ein Douanenchef, blank und propre wie aus dem Ei geschält, mit wattirter Brust, wandert, seiner Würde bewusst bis in die gewichsten Schnarrbartspitzen hinein, vor dem Hause auf und ab, ein Alpen-Elégant comme il faut. Heute, am Sonntag, ruht der Dienst; man sitzt in der Sonne, raucht und spielt Kegel; auch ein emsiges Pfäfflein mit hochgeschürzter Tunika schwingt behende die Kugel — Alles zusammen ein gemüthliches dolce fare niente.

Wir betraten das innerlich weit besser als äusserlich beschaffene Wirthshaus. Schon das grosse, weiche Fa-miliensopha verdient den Stern des Bädeker; 5 Clubisten, allzubeleibte Mitglieder des Thalsohlenclubs ausgenommen, fänden darauf Platz. Ein braunes, knochiges Italie-nerweib bediente uns; sie hatte sich aus irgend welchem Grunde das Gesicht eingerieben und glänzte daher theils vor Speck, theils vor Vergnügen. Trepp schien an dieser gesalbten Schönheit kein Wohlgefallen zu finden.

Zweierlei Ueberraschungen standen mir noch an diesem Tage bevor. Erstens brachte mir, als ich einmal vor 's Haus ging, der Wirth den Schlüssel der Schenkstube nach und bedeutete mir, ich solle ihn einstecken; es sei nur wegen meiner Sachen. 0 italienische Wirthschaft und italienische Dogana! Zweitens kam eine Estafette von Splügen. Der Kellner hatte sich zu meinen Ungunsten um 1 Vt Franken geirrt und schickte mir das Geld durch besonderen Boten nach. Zuerst begriff ich die Sachlage nicht, dann strich ich kopfschüttelnd das Geld ein: „ Er-

Wäre mir, Graf Oerindur, dieses Räthsel der Natur. " Ein Kellner und Geld nachschicken! Sollte der Umstand, dass ich mich zuletzt als Mitglied des S.A.C. eingeschrieben, das Seltsam-Unglaubliche veranlasst haben? Sei dem, wie es wolle; es lebe die Gesellschaft, die solche Revolutionen in verhärteten Kellnergemüthern erzeugt, so dass ein menschliches Rühren sie anwandelt, es lebe der schweizerische Alpenklub!

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