Erste Ersteigung der Tschingelspitzen
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Erste Ersteigung der Tschingelspitzen

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„ Piz Glisch " oder „ Die Mannen ".

Dr. F. Schlüpfer.

28508778 Par.F. Von

Montags den 22. Juli 1858, Morgens um 2 Uhr von Hause gehend, erreichte ich gleichen Tags Mittags unter Beihülfe aller möglichen älteren und neueren Beförderungsmittel, d.h. mittelst Fusstour, Post, Eisenbahn glücklich und recht faul die Station Elm im Sernfthal, in deren Nähe irgendwo der noch unerstiegene Freund Tschingel vorhanden sein sollte. Ich konnte ihn wirklich auch bald genau betrachten; denn schon ein Stück unterhalb Elm machte mich ein auf dem Postwagen sitzender Eimerbürger auf ihn aufmerksam, ohne meine Absichten zu kennen. Obschon Wittwer, empfand ich nichts weniger als anziehende Gefühle beim Anblick des schroffen, steilabfallenden Busens dieser holden Bergjungfrau.

Ehe für die leiblichen Bedürfnisse gesorgt wurde, liess ich den glücklicherweise mit Heuen beschäftigten Führer Heinrich Eimer zitiren. Der liess mir aber melden: er müsse „ z'erst ässenich soll 's auch so machen. Ganz recht!

Nach einiger Zeit erschien auch der Gesuchte mit

dampfender Pfeife. Als er meine Absicht vernommen,

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musterte mich Eimer mit einem durchdringenden, lächelnden Blicke von unten bis oben und schlug die Einladung zu einer Flasche Wein ab; doch den gemeinsamen Schoppen so und so viel Mal füllen zu lassen, weigerte er sich gar nicht. Auf einem Spaziergange in 's liebliche Thal hinein machte mich Eimer sehr getreu auf die bevorstehende schlimme Kletterei aufmerksam und bemerkte, seinen Sohn Peterli müsse er mitnehmen. Ermuntert hat er mich nicht besonders, aber auch nicht entmuthigt, und so einigten wir uns bald, Morgens 2 Uhr aufzubrechen, um zur Ersparung möglichst vieler Zeit frühe in die Höhe zu gelangen.

Wer je in Elm war, erinnert sich des in scharfen Spitzen ausgezackten, in seiner ganzen Länge mit einer einzigen hohen Felswand abfallenden, ganz schneefreien Bergzuges, dessen Enden westlich mit dem Ofen und östlich mittelst der Segnespasshöhe mit dem Piz Segnes zusammenhängen und dessen östliches Hörn vom Martins-loche durchbohrt ist. Es ist eine Reihe sehr steiler Felsköpfe, welche die Glarner „ Tschingelhörner ", die Bündner „ Mannen " oder „ Jungfrauen " nennen. Diese sind bis dato nur in der westlichen Hälfte von Jägern betreten worden, da sie wegen ihrer äusserst zerklüfteten Beschaffenheit den Gemsen treffliche Schlupfwinkel darbieten, wo ihre Verfolgung fast unmöglich wird, während der östliche Theil, nämlich das durchlöcherte grösste Hörn und sein grausiger Nachbar nach Elmer's Versicherung und wie der Augenschein an Ort und Stelle lehrte, vernünftigerweise noch von Niemandem betreten worden waren, obschon sie einige Aussicht und eine ausgezeichnete Kletterpartie versprechen, und besonders solchen Bergfreunden zu empfehlen wären, die noch nicht hinlänglich geübt sind, fast ganz „ im Lautern " zu gehen.

Die letzte Abtheilung nun war das mir vorgesteckte Reiseziel, das, wenn immer thunlich, erreicht werden musste. Ist die Glarnerseite sehr übel aussehend und keinen auch nur den geringsten Erfolg versprechenden Angriffspunkt aufweisend, so versicherten Alle, welche die Bündnerseite dieser Dinger gesehen, dass sie auch dort, wo der Angriff unternommen werden musste, kein Appetit erregendes Mittel seien.

