Geheimnisvolle Lebewesen
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Geheimnisvolle Lebewesen Ein Schweizer Forscherteam untersucht weltweit die Mikroorganismen in Gletscherbächen

Seit drei Jahren ist ein Forscherteam aus Lausanne auf den Gletschern der Welt unterwegs, um die Mikroorganismen zu untersuchen, die dort im Schmelzwasser leben. Ziel des Projekts ist es, diese Lebewesen zu dokumentieren, bevor sie wegen der Klimaerwärmung zusammen mit den Gletschern verschwinden.

Wir sehen sie nicht, wir kennen sie nicht, und bald werden sie verschwunden sein. Die Mikroorganismen in den Gletscherbächen erwartet ein tragisches Schicksal. Sie haben zwar nicht das Charisma von Orang-Utans oder Eisbären, doch sie stehen ebenfalls kurz vor dem Aussterben, wenn der Rückgang der Gletscher weiter andauert.

Bestandesaufnahme in extremis

Dem will ein Team der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) unter der Leitung von Professor Tom Battin nicht tatenlos zusehen. Die Forscher haben eine grosse internationale Expedition auf die Beine gestellt, um eine Art Panini-Album dieser für das blosse Auge unsichtbaren Organismen zu erstellen, bevor es zu spät ist. «Wir wollen den Bestand des mikrobiellen Lebens in diesen Ökosystemen erfassen, die gegenwärtig dramatischen Veränderungen unterworfen sind», erklärt der Professor für Umweltwissenschaften und Leiter des Labors zur Erforschung von Gewässerökosystemen.

Das Projekt mit dem Namen «Vanishing Glaciers» wird von der in Zürich ansässigen Stiftung NOMIS unterstützt und sieht die Entnahme von Tausenden Sedimentproben aus den Bächen unterhalb von rund 200 Gletschern auf der ganzen Welt vor. Das vierköpfige Forscherteam, das für die Sammlung der Proben verantwortlich ist, flog im Januar 2019 nach Neuseeland und setzte seine Arbeit danach in Grönland, im Kaukasus und in Ecuador fort.

Im Sommer 2020 waren die Forschenden auf den Gletschern Norwegens und in den Schweizer und in den französischen Alpen unterwegs. Im vergangenen Frühjahr nahmen sie sich den Himalaya vor, dann den Pamir, und bis zum Abschluss des Projekts im Jahr 2022 sind mehrere Expeditionen nach Alaska, in die Anden und nach Uganda geplant.

Das Sammeln der Sedimentproben – auf der Oberfläche von Sand und Steinen bilden die Mikroben eine dünne, schleimige Schicht, einen sogenannten Biofilm, – ist eine anspruchsvolle Aufgabe für die Wissenschaftler. Die meisten Gletscher erreichen sie nur zu Fuss, zum Teil in tagelangen Anmärschen. Dabei ist es nicht einfach, mit einem Behälter flüssigen Stickstoffs auf dem Rücken über Andenpfade zu wandern oder sich im Kaukasus mit alten sowjetischen Karten aus den 1970er-Jahren zurechtzufinden.

Die DNA ist der Schlüssel

Bei jedem Gletscher werden 90 oder mehr Proben entnommen. «Die Kunst besteht darin, die Kühlkette zwischen der Entnahme der Probe im Gelände und ihrer Ankunft im Labor nicht zu unterbrechen», erklärt Tom Battin. Die Proben werden deshalb sofort in flüssigen Stickstoff gelegt und rechtzeitig per Spezialkurier ins Labor geschickt.

In den Gefrierschränken der EPFL lagern die Proben dann bei -80°C, um sie später verschiedenen Analysen zu unterziehen. Insbesondere wird die DNA der Biofilme extrahiert und sequenziert, wobei das Genom der verschiedenen Mikroorganismen entschlüsselt wird. «Wir wollen verstehen, wie sich dieses mikrobielle Leben über Tausende, ja Millionen von Jahren an die extremen Bedingungen anpassen konnte», sagt Tom Battin. Tatsächlich wimmelt es in den Gletscherbächen trotz Kälte, intensiver UV-Strahlung und Nahrungsmangel von Leben. «Ein Teelöffel Sediment enthält Millionen von Bakterien», schätzt der Wissenschaftler. «In Wahrheit sind das regelrechte mikroskopisch kleine Urwälder.»

