Grundlawinenstudien II
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Grundlawinenstudien II

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Von F. W. Sprecher ( Sektion Piz Sol ).

Im Jahrbuche S.A.C. XXXV habe ich meine bis zu jenem Zeitpunkte reichenden Beobachtungen und Studien über die Gestaltung der Bahn und die Bewegungsart einiger Grundlawinen des Taminathales veröffentlicht und denselben auch ein Verzeichnis einiger auf Lawinen bezüglichen Publikationen beigefügt. Seither suche ich dieses Verzeichnis zu vervollständigen durch Aufnahme aller irgendwie wertvollen Notizen, größeren Abhandlungen etc. über den genannten Gegenstand, die bisher erschienen sind. Als ein teilweises Ergebnis dieser Aufgabe führe ich unten 1 ) eine weitere Reihe von Werken über Lawinen oder andere verwandte Erscheinungen an, von denen besonders die ersten drei angeführten, weil originell und meinen Beobachtungen über Grundlawinen am besten entsprechend, hervorgehoben seien. Aber auch in den citiertenLitteratur zur Kenntnis der Lawinen:

Hörmann, Lud. von, Die Jahreszeiten in den Alpen. Innsbruck 1889.

Röder und Tscharner, Der Kanton Graubünden, historisch, geographisch, statistisch geschildert. 1838.

Hegetschweiler, Joh. von, Reisen in den Gebirgsstock zwischen Glarus und Graubünden in den Jahren 1819, 1820, 1822. Zürich 1825.

Über Lawinen. Aufsatz in den „ Davoser Blätter " XXVIII, 15 und 16.

Biselx, Von dem Schnee, den Gletschern und Lawinen der Alpen. ( Gilberts Annalen der Physik LXIV, 183 ff. ) Penk, Dr. Albr., Morphologie der Erdoberfläche.

Günther, Dr. Sig., Handbuch der Geophysik, 1899.

Ratzel, Dr. Friedr., Die Schneedecke, besonders in den deutschen Gebirgen. 1889.

Pollak, Über die Mechanik des Lawinensturzes. Vortrag 1894.

Stichler, Alpenlawinen und deren Abwehr. ( Mitteilungen des D. & Ö.A.V. 1885, 4. ) Landolt, Die Bäche, Schneelawinen und Steinschläge etc. Zürich 1887.

Berlepsch, H. A., Die Alpen in Natur- und Lebensbildern, pag. 107 ff.

Brügger, Dr. Ch., Aus der Naturgeschichte der Schweizerberge ( Neue Zürcher Zeitung, 3. bis 12. Februar 1863 ).

Guler, Joh., Raetia. Zürich 1616.

Tscharner, P. Conr. von, Wanderung durch die rhätischen Alpen. Zürich 1829, 2 Bde.

Dufour, Ch., Über den Einfluß der Witterung auf das Abfahren der Lawinen ( Compt. rend. des sc. de l' Acad. des sciences, Bd. 87, 1878 ).

Werken sind infolge mangelnder Beobachtung nur vereinzelte oder ungenaue Angaben über die für das praktische Leben so wichtige Mechanik des Lawinensturzes enthalten, weshalb Sig. Günther in seinem Handbuche der Geophysik ( II, 1899, Seite 723 ) mit Recht sagen konnte, daß in dieser Hinsicht noch vieles unerforscht sei, welche Bemerkung nach meiner Ansicht auch noch auf andere Gebiete der Lawinenkunde, z.B. die Ursachen, Arten der Lawinen und ihr Einfluß auf die Bodengestaltung, auszudehnen ist. Dieser Mangel veranlaßt mich, die Beobachtungen und Studien, die ich im Frühjahre 1901 und seither über den erstgenannten Gegenstand machte, als Fortsetzung meiner Arbeit vom Jahre 1900 an dieser Stelle weiteren Kreisen mitzuteilen.