Nach einigen in gutem Bett zugebrachten, aber vor lauter Aufregung über die kommenden Ereignisse beinahe schlaflosen Ruhestunden, kam die frühe Zeit des Abmarsches. Eimer erschien zeitig mit seinem magern, bleichen, aber zähen sechszehnjährigen Peterli, der als Träger für Seil und Beil fungiren sollte, während der Alte unterm wohlgespickten Proviantsacke zu schnaufen hatte. Ich konnte nicht unterlassen, vor dem Aufbruche das Seil noch speziell auf seine Solidität zu prüfen, da es voraussichtlich lange Zeit in Anwendung zu kommen hatte. Es war neu und zuverlässig stark; Eimer freute sich des Lobes und gab die Länge der zwei Stücke auf 110'an.

Hierüber beruhigt, schritten wir Drei still und langsam in die dunkle, fast sternenlose Nacht hinaus. Während auf Erden noch Alles in Ruhe lag, herrschte im Reich der Lüfte arger Streit um die Herrschaft zwischen Westwind und Föhn; daher die ersten Stunden der Reise grösstenteils der Wetterbeobachtung gewidmet wurden.

Zunächst dem gewöhnlichen Segne spass weg folgend, betraten wir bald das sich öffnende schwarzdunkle Tobel in dem tief zu Fussen des Wanderers der Tschingelbach tobt und braust. Nachdem eine Stelle, wo eine Lawine den Weg weggerissen, in tiefem Schmutze und Schnee tappend, passirt war, endete die Schlucht und mit Anbruch des Tages wurde die Alp Mederstatt betreten.

Es begann zu regnen, was uns so weit tröstete, dass nun doch die Wolken sich leeren und uns nachher weniger geniren würden.

Alle umliegenden Berge hüllten sich in Nebel, und ich befürchtete, mein altes Wetterpech in diesem Thale wieder auf den Hals zu kriegen. Eimer erachtete für gut, in dem Heuschuppen zu halten und postirte den Peterli unter 's Tliürloch als Ausspäher; er selber sass in die Mitte des Eaumes so, dass er die Wirkungen des „ Unterwindes " sehen konnte; mich aber schob er väter-lichst in den Hintergrund, xim bequem anlehnen zu können oder vielleicht, dass mich Pechvogel das Wetter nicht bemerken sollte. Wir benutzten den unfreiwilligen Aufenthalt zur Revision unseres Proviantmagazins, dessen Inhalt sich als vortrefflich und, wie ich später erfuhr, auch als sehr billig erwies. ' Südlich von der Hütte erhoben sich unsere jetzt verhüllten Hörner, auf deren niedersten Vorsprung hinaus sich vor einigen Jahren einige diesen Pass allein begehende Reisende zu ihrem Verderben desshalb verirrt hatten, weil sie von der Passhöhe linkszu, statt rechts abstiegen. Finster schaute der Firn auf dem Ofen herab und, wie uns bespöttelnd, streckte sein nördlicher Abhang gerade uns gegenüber dieFelsnadeln der „ Zwölfihörner " in die Wolken. Nach etwa zwanzig Minuten erklärte Eimer in würdevoller, prophetischer Haltung: „ s'Wetter wird besser und wenn auch noch ein Regen kommt, der Unterwind wird Meister !" Und der Ausspruch erwies sich als richtig bis auf den scharf zwickenden Regen, der uns bald genug zu Theil wurde.

Hurtig über einen prachtvoll blühenden, herrlich duftenden Grasplatz steigend, glaubten wir uns ziemlich allein; aber bald erschienen lebende Wesen genug: links kam über die Höhe die Schafheerde von Falzüber und plärrte einen guten Morgen;

rechts entdeckten Peterli's scharfe Augen drei Gemsen auf einem Grätli langsam gegen uns herkommend, dann aber über ein Schneeband einem schönen grünen Felsköpfchen zugehend. Auf dem Schnee rutschte das mittlere Thier, worauf das vordere sich zu ihm kehrte und das hintere sich etwas näherte; die Eimer meinten, es werde ein noch ungeschicktes Junges sein und bedauerten den Mangel eines Stutzers.