Das Forschungsprojekt untersucht auch die Biogeografie der Mikroorganismen, um festzustellen, ob in allen Gletscherbächen der Welt dieselben Lebensformen vorkommen. Aufgrund der ersten Ergebnisse scheint genau dies der Fall zu sein. «Die Hinweise deuten möglicherweise auf ein Core-Mikrobiom hin, das für das Leben in diesen Umgebungen hoch spezialisiert ist», also eine Gemeinschaft von Mikroorganismen, die in der gleichen Umgebung leben, erklärt der Luxemburger Wissenschaftler.

Vielversprechende Mikroben

Doch sind diese Mikroorganismen abgesehen vom rein wissenschaftlichen Interesse diesen enormen Aufwand wirklich wert? «Auf jeden Fall», sagt der Spezialist für Gewässerökologie. «Die Mikroorganismen orchestrieren die wesentlichen biogeochemischen Kreisläufe auf unserem Planeten.» Obwohl die Mikroben in den Gewässern der Gletscher noch wenig erforscht sind, spielen sie in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle.

Auch die breite Öffentlichkeit könnte von einem besseren Verständnis dieser Lebensformen profitieren. «Kryomikrobiologen suchen beispielsweise nach Enzymen, die bei sehr niedrigen Temperaturen aktiv sind und deshalb bei industriellen Prozessen wie zum Beispiel in der Wäschereinigung oder in der Papierherstellung nützlich sein könnten», erklärt der Forscher. «Das könnte bedeutende Energieeinsparungen erlauben.» Bei der Nutzung solcher Potenziale spricht man von Bioprospektion.

Mikroorganismen aus sehr naturnahen und sehr abgelegenen Ökosystemen könnten auch zur Entwicklung neuer Antibiotika beitragen und eine Schlüsselrolle im Kampf gegen antibiotikaresistente Bakterien spielen. Die Möglichkeiten, die die Forschung «an der Schnittstelle zwischen mikrobieller Ökologie und Biotechnologie» erschliessen kann, sind zahlreich. Aber der Prozess ist zeitraubend, und derweil tickt die Uhr. «Wir untersuchen derzeit das genetische Repertoire dieser Bakterien. Es ist erstaunlich, aber auch sehr frustrierend», sagt Tom Battin. «Wir sind kaum in der Lage, die Hälfte der Gene zu benennen, und schon bald werden diese Organismen verschwinden.»

Autor / Autorin

Martine Brocard

Überraschende Vielfalt

Professor Tom Battin und sein Team von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) hatten nicht erwartet, dass die Lebensformen in Gletscherbächen so zahlreich sind. «Wir haben eine viel grössere Vielfalt an Bakterien und Algen vorgefunden, als wir uns vorgestellt hatten», sagt der Luxemburger Forscher. Aufgrund der Proben, die an den ersten 100 Gletschern entnommen wurden, konnten nicht weniger als 40 000 Sequenzen identifiziert werden – bei Bakterien spricht man nicht von Arten.

Nach und nach geben diese mikroskopisch kleinen Lebewesen unter dem Neonlicht des Labors für Gewässerökologie ihre Geheimnisse preis. So konnten die Wissenschaftler etwa feststellen, dass sich einige Bakterien von Kohlenstoff ernähren, andere von Eisen und wieder andere von Nitraten. In diesem Bereich gibt es noch viel Arbeit. «Wir wissen inzwischen viel über die Rolle der Ozeane und der grossen Urwälder im globalen Kohlenstoffkreislauf, aber sehr wenig über die kleinen Fliessgewässer der Gletscher», erklärt Battin. «Letztere sind aber in diesem Zusammenhang unglaublich wichtig. Sie sind gewissermassen die Blutgefässe der alpinen Landschaft.»

Feedback