1. Die Latleue.

( Vgl. Jahrbuch S.A.C. XXXV, Seite 285. ) Am 5. April 1901 — ich war eben am Vortage für kurze Zeit in die Osterferien heimgekehrt — beobachtete ich vom Dorfe Vättis aus im Lawinenzuge der Latleue eine mittelgroße Grundlawine, die von den obersten Felsen des Calanda herkam und wahrscheinlich infolge des sonnigwarmen Wetters losgebrochen war. Die schwere Masse bewegte sich, von weitem gesehen, schlammstromartig über die obersten Terrassen, Fälle und Kehlen, und stürzte, ganz in Knollen aufgelöst, in schönem Bogen und mit donnerndem Geräusche, das durch den Wiederhall der Felsen noch bedeutend verstärkt wurde, über den obern großen Fall in die enge, aber steile Felsschlucht, wie sie am oben angegebenen Orte bereits beschrieben wurde. Daraufhin scheint alles beruhigt zu sein. Aber nach cirka drei Minuten regt sich wieder etwas am Ausgange der Schlucht über dem mittleren Falle — eine dicke, schmutzig gelbe Masse wälzt sich wirbelnd und wogend in dicken Knollen über den mittleren Fall, an dessen Fuß die Knollen zerschellen. Noch ist des Bleibens nicht. Nachdem genügend Material nachgestürzt ist, geht der Schneestrom über Terrassen und Fälle weiter, jetzt aber mehr einem Geröllstrom ähnlich und stets von lautem Krachen begleitet, welches jedoch von dem über den mittleren Fall nachstürzenden Schnee herrührt. Das schönste Schauspiel bietet die Leue am untersten Fall, wo die lebendigen Massen nicht frei durch die Luft stürzen, sondern, auf eine breite Felsfläche verteilt, hinabwallen und als weißstäubende Kaskade von einigen Vorsprüngen mitten in der Wand und an deren Fuße in weitem Bogen in die Luft hinausgeworfen werden, um sich in der Bachrunse des Schuttkegels wieder zu sammeln und langsam, übereinander hindrängend, gegen das Thal vorzustoßen. Als ich die Ablagerungen der Lawine des andern Tages besuchte, fand ich die genannte Bachrunse am Fuße des Falles größtenteils mit grobknolligem Schnee in Form einer Lawinenzunge ausgefüllt, welche, der Runse auf dem Schuttkegel folgend, einen kleinen Bogen beschrieb. An der konvexen Seite desselben bemerkte ich eine längere, gleichlaufende, cirka 20 Meter lange und am obern Rande des Durchschnittes 10 Centimeter breite Spalte ( siehe Taf. I, Fig. 1 ), die sich gegen die Tiefe zu verengte und einwärts bog. Die Wände dieser Spalte waren mit feinkörnigem Schnee hart und glatt ausgestrichen und mit der in der Stromrichtung verlaufenden charakteristischen Streifung versehen, während der von der Spalte weiter entfernte Schnee, wie aller übrige, knollig war. Die Erklärung dieser Erscheinung ergiebt sich aus der genauen Beobachtung des Ablagerungsvorganges. Die ersten abgestürzten Massen bleiben in der nur schwach geneigten Runse liegen. Der nachfolgende Schnee dringt bei größerer Menge in geschlossenen Massen darüber weiter vor, schürft dabei die Unebenheiten der bereits vorhandenen und ruhenden Schneeunterlage ab, sich darin eine im Durchschnitt mehr oder weniger ovale Rinne ( Strombett ) eingrabend, und füllt zugleich die Vertiefungen derselben aus. Noch mehr. Durch den Druck der auf die Reibungsfläche wirkenden Masse wird der am Boden und den Seitenwänden der Rinne ausgestrichene Schnee in dieselben hineingepreßt und zu einer kompakten, harten und glatten Wand, der Gleit- oder Rutschfläche ( des Strombettes ), mit Streifung stromabwärs, modelliert. Auch an der Unterseite des über diese Gleitfläche hinziehenden Schneestromes werden die Unebenheiten in gleicher Weise abgeschliffen, und die Reibungsfläche zu einer harten und glatten Gleitfläche ( des Stromes ) ausgepflastert. Diese harte Zusammenpressung und Verfestigung des Schnees durch Druck und Reibung, bei der ohne Zweifel auch eine partielle Verflüssigung durch Druckschmelzung und nachheriges plötzliches Wiedergefrieren der am nächsten beteiligten Massen mitspielt, ist die Ursache, daß der Schnee dieser Partien auch bei der weiteren, aber immerhin nur langsamen und kurz dauernden Fortbewegung fest aneinander haftet und in dieser Form auch in dem zur Ruhe gekommenen Lawinenkegel bestehen bleibt, während die un-gepreßten Knollen sich frei gegeneinander verschieben und an der Oberfläche, an den Seitenrändern und an der Spitze der Lawinenzunge übereinander hinrollen. Anders ist die Entstehung und das Fortbestehen dieser Schneekluft wohl nicht zu erklären. Damit ist diese Erscheinung ein weiterer Beleg für meine schon früher 1 ) konstatierte Beobachtung, daß größere oder kleinere, aber plastischen Schnee führende Lawinenmassen, als Ganzes betrachtet, in liegender Bahn immer gleitende Bewegungen ausführen, welches Gleiten auf jeder noch so unebenen Unterlage durch sofortige Auspflasterung derselben und Bildung einer aus der schon vorhandenen Bahn, dem selbst abgelagerten Schnee oder aus beiden Teilen selbst geschaffenen Rinne ermöglicht wird.

Sprecher, F. W., Grundlawinenstudien. Jahrbuch S.A.C. XXXV.

Wenige Meter oberhalb dieser Spalte ragt ein Felskopf ( Taf. I, Fig. 1 rechts ) gegen die Bahn vor, unterhalb welchem die ersten und mächtigsten der abstürzenden Lawinenhaufen Schnee liegen gelassen und auf der dem Strom zugekehrten Seite in der auf beigegebener Skizze angedeuteten Weise ausgeglättet haben. Die über dem untersten Fall befindliche, wenig geneigte Bachrunse, welche ich nachher besuchte, war ähnlich wie das Bachbett der Vidameida ( Jahrbuch S.A.C. XXXV, Taf. III, Fig. 9 ) zu einer Rinne mit hart und glatt ausgestrichenem Boden und Seitenwänden hergerichtet. Von Flußgeröllen, selbst größeren Felsstücken, die sich in der Bahn befinden, war nichts mehr zu sehen. Die Rasenhänge an den Bachufern waren an den hervorragenden Stellen abgeschürft und damit die folgenden Unebenheiten der Bahn ausgepflastert und der Lawinenschnee beschmutzt worden.