Damit nun erfüllet werde, was Eimer in der Hütte prophezeit hatte, trat bald wieder feiner, dichter, von starkem Winde getriebener Regen ein, der beim Betreten der Schiefer- und Schneehalden unter der Passhöhe stärker und, wie es schien, mit einigen weissen Flocken gemischt, uns bald durchnässt hatte, worauf etwas vor 6 Uhr die Passhöhe bei ausgezeichnetem innerm und äusserm Humor schnell überschritten wurde. Dem hier steil emporsteigenden Reiseziele gönnten wir kaum einige Blicke, die uns zu überzeugen genügten, es sei auf dieser Seite nichts zu pröbeln.

Rasch schritten wir über den Segnesfirn rechts abwärts der sich an der ganzen südlichen Tschingelseite hinziehenden, überhängenden Felswand zu, um dort etwa zehn Minuten auszuruhen und für die nun beginnende eigentliche Besteigung die Kräfte zu sammeln. Der südlichen Tschingelseite entlang bis zum Ofen einerseits und zum Piz Segnes und Flimserstein anderseits breitet sich der Segnesfirn aus, nach unten flach in den Segnesboden auslaufend, obenher jäher und mit frischgefallenen Tschingelbruchstücken bedeckt. Seinem obersten nördlichen Saume entlang schritten wir bedachtsam, um die häufig herabstürzenden Steine nicht zu geniren. Am Ende der Felswand bogen wir vom bisher westlichen Kurs rechts nördlich zur Besteigung des zwischen Ofen und Tschingel hinaufziehenden, etwas harten, jähen, obenhin unebenen Schneestreifens ab.

Der Regen hatte aufgehört; die Wolken hoben sich, unsere Reiselust nahm, ungeachtet der sehr uneinladenden Physiognomie der zu begehenden Felsen, zu; still und fleissig stiegen wir im Zickzack den Hang hinan.

Die Härte des Schnee's, der daherige unsichere Stand nur mit den Fussspitzen bei der erreichten Nähe der Felsen und der Widerwille, jetzt schon Stufen zu hauen, bewogen Eimer, durch Peterli erforschen zu lassen, ob es vielleicht besser sei, auf den Fels zu gehen. Es schien so, und wir traten den ersten, etwa „ halblautem " Gang auf dem Felsen an, Peterli gerade durch, Eimer mit mir etwas höher und sicherer über den ersten Grat, der ein Ausläufer des darüber stehenden ersten Gipfels ist, und jenseits wieder hinab auf ein neues Schneefeld, das steil bis an 3—5 Fuss Höhe auf obgenannte Felswand ausläuft. Darüber hinauf mussten wir. Ein Ausgleiten auf diesem Schnee hätte in Ermanglung des Flugvermögens schlimme Folgen haben müssen, wesshalb denn Peterli, nach erhaltener Theorie über Führung des Beils, bis zu oberst ganz schöne Tritte einhieb.

Mit diesem Aufstieg erreichten wir den zweiten, östlich oben an der Schneehalde schauerlich zerrissen und nackt dastehenden Tschingelkopf, der wie alle seine Kumpane aus erzfaulem, abbrökelndem, in den verschiedenen Richtungen gelagertem grauem Schiefer besteht. Der erste Spitz steht gerade über der erstiegenen Schneehalde und sieht ganz unkletterbar aus. Nach kurzer Berathung und Ausspähung wurde hurtig an der einzig gangbaren Stelle über den Gipfel geklettert. Da, nur ganz wenige Fuss unter dem Spitz, war 's zum ersten Male „ ganz Die Tschingelspitzen.

lauter " und aller Fels so faul, dass man ganz Vorsicht und Ruhe sein musste und an kein Umherschauen denken durfte.

Die Höhe erreicht, gähnten ringsum tiefe Abgründe; in deren mindest tiefen, zum dritten Gipfel führenden, musste nothwendig, und zwar mit peinlichster Vorsicht hinabgeklettert werden. Abermals kam uns eine Schneekehle in den Weg, schmaler und kürzer als die vorgenannte. Nachdem diese ebenfalls ruhig und vorsichtig begangen war, zündete oben Eimer sein Pfeifchen an. Ein Zwischengipfel wurde überschritten und dann endlich der dritte Gipfel erreicht. Ein schwindliger Pfad, auf dem ich mir aber doch endlich das Vergnügen machte, in den grausig schönen Abgrund zu blicken und einigen Steinen Gelegenheit zu grandiosen Sprüngen zu verschaffen.

Schon wieder galt es abwärts zu klettern in einen neuen Grateinriss, der so schmal war, dass er nicht für alle drei Mann Raum zum Stehen bot; dann wieder angestrengt hoch hinauf, jeden Stein prüfend, ob er halte, um dann erst in der Höhe zu versuchen, ob und wie weiter zu kommen sei. Die Landstrasse führte wieder über die Spitze dieses faulsten aller faulen Köpfe, der hoffentlich bald durch spontanes Zerfallen aus dem Wege geräumt wird. Ich muss offen gestehen, dass mir diese endlose, gefährliche Kletterei schon etwas zu „ genügein " begann. Die Hände waren rauh, stellenweise defekt, und noch stand so ein zerrissener, alter Trotzkopf, das Gelingen der Reise in Frage stellend, im Wege. Eimer bemerkte meine Verstimmung, und ich sagte es ihm auch offen: eine solche Turnerei sei im Grunde eine Thorheit. Er meinte darauf: „ Machen Sie was Sie wollen, aber in der Nähe des Zieles zu sein und — so grimmig es aussiehtnicht ganz hinzugehen und, ohne alle Möglichkeiten erschöpft zu haben, den Yersuch aufzugeben, wäre auch nicht besonders klug. "

Hast Recht, dachte ich — und vorwärts gings. Einen Schluck Schnaps, und in den vorletzten Sattel hinunter. Aber ohaso schnell und einfach gehts da oben nicht; denn da stehen wir unversehens auf dem abschüssigen Rande einer Felswand, die selbst den bisher immer vorauseilenden Peterli still und stutzig machte.

Während ich und Peterli auf Befehl des Alten hier der gezAvungenen Ruhe pflegten, durchstöberte er oben und unten, hinten und vorn alle Felsen und Spalten zur Erspähung eines Durchganges. Endlich erschien er: Mach's'Seil los Î Als dies vom Peterli nicht rasch genug geschah, griff er selbst zu, verwirrte es aber noch mehr. Endlich band er den Jungen an und liess ihn sammt unserer Bagage über die Wand hinab, dann mich und warf mir drauf das Seil nach. Dass wir nun unten seien, spürten wir beide an den Seileindrücken an den Brustseiten; wo aber Eimer durchkommen werde, war noch ein Räthsel, da unsern Augen der vom Alten offenbar entdeckte, heikle Durchpass verborgen blieb. Die nun gewonnene, prekäre Stellung gab zu einiger wohlbegründeter Besorgniss Anlass. Ich stand nun mit Peterli tief zwischen zwei Felsen auf einem nur wenige Fuss langen, scharfen Grätli, das einerseits durch eine schmale, tiefe Kluft auf die südliche, anderseits auf einer breitern, aber mit sehr glattem Eise belegten Schlucht auf die grosse nördliche Wand ausläuft. Endlich kam der alte Fuchs, der indessen uns verschwunden und nordwärts über den Grat geklettert war, in der eisigen Kluft zum Yorschein. Wir liessen ihm das Seil hinab; er nahm es aber erst obenher zur Hand, wo sein Stand ganz unsicher wurde. Nun machte sich die ganze Gesellschaft schleunigst weiter zur Bezwingung des letzten zu übersteigenden Gipfels.