Am 8. April nachmittags stürzte in der gleichen Bahn eine neue, etwas größere Grundlawine nieder, die sich auch etwas weiter über die Bachrunse des Schuttkegels, und da und dort über deren Ränder aus-tretend, fortbewegte. Auch diese Lawine hatte sämtlichen schweren ( Grund-)Schnee zu Knollen geballt. Des folgenden Tages untersuchte ich die Bahn und Ablagerungen von neuem. Von der Gleitspalte am Fuße des untersten Falles war nichts mehr zu sehen, da mit der Ausfüllung der gebogenen Bachrunse der Bogen selbst verschwunden, und die Lawine darüber hin eine geradlinig fortschreitende Bewegung ausführen konnte, bei welcher die Massen nicht mehr in ein schmales Bett eingeengt, sondern über den früheren Ablagerungen sich frei verteilen konnten. Zudem ist nicht zu vergessen, daß anfänglich gebildete Gleitspalten und Gleitflächen von nachfolgenden, anders bewegten Lawinenmassen leicht wieder ausgefüllt oder verdeckt werden können. Die Felswand des Falles ist an den vorragenden Stellen überall noch mit Schnee verkleistert, der aber durch die Wärme der Felsen rasch wieder weggeschmolzen wird. Die oben erwähnte Runse oberhalb des untern Falls zeigte erhöhte Seitenränder; die kleinen Buchen, die beim letzten Lawinensturze noch stehen blieben, waren von der gestrigen größern Lawine auch ergriffen, nach unten umgebogen und im Schnee so eingebettet worden, daß noch die der Rinde beraubten Äste einer Seite hervorschauten. An den seitlich hervorstehenden Felsköpfen zeigt sich dieselbe Erscheinung, wie oben beim untersten Fall erwähnt wurde. Der ausgeglättete Bahnboden ist so hart, daß ich mit meinen Bergschuhen kaum einen bemerkbaren Eindruck hinterlasse. In der ganzen prachtvoll modellierten Bahn zwischen dem untern und mittlern Falle sind nur vereinzelte rundliche Schneeknollen zurückgeblieben, die über Nacht an den Boden angefroren sind. Nachdem ich seitwärts am Berg emporgedrungen war, betrachtete und beging ich auch die von engen Felswänden eingefaßte, vom mittlern zum obern Falle sich hinziehende Schlucht, deren unterste Teile wegen mehreren senk- rechten, 5 bis 10 Meter hohen Abstufungen im aperen Zustande nicht zu begehen sind. Heute aber waren alle diese Unebenheiten ( auf die im Jahrbuch S.A.C. XXXV, Taf. III, Fig. 3, angedeutete Art ) ausgestrichen, wobei an den engsten Stellen überall die Form eines ausgehöhlten „ Kännels " mit größerm Gefalle über Stufen, mit geringerm Gefälle über Terrassen, aber stets mit hart und glatt ausgestrichenem Boden und Seitenwänden, gewahrt ist. So wurde es mir möglich, ohne Bergstock vom mittlern bis zum obern Falle durch die Schlucht hinaufzudringen. Den Durchschnitt durch den angeführten Kännel, das heißt durch den darin abgefahrenen Lawinenstrom, schätzte ich an den durch das Zusammentreten der Schluchtwände engsten Stellen auf 50 bis 60 Quadratmeter. An den vorspringenden Partien des felsigen Untergrundes ist die Verpflasterungsschicht bald sehr dünn, bald gar nicht vorhanden. In dem mittlern und obern Teile ist der Schluchtboden zu einer im horizontalen Durchschnitte ebenen, im vertikalen Durchschnitte etwas großwelligen Fläche ausgestrichen, und sind oberhalb der Wellen überall kleinere Schneegerölle liegen geblieben, so daß bei der Betrachtung von oben die ganze Bahn von solchen bedeckt zu sein scheint, während ein Anblick von unten keine Schneegerölle zeigt. Bei der nähern Untersuchung der Bodenpflasterung fällt mir heute, was ich bisher noch nie so klar gesehen, ein eigentümliches Mosaikbild auf. Überall wird der Boden gebildet von kleinern Schneegeröllen im Durchmesser von 1 bis 30 Centimeter, deren obere Hälfte vom darüber weg-ziehenden Schneestrome abgerieben und zur Ausfüllung und Verkittung der Zwischenräume verwendet worden ist. Da das Gefälle der Bahn in dieser Gegend cirka 40 Grad beträgt, so reichte hier der Druck der Lawine auf die Unterlage nicht aus, um die Schneegerölle zu zerdrücken, wie ich es an den Stellen stärkerer Pressung gesehen habe.

Man darf nun nicht glauben, daß die eben beschriebene Auspflasterung der Felsschlucht durch die Grundlawinen des Frühlings allein zu stande kam. In erster Linie arbeiten, wie ich es schon vor zwei Jahren betonte und diesen Winter 1902 wieder beobachten kann, die zahlreichen, wir können beinahe sagen, zahllosen Staub- und Grundlawinen des Winters, die schon vom November und Dezember an bald mehr, bald weniger weit durch die Schlucht herunterfahren. Den größern, bis in den Thalboden abfahrenden Grundlawinen verbleibt nur die Ausglättung der vorher unregelmäßig abgelagerten Massen und der untersten, von letztern nicht erreichten Teile der Bahn. So wird beinahe jede folgende, auch kleinere Grundlawine bei einigermaßen plastischem und daher leicht beweglichem Schnee gezwungen, die ganze Bahn bis zum Thale durchzufahren. Zum Glück ist das Sammelgebiet der Latleue nur klein und dem Föhn stark ausgesetzt, der meist schon im Winter einen großen Teil des frisch gefallenen Schnees wegbläst, und auf diese Weise oder durch Anhäufung von Gwächten unschädliche Staublawinen veranlaßt, und damit das Material zu größern Grundlawinen, welche die Kulturen und das Dorf Vättis selbst gefährden könnten, vorwegnimmt.

2. Die hintere Breitägertenleue.

( Vgl. Jahrbuch S.A.C. XXXV, Seite 279. ) Diese Leue war schon Anfang April 1901 als Grundlawine bis auf den Schuttkegel des Thales abgefahren und hatte dort einen gewaltigen Haufen schweren und grobknolligen Schnees abgelagert. Die meisten Gerölle besaßen eine mehr als durchschnittliche Größe, viele sogar einen Durchmesser von 1 bis 2 Meter. Einige waren aus zahlreichen kleineren Schneegeröllen zusammengesetzt, bald mehr rundlich, bald eckig, bald in wunderliche Klumpen geformt. Aber sowohl der Schnee der Gerölle als auch die Ablagerung der letztern war lose, so daß ich bei meiner Wanderung über und zwischen diesen abenteuerlichen Knödeln hindurch oft tief einsank. Als besondere Merkwürdigkeit fand ich im Lawinenkegel mehrere in der Stromrichtung verlaufende, nebeneinander, beziehungsweise wie der Lawinenkegel, divergierende Schründe. Einer derselben war stellenweise 1 bis 2 Meter breit, bis zu 3 Meter tief ( senkrecht ) und cirka 20 Meter lang ( vgl. Taf. I, Fig. 2 ) und zeigte ausgeglättete Seitenwände. Diese Schründe waren zweifelsohne nur Verschiebungsklüfte, die während der Ablagerung der langsam zur Ruhe kommenden Lawinenmassen in ähnlicher Weise wie die oben beschriebenen Gleitspalten der Latleue entstanden und wiederum beweisen, daß die Massen als Ganzes sich bewegten und nur eine geringe Verschiebung der einzelnen Teile ( Gerolle ) untereinander zeigten. Von der letztern zeugt ein über der genannten größten Verschiebungskluft liegender und als Brücke dienender rundlicher, kombinierter Knollen von ungefähr 1 Meter Durchmesser, der sich erst während oder nach der Bildung der Kluft über diese legen konnte; ferner die am Außenrande des Lawinenkegels zerstreut liegenden Knollen, die bei der langsam abnehmenden Bewegung des Lawinenkegels über dessen Außenrand hinunterstürzten.

3. Die St. Liehardsleue.

Der steile Lawinenzug dieser Leue grenzt unmittelbar südlich an denjenigen der Latleue an. Das Sammelgebiet liegt in der obern, von kahlen Felswänden und steilen Rasenbändern überragten Waldregion, aus welcher im Winter und Frühjahre bis zur Zeit der definitiven Schneeschmelze zahlreiche kleinere Staub- und Grundlawinen losbrechen. Die Sturzbahn wird gebildet durch eine sehr steile und nur wenig vertiefte Bachrunse, die aber nur während der Schneeschmelze oder bei Regenwetter Wasser führt, in der untern Hälfte in freiem Falle über eine hohe Felswand, die sogenannte „ Chöpf, auf Vorsprünge derselben, und von diesen zur Seite geworfen, auf eine sehr steile Schutthalde hinunterstürzt. Beim letztern hohen Falle entwickelt die Leue immer ein besonders laut kreischendes Geräusch, aus dem allein man dieselbe schon aus der Ferne sofort erkennen kann. Die Lawinenmassen bleiben fast immer in Form von schmutzigen Schneegeröllen an der erwähnten Schutthalde liegen oder fahren auch zuweilen seitwärts in den nebenstehenden Tannenwald hinein. Am 5. April 1901 fand ich hier als Unterlage weißen, feinen und weichen Schnee, der ohne Zweifel schon im Winter über die schneebedeckte oder gefrorene Bahn abgestürzt war und deshalb auch wenig accessorische Unreinigkeiten ( siehe das Folgende ) mitreißen konnte. Darüber lag knolliger Schnee mit angeschmolzenen Schneegeröllen. Auf diesem wieder schlängelte sich ein schmutziger Strom von grobem Schneeknollen hin. Der Schmutz bestand aus Erde, Gesteinsstücken, Zweigstücken von Lärchen, Föhren, Nadeln von Bergföhren, Lärchen, Tannen, Fichten; ferner aus Moos, Gras, Farn, Zweigen und Blättern von Alpenrosen und Bärentrauben, welche mir die Herkunft dieser Lawine aus den obersten Teilen des Sammelgebietes und den Abbruch der Lawine von dem aperen Boden bewiesen. Am 10. Dezember des laufenden Winters 1901/1902 fuhr hier die erste in diesem Winter im Taminathal beobachtete Staublawine, die sehr wahrscheinlich mit einer Föhngewächte losgebrochen war, bis zum Thalgrund nieder. Da sie aber leichten, weil lockeren Schnee führte, verursachte sie keinen Schaden. In der Nacht zum 3. Januar 1902 folgte die erste größere, bei Regenwetter entstandene Grundlawine dieses Winters, welche schmutzigen, schweren Schnee in Form von Schneegeröllen bis gegen die Güter herunter trug. Nach wiederholten Schneefällen folgten wieder Staub- und Grundstaublawinen, und am Abend des 2. April 1902 eine außergewöhnlich große, durch gleichzeitigen Abbruch einer größern, cirka 2 Meter dicken Schneeschicht des Sammelgebietes entstandene Grundlawine 1 ).

4. Der krumme Leuezug.

( Vgl. Jahrbuch S.A.C. XXXV, Seite 280. ) Durch diesen Lawinenzug waren bis Anfang April 1901 schon mehrere kleinere und größere Grundlawinen mit grobknolligem, gelblich schmutzigem Grundschnee bis zur Tamina heruntergestürzt. Am Morgen des Ostermontag, 9¼ Uhr, nachdem es auch in der Höhe die ganze Nacht über und am Morgen in Strömen geregnet, höre ich auf meinem Zimmer, während es eben zur Kirche läutete, Lawinendonner; ich eile ans Fenster und sehe noch über dem genannten Lawinenzuge eine hohe StaubwolkeÜber diese soll später, voraussichtlich an anderer Stelle, Näheres berichtet werden.

lagern, welche mir den Niedergang einer mächtigen Grundlawine verkündete. Nach dem Gottesdienste, cirka 11 Uhr, begebe ich mich trotz des fortwährenden Regens hinaus auf Gaspus, und sehe an den ab-geschürften Lawinenresten, daß die Leue in den obersten Grasplanggen der Alp Guaggis in gewaltiger Breite losgebrochen war und sich noch an den vorstehenden Felsköpfen teilte, so daß die eine Hälfte der Lawine durch die gewöhnliche Bahn, die andere Hälfte über das Guaggissäßli sich wieder mit der ersteren vereinigte, auf diesem durch Legföhren bewachsenen Wege durch Reibung und Luftdruck eine Menge Schneestaub entwickelte, im weitern aber dem gewöhnlichen Wege bis in die Tamina folgte, so daß der gelblich schmutzige, aber immerhin prächtige, durchweg aus groben Schneegeröllen bestehende Lawinenkegel die ganze Bahn, vom untersten, am Wege auf den Gnapperkopf befindlichen Palle bis zur Tamina, bedeckte. Bemerkenswert ist bei dieser Lawine die Ursache: Regenwetter im Abbruchgebiet und dadurch verursachtes Auftauen des Untergrundes; ferner die Staubbildung beim Absturze, trotzdem das Lawinenmaterial nur aus schwerem Grundschnee bestand.

5. Die Zügdohlenleue.

( Vgl. Jahrbuch S.A.C. XXXV, Seite 272, Tab. ) Über diese Lawine habe ich im gegenwärtigen Winter 1901/1902 eine interessante Beobachtung gemacht. Bekanntlich fiel schon im Vorwinter, November und Anfang Dezember, im Gebirge ziemlich viel Schnee. In den letztern kam vom 10. bis 12. Dezember 1901 ein starker, gwächten-bildender Föhn mit abermaligem Schneefall in den Höhen, welcher am 12. Dezember das Losbrechen einer Lawine zur Folge hatte. Mehrere Augenzeugen berichten, daß es eine Staublawine gewesen sei, welche bis zum Görbsbache niederfuhr. Am 4. Januar 1902 besuchte ich diese Gegend und sah folgendes. Auf dem steilen Waldhang in der untern Hälfte des Lawinenzuges, der schon vor Jahren, z.B. im Winter 1888/89, seines Hochwaldes beraubt, unterdessen aber wieder von nachgewachsenen Buchen und Tannen bekleidet wurde, schlängelte sich eine wenigstens 400 Meter lange, aber durchweg nur 5 bis 10 Meter breite und höchstens 3 bis 4 Meter hohe Lawinenzunge bis gegen den Rofanetschliweg herab. Anzeichen einer niedergefahrenen Staublawine, welche offenbar nur wenig und leichten pulverigen Schnee mitgeführt hatte, waren nirgends mehr zu sehen. Bei genauer Prüfung erkenne ich, daß die Lawinenzunge überall der kleinen Bachfurche folgt und an deren Ufern durchweg einen bis 3 Meter hohen Wall zurückgelassen, dessen innere Wände geglättet, dessen Außenwände aber aus Schneegeröllen aufgebaut hatte. Nur am untern Ende der Zunge war der Schneestrom als längliche, im Durchschnitt kompakte, dammartige Masse stehen geblieben, die an der Spitze die größte Mächtigkeit besaß. Die angedeuteten Uferränder, welche von den jeweilen an der Spitze des Schneestroms befindlichen Massen gebildet wurden, faßten so einen Kännel ein, durch welchen aller folgende Schnee leicht dahingleiten und die für eine so geringe Schneemasse abnorme Länge der Lawinenzunge erzeugen konnte. Das junge Gehölze, das in der Lawinenbahn stand, wurde kurzerhand umgeknickt, zum Teil zerbrochen und im Schnee eingebettet. Nach dem Durchgange der Lawine erhob sich aber manche Pflanze wieder. An einigen Stellen beachtete ich, daß selbst kleinere, in der Bahn abgelagerte Lawinenmassen im stande waren, den nachfolgenden Schneestrom — denn besser läßt sich diese Art der Bewegung nicht bezeichnen — zur Seite zu lenken oder in zwei Arme zu teilen. Trotz des Neuschnees, der noch den größten Teil der Ablagerung bedeckt, konstatierte ich doch, daß die Lawinenzunge durchweg aus Schneegeröllen bestand, deren Durchmesser zwischen 1 bis 30 Centimeter variierte. Zwar hat sich während der drei Wochen seit Abfahrt der Lawine durch Anschmelzung und Wiedergefrieren eine etwas härtere Rinde um dieselben gebildet, innerhalb welcher aber der Schnee heute noch sehr weich ist und mit der Hand leicht zu einem Gefäße ausgehöhlt werden kann. Aber auch die Verpflasterung des Bodens und der Seitenränder ist — weil die Pressung infolge der geringen Masse und der Leichtigkeit des Lawinenschnees und des bedeutenden Gefälles, wenigstens im obern Teile der Bahn, nur eine schwache war — mit Ausnahme einiger vorstehenden Partien sehr weich, und sinke ich fast durchweg fußtief darin ein. Dieser weiche Zustand des Schnees ist ohne Zweifel die Ursache gewesen, daß sich die Lawine trotz geringer Mächtigkeit so weit fortbewegen konnte.

In welcher Beziehung steht nun diese Erscheinung zu der sie laut Beobachtung durch glaubwürdige Personen 1 ) begleitenden Staublawine? Antwort: Der frisch gefallene Schnee, der oben an den glatten Rasen-und Felshalden des Simel — ob durch Abbruch einer durch heftigen Föhn gebildeten Gwächte oder infolge anderweitiger mangelnder Kohäsion mit der Unterlage, bleibt für unsere Erklärung gleichgültig — in Bewegung kam, fand auf seiner Thalfahrt einen, aber geringen Luftwiderstand, der die obersten Teile des noch in voller Krystallform befindlichen, daher lockern und leichten Schnees von dem auf dem festen Boden abfahrenden Materiale abschürfte 2 ), in die Lüfte hob und so die Staublawine erzeugte, welche durch immer neu hinzugesellten Staub sich bis zur Ankunft im Thale vergrößerte. Ihre geringe Mächtigkeit, der voluminöse Zustand und das hieraus resultierende geringe specifische Gewicht des Schnees verünter diesen befand sich auch Kreisförster R. Jäger. 2 ) Dieser Vorgang kann am besten verdeutlicht werden dadurch, daß man von unten in einen auf schiefer Ebene abfließenden Mehlstrom bläst.

228.F. W. Sprecher.

zögerte die Schnelligkeit der Bewegung sowohl der Staub- wie der Grundlawine, erzeugte dadurch eine nur schwache Pression der Luft 1 ), weshalb die Staublawine auch keinen Schaden verursachte, trotzdem dieselbe den Wald berührte und stellenweise sogar in denselben hineinfuhr 2 ). Der Schneestaub derselben verteilte sich auf die Umgebung und fiel in Form eines feinen Sprühregens zur Erde und auf deren Schneedecke, ohne weitere Merkmale seiner Herkunft zurückzulassen. Der auf dem Boden der Bahn abfahrende Schnee ( der Grundlawine ) war einer stärkeren Reibung der einzelnen Teile unter sich und mit dem Boden ausgesetzt und dadurch Wärme erzeugt. Durch Reibung und Wärme hinwieder wurde die voluminöse Krystallstruktur des Schnees zertrümmert, das Volumen vermindert und die Plasticität desselben erhöht, wie ich schon in meiner früheren Abhandlung 3 ) betont habe. Das vermehrte specifische Gewicht erhöhte wieder die Geschwindigkeit der Bewegung, welche durch die fast durchweg gleichförmigen ( geradlinige Bahn und konstantes Gefälle ) Terrainverhältnisse der Sturzbahn nur wenige Abänderungen erlitt. Die Geschwindigkeit wirkte wieder rückwärts fördernd auf die Reibung und Wärme, welche schließlich aus dem sehr kalten und lockern Schnee die oben beschriebenen Schneegerölle zu bilden vermochte. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Bahn fast durchweg gleichmäßiges Gefälle und nur einen einzigen niedrigen „ Fall " ( Stufe, Absturz ) besitzt, weshalb die Reibung mit der Luft, die daraus resultierende Abschürfung vom Schneestrom und Bildung der Staublawine, relativ gering ist. Bei größern oder einer vermehrten Anzahl von Abstürzen durch die freie Luft würde der größte Teil dieses Schnees sich in frei schwebenden Schneestaub aufgelöst haben, und die Staublawine sowohl wie ihre weiteren Folgen ganz andere geworden sein.

Bei meinem Aufstieg durch den oben beschriebenen Lawinenkännel bemerkte ich frisch abgelagerte Schneemassen, die von einer zweiten, nach Augenzeugen zwei Tage vorher niedergefahrenen Lawine herrührten. Da aber deren Masse nur gering war, mußte sie notgedrungen dem von der vorausgegangenen Lawine präparierten Kännel folgen, bis ihre Stoßkraft ausgegangen war. Der wie frisch in loco gefallene reine, weiche und in dickern Schichten wunderschön azurfarbene Schnee dieser Lawine befand sich bezüglich der Konsistenz in einem eigentümlichen, zwischen dem dichten, homogenen und dem knolligen, gelockerten Zustande; die Schneegerölle waren eben in der Bildung begriffen, als die Lawine zur Ruhe kam, und stellten bald längliche, linsenförmige, bald kugelige, rundliche, kantige Klöße von der Härte eines aus frisch gefallenem FlockenÄhnliche Fälle habe ich diesen Winter 1902 an anderen Orten, z.B. an der hintern Brcitägertenleue, direkt beobachtet.

2; Vergl. damit: Sprecher, F. W., Staublawinen ( Neue Zürcher Zeitung, Beilage zu N° 75, 1902 ).

schnee herausgegriffenen und wenig zusammengedrückten Schneeballs dar. Wäre die Schneemasse der letzten Lawine jener der vorausgegangenen Lawine auch nur gleich gekommen, dann wäre nicht bloß die Schnelligkeit derselben durch die Benützung der bereits präparierten Bahn, sondern auch die Pression der Luft, die dadurch erzeugte Staublawine, die Länge der durchfahrenen Bahn überhaupt und dadurch ohne Zweifel auch der Schaden der Lawine größer geworden. Auch die Geröllbildung des in der liegenden Bahn abfahrenden Schnees wäre als Folge erhöhter Plasticität eine intensivere geworden.

In der gleichen Bahn sind, soweit meine eigene Beobachtung reicht, schon früher, z.B. vor cirka zwanzig Jahren und im Winter 1888/89, Lawinen von ähnlichem Charakter niedergefahren, die aber ungleich gewaltigere Schneemassen mit sich führten, deshalb sich viel rascher bewegten, eine starke Pression und die Entwicklung enormer Staublawinen verursachten und durch letztere eine große Hochwaldfläche am Fuße der Bahn zerstörten. So spielt, wie ich schon mehrfach betonte, neben der Art der Lawinenbahn auch die Masse des mitgeführten Schnees eine wichtige Rolle in der Mechanik und den Folgen des Lawinensturzes.

6. Die Sandeggleue.

( Vgl. Jahrbuch S.A.C. XXXV, Seite 272, Tab. ) Das Sammelgebiet dieser Lawine bilden äußerst steile konzentrische Rasenhalden und Felsplatten auf der Westseite des Calanda, etwas südlich der st. gallisch - graubündnerischen Kantonsgrenze. Dieselben münden in ein enges, tief eingeschnittenes und perpendikulär am Berg abfallendes Tobel, das seinerseits wieder nach dem Austritt aus einer engen Fels-pforte auf den steilen und ausgedehnten Schuttkegel des gleichnamigen Baches ausmündet. Obgleich durch dieses verhältnismäßig kurze Tobel alljährlich Staub und Grundlawinen zu Thale fahren, so förderten sie doch meines Wissens noch nie so interessante Erscheinungen zu Tage wie eine Grundlawine im Frühjahre 1901. Von verschiedenen Seiten darauf aufmerksam gemacht, daß die Lawine an der Sandegg oder „ im Chüaniga Zug ", wie sie hie und da auch genannt wird, eine „ rechte ( d.h. besondere, wunderliche ) Leue " sei, die ich ansehen sollte, begab ich mich am 7. April 1901 ( am Osternachmittag ) dorthin und sah daselbst ein Bild, wie es annähernd richtig in Tafel II, Fig. 8, wiedergegeben ist. Auf dem oberen Teile des unter cirka 20 Grad Böschung ansteigenden aperen Schuttkegels lagerten über die ganze Breite desselben zerstreute haushohe, knollige Lawinenmassen, kleine Höhenzüge mit scharfen Gräten und Thälern bildend und in einzelnen Armen weit gegen das Thal herabreichend. Am linken ( nördlichen ) Rande des Schuttkegels, der gegen einen vorspringenden Bergrücken anstößt und gegenüber der Mitte des Schuttkegels etwas ver- tieft ist, war ein Arm von der Ausmündung des Tobeis über den ganzen Schuttkegel, der Krümmung des Bergrückens folgend, bis gegen den zum Kunkelspaß führenden Fahrweg vorgedrungen. Aus der Erscheinung gewann ich den Eindruck, daß der ganze Lawinenkegel von einer einzigen großen Grundlawine herrühre, welche die ersten größern Massen erst in der Richtung des Tobeis auf den Schuttkegel warf und dort staute, so daß der nachfolgende Schneestrom einerseits durch den vorstehenden ( im Kopf des Bildes angegeben ) Felskopf nach Norden ( auf dem Bilde links ) geworfen und dort, dem gegebenen Gefälle folgend, sich einen eigenen Kanal schuf. Dieser Kanal ( Kännel, Rinne, Strombett ) besaß vom Austritt aus der Schlucht bis an das untere Ende eine Länge von über 400 Meter und wurde gebildet von zwei annähernd parallelen Rändern oder Wällen, deren Außenseiten aus unregelmäßig übereinander hingeworfenen Schneegeröllen aufgebaut waren, deren Innenseiten aber durch die vorbeigezogenen Lawinenmassen in ähnlicher Weise, wie wir es oben bei der Latleue gesehen haben, geglättet und verpflästert wurden. Selbst der Boden wurde durch eine dünne, zerriebene Schneeschicht ausgepflastert, welche indessen auf glatter Unterlage oder an hervorragenden Punkten nur wenige Centimeter Dicke besaß und bei meiner Ankunft schon da und dort weggeschmolzen war. Der innere, konkave Wall war fast durchweg niedriger und auch im Durchmesser weniger mächtig als der äußere, konvexe, 1 bis 5 Meter hohe Wall. In der untern Hälfte war der Kanal angefüllt mit meist feinknolligen Lawinenmassen, die gegen das vordere Ende zu eine typische, im Grundriß und Aufriß gerundete Lawinenzunge bildeten. Ein in der Mitte der Bahn liegender Felskopf veranlaßte eine Teilung des Lawinenarmes, wie es in Fig. 9 abgebildet ist. Die auffallendste Erscheinung dieses an sich schon interessanten Lawinenarmes bestand darin, daß die ( innern ) Gleitflächen der Seitenwälle sich trotz der Anfüllung des Kanals mit Lawinenmassen im untern Teile bis an die Spitze der Lawinenzunge fortsetzten und schon von weitem durch ein an der Oberfläche sich hinziehendes schmutziges Band kenntlich waren. Während aber die Gleitfläche des konkaven Walles eine ziemlich konstante Neigung zeigte, bog sich die oben senkrecht aufstehende Gleitfläche des konvexen Walles, entsprechend den in Fig. 6 gegebenen Profilen, gegen