Natürlich musste wieder Alles ausgekundschaftet werden, bis sich ergab, dass die Route abermals nur über die Spitze zu machen sei. Während dieser letzten Elmer'schen Wegstudien war mir wieder einige Augenblicke Ruhe und eine erste gemüthliche Umschau vergönnt; aber ehe ich mich in die namenlos wilde Umgebung vertiefen konnte, störte mich die Rückkehr der Beiden. Weil die Uhr schon halb 11 Uhr zeigte und wir 4Va Stunden mühselig herumgekrabbelt waren, ohne dem Magen auch Beschäftigung angewiesen zu haben, so musste noch der dringenden Indication des „ z'Nüni"-nehmens einige Minuten gewidmet werden. Bald wieder aufbrechend, befahl Eimer, ausser Seil und Beil und einer leeren Flasche alles zurückzulassen. Er verlangte sogar, dass die Schuhe ausgezogen werden sollen, wogegen uns aber meine und Peterli's energische Protestation schützte; auch die Schnapsflasche schlüpfte insgeheim noch in meine Rocktasche, zur spätem Erquickung selbst des alten, vergnüglich daran schmatzenden Drako.

Zum letzten Male wurde nun aufgebrochen und wir erreichten in wenigen Sätzen die Spitze des vorletzten Felsens. Nun stand der lange Gesuchte plötzlich ganz allein, frei und schroff in unmittelbarer Nähe vor uns! Ihn einige Augenblicke scharf musternd, wurde uns sofort klar, dass er bis ziemlich weit über die Hälfte hinauf mittelst eines von der West- zur Südseite sich hinaufziehenden, schmalen, abschüssigen, an der sonst überhangenden Wand leicht vorstehenden Felsbandes zu besteigen sei. Neues Leben erweckte die stark hergenommenen Glieder, und Lust und Freude über die günstige Aussicht liessen für jetzt keinen Gedanken an die bevorstehenden Gefahren aufkommen. Hier, erzählte Eimer, sei er einst Südhange dieses Gipfels auf der Jagd hingekommen und habe von der vordem Wand am Abhänge des letzten, unsers Zieles nämlich, ein „ Thier " einfach desshalb schiessen können, weil weiter zu fliehen demselben nicht möglich gewesen;

das Thier sei dann durch den Grateinriss vor uns hinuntergestürzt bis auf den Segnesgletscher. Obwohl dies nur so ein Jägerstücklein ist, wie man sie hin und her hören kann, konnte ich doch an der " Wahrheit desselben nicht zweifeln, als ich die Lokalität vor mir sah; es bewies mir aber zugleich den unzugänglichen Charakter des letzten Tschingels und die schauerliche Beschaffenheit der uns noch bevorstehenden Partie.

Zunächst musste nun wieder abwärts geklettert werden, und diesmal zur Abwechslung durch ein richtiges Kamin hinab in die letzte Grateinsenkung, welche steil, mit gefrorenem Schnee erfüllt, auch wieder eine ganz kurze Schlucht bildet. Hier erwartete uns das Yergnügen, zwischen Fels und Schnee derart auf 's Grätli der Einsenkung zu krabbeln, dass stets die Extremitäten der rechten Seite wider den Fels, die der linken Seite wider den Schnee gestemmt werden mussten. Ein heilloser Schmerz an den durch keine Handschuhe geschützten Händen verblieb mir als die schönste Erinnerung an diese Partie. Endlich war der Sattel erreicht und uns vergönnt, allein auf den Fussen zu stehen. Ohne Säumen machten wir uns auf das obgenannte, die Strasse zum letzten, theuer erlangten Ziele hinauf bildende Felswändchen. Um diese, sehr „ heitere " Promenade bald zu absolviren, schritten wir alle Drei völlig stürmisch hinauf, ohne an das leicht mögliche Ausgleiten zu denken. Als sich nun die Richtung auf die Südseite geändert hatte und gerade hinauf zum Gipfel wies, blieb abermals der auch hier vorausgeeilte Peterli vor einem Hindernisse — dem letzten — hülflos stehen, unsere Ankunft erwartend. Einige horizontalliegende Felsschichten bildeten mit ihren vorragenden Enden, die wie grosse, spitzige, übereinander vorstehende Nasen aussahen und zum Luxus auch noch etwas überhingen, eine nicht gar hohe Wand.

Der Alte half mit diversen Handgriffen dem Peterli vorsichtig hinauf, nachdem auch er sich etwas betroffen gefühlt hatte; Peterli half mit dem Seil dem Papa, und dieser liess es zuletzt wieder mir hinab und bugsirte mich damit hinauf. Von da aus war der Gipfel leicht wie auf einer Treppe in wenigen Minuten erreicht. 20 Minuten nach 11 Uhr standen alle Drei endlich oben.

Der Gipfel bildet ein etwa 10'breites, 20-30'langes, ebenes, von schmalen, tiefen, sich kreuzenden Spalten durchzogenes Plätzchen. Vegetation erschien wie am ganzen durchkletterten Gebiete als seltene Ausnahme; nur ein ärmliches Exemplar Frühlingsenzian blühte da oben. Feuchtkalt blies der Wind, und die Eimer bauten ein Steinmannli, an dessen Fuss östlicher seits hinter einer Steinplatte die leere Flasche mit dem Zettel ruht. Wer meine Stimmung auf dem so mühsam errungenen, grausigen Gipfel erfahren will, den muss ich bitten, selbst hinzugehen und den Zettel zu lesen.

Wegen der vielen herumhängenden Nebel war die Aussicht nicht genussreich. Während die nächste Umgebung uns heute zur Genüge genossenen, nackten, verwitterten Fels bot, erschien in der Tiefe vor uns als wohlthuender Ruhepunkt für 's Auge das Dörfchen Elm, hinter ihm der schön geformte, aus üppigem Wald und prächtig grünenden Alpen sich erhebende Kärpfstock und nördlich von ihm alle wohlbekannten Glarnergebirge, alle diesen Morgen rein und blank gewaschen, darüber hin einige Urnerspitzen. Dunkle, dichte Wolkenmassen verhüllten

Tödigebirge und liessen nur den Hausstock, Ofen,

Laxer stock frei. 0 estlich stand die Kette bis zur fein geformten Ringelspitze frei vor Augen. Von den Bündnerbergen präsentirten sich nur die Silvrettagruppe mit dem Linard und meinem vorjährigen Reiseziel, dem Plattenhorn, deutlich, aber dicht verschneit. Von da an bis zur Oberalp war nicht ein einziger ordentlicher Gipfel frei von Wolken; nur die Sigainastöcke, so öde wie die unsrigen, und der Mundaun waren zu sehen. Der Einblick in 's grüne Savien und auf die Gegend der Waldhäuser nebst einigen andern solcher Kleinigkeiten machte den ganzen gehofften Genuss aus.

Das lose gebaute Steinmannli ward unterdessen fertig gemacht und zur Feier seiner Aufrichtung liess Eimer sich herab, von mir sogar etwas Schnaps, feinen Wachholder, zu betteln, meine Fürsorge wohlweislich anerkennend. Nach halbstündigem Aufenthalte, 10 Minuten vor 12 Uhr, traten wir den Rückweg an, vor dem ich entschieden Respekt hatte, in Erwägung alles luftigen und sehr mühseligen Auf- und Absteigens. Mit grösser Kaltblütigkeit und Behutsamkeit benutzten wir das Seil bis zum letzten Grat-risse. Bis zu diesem war es ein grenzenlos ausgesetztes Absteigen; besonders an jenem Punkte, wo auf einem Vorsprunge der Rückweg sich auf die Westseite wendet, schwebten wir fast ganz in freier Luft.

Die widrige Kaminfegerkletterei musste nolens volens wiederholt werden; worauf wir aber zum Heile unserer Körperkräfte bald den Proviant erreichten und eine „ glockenganze Viertelstunde " Mittagstafel hielten.

Männiglich stand bald wieder an der Felswand ob der eisigen Kluft; Peterli erkletterte sie mit Benutzung vorstehender Steine, Spalten, manueller und Steckenhülfe seines Papas und half mittelst des Seiles letzterm und dieser mir hinauf. Nachdem wir dann den Kopf vor uns zurückgeklettert und noch grössere Mühe vor uns sahen, suchten wir nach einem Ausweg, um sie und besonders die unsichern Schneehalden zu umgehen.

Wir hatten heute in diesem Fache entschieden genug geleistet und entschlossen uns, eine zu Füssen sich öffnende, dunkle, enge, gewundene, sehr steile und vom Durchpass verschiedener Gebirgsprodukte schön geglättete Kluft als nähern Rückweg zu probiren. Es fragte sich nur und war da oben nicht zu entscheiden, ob sie auf die grosse Südwand oder auf das Gufferband über derselben auslaufe. Am Seil kletterten wir mit allen möglichen Künsten hinab, je Einer auf Seillänge voraus, spionirend und kurz nach oben berichtend, bald der Eine, bald der Andere. Etwa in der Mitte der Schlucht stand Peterli fest unten, ich kam nach; wie aber der Papa folgen wollte, kam plötzlich aus den Höh'n ein Hagel von verschiedenkalibrigen Steinen auf uns zu. Nur dem augenblicklich befolgten Rufe Eimers: „ Das Gesicht an die Wand " verdankten wir es, dass das Getrümm bloss die Kleider streifte. Jetzt hiess es: „ Fort von hier, schnell, schnell hinab und aus dieser Falle hinaus !" Und bald erlebten wir die Freude, die Schlucht günstig münden zu sehen. Eine gute Stunde hatte sie uns aufgehalten. Auf zwar holperigem Pfade, doch ziemlich eben, gings nun links den Abgrund und rechts knapp an der Schneehalde vorbei, knapp neben uns dem Morgens zuerst betretenen Felsen zu. Wohl desshalb, weil uns heute an so mancher Stelle unerwartet der Durchpass gelungen war, wollte Eimer hier sogar auf einem Bändchen an der überhängenden* Wand zur Letze seinen Kopf noch gleichsam durch den Felsen zwängen, um nur nicht mehr aufwärts zu müssen. Es gelang ihm aber nicht, und er musste froh sein, mit ganzer Haut wieder zu und mit uns über den Felskopf zu kommen.

Die Schneehalde gegen den Ofen zu war nun bald wieder erreicht und anfangs vorsichtig begangen; nachher im lustigen Ritte durchsaust, lag sie bald langgestreckt hinter uns. Endlich waren wir nun wieder in Sicherheit und durften ruhig und ohne Sorge für 's Weiterkommen an die Sonne auf ein ebenes Rasenstück liegen, um den Schauplatz der heutigen Arbeit zu betrachten. Aber ich hatte so genug von Felsköpfen bekommen, dass mir schon das Aufblicken zu ihnen fast übel machte; um so gemüthlicher schlenderten wir über den Schnee hin zum Segnespass. Ein Gang dureh 's Martinsloch hatte keinen Reiz mehr und unterblieb auf Eimer's Bemerkung hin: „ Äch, mer müessted wieder chlättereAuch er hatte das gründlich satt. Waren wir Morgens im schlimmsten Wetter über die Passhöhe geflohen, so empfing uns jetzt wohlthuender, warmer Sonnenschein und stimmte uns Alle heiter. Die bestandenen Unsicherheiten gaben zu Spassen Anlass, und so kam 's, dass wir unter öfterem Umsehen zu -den Tschingeln nicht gar zu rasch abwärts kamen und erst etwas nach 6 Uhr wohlgemuth und zufrieden im Quartier in Elm eintrafen.

Redlich 16]/2 Stunden waren wir gegangen; aber einige Mal 16 Stunden weiter fühlten die hart mitgenommenen Glieder die Folgen dieser unaufhörlichen Felsen-umarmungen, welche die Tour vielleicht zu einer der anstrengendsten Bergfahrten gemacht hatten.

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