das untere Ende der Lawinenzunge immer mehr nach außen nieder, bis sie am letzteren, dessen Richtung auf der im obern Teile des Armes eingeschlagenen beinahe senkrecht stand, horizontal an den Boden der Lawinenzunge zu liegen kam. Der konvexe Wall selbst ist beim Beginn des Armbogens steil und nach oben zugespitzt, erweitert sich aber immer mehr mit der zunehmenden Krümmung des Lawinenarmes, während dessen Höhe, mit geringen Abweichungen, konstant bleibt, weil auch die Mächtigkeit der Lawinenzunge, welche diese Wälle erzeugte, bis zu ihrem Stillstande sich nur unmerklich verminderte. Aus Fig. 3, welche uns zwei Durchschnitte durch die innere, konkave Gleitfläche zeigt, aber noch mehr aus dem Profile IV in Fig. 7 ersehen wir, daß der innerhalb der Seitenwälle vorbeigefahrene Lawinenstrom auch seinerseits durch eine Gleitfläche, die durch Zerreibung und Verpflasterung der Schneegerölle längs den Reibungsstellen zwischen Uferwall und Strom entstand, von dem Seitenwalle scharf gesondert ist, und daß diese zweite, der bewegten Lawine selbst angehörende Gleitfläche die ganze Lawinenzunge parallel zur Gleitfläche des zugehörigen Uferwalles begleitet 1 ). Diese beiden einander gegenüberstehenden Gleitflächen ( diejenige des Uferwalles und diejenige des von letzterm eingefaßten Lawinenstromes ) berühren einander nur an wenigen Stellen. Zwischen ihnen ist fast durchweg eine gegen die Oberfläche zu cirka 1 bis 15 Centimeter breite Kluft zu beobachten, die sich nach unten verengend einwärts biegt und schließlich am Grunde der Bahn die beiderseitigen Gleitflächen zusammentreten läßt. Richtig gesprochen, stehen die Gleitflächen einer Seite unter dem stehen gebliebenen Lawinenstrome hindurch mit den Gleitflächen der andern Seite in Verbindung oder bilden vielmehr mit jenen ein Ganzes; und vervollständigen wir das oben gezeichnete Querprofil nach den Beobachtungen, die ich in der obern Hälfte des Lawinenstromes und bei andern Lawinen ( z.B. Latleue, Zügdohleu-leue ) gemacht habe, so erhalten wir hier wiederum einen von den Seiten-wällen und der Bodenpflasterung ausgerundeten Kännel oder eine Kinne von cirka 10 bis 15 Meter Durchmesser als Fortsetzung des weiter oben zurückgelassenen Kanals, in welcher die Massen sich fortbewegt hatten. Die Gleit- oder Rutschfläche dieser im Kännel bewegten Massen beweist uns wieder, daß die Bewegung der Lawine, ausgenommen an der Spitze, nicht eine rollende Bewegung der einzelnen Massenteile oder Knollen unter sich, sondern ein Gleiten der Masse als Ganzes war, womit indessen auch eine von den Unebenheiten des Terrains abhängige, horizontale und vertikale Verschiebung größerer Massenkomplexe verbunden war, deren ( d.h. der Gesamtmasse ) Gleitflächen, eben durch Reibung und Druck entstanden, verfestigt wurden, in dieser Form auch stehen blieben und so die innern, losen Knollenmassen gleichsam wie in einem Gefäße zusammenhielten. Die Stellung oder Neigung der Gleitflächen im Querprofil der Bahn wurde bestimmt durch die Terrainverhältnisse, die Intensität und Richtung des auf die Uferwälle wirkenden Lawinendruckes. In gerader, ebener Bahn, wo der Lawinendruck parallel den Uferwällen wirkte, stehen die Gleitflächen steil und symmetrisch zu einander; in gebogener Bahn war der Lawinendruck mehr auf den konvexen Bogen gerichtet; die Lawine suchte daher immer nach jener Seite auszubrechen, gleichsam über den eigenen Wall hinauszuschießen, weshalb die Gleitfläche jener Seite immer mehr aus einer Uferwallfläche in eine Bodengleitfläche und damit aus der auf- rechten in die liegende Stellung überging. Die Richtung der Lawinenströmung selbst wurde einzig und allein bestimmt durch die schon vorhandenen oder durch die Lawine selbst geschaffenen Terrainverhältnisse, durch die Masse und Schnelligkeit, beziehungsweise Stromstärke 1 ), der Lawine.

Alle diese hier angeführten Thatsachen, welche uns zwar nicht neu, aber in solcher Klarheit und Ausdehnung noch nie vor die Augen getreten sind, geben uns neues Licht über die oft wunderlich und unerklärbar erscheinende Beweglichkeit, Schnelligkeit und Bahnrichtung der Lawinen und die oft daraus resultierende Gefahr für Orte und menschliche Einrichtungen, für welche ein mit den Lawinen nicht Vertrauter niemals Unheil fürchten würde. Freilich ist zu solchen Erscheinungen, wie die vorliegende ist, auch wieder ein gewisser plastischer Zustand des Schneematerials, der entweder schon im Ursprung vorhanden oder erst während der Lawinenfahrt gebildet sein kann, vonnöten. Je früher dieser Zustand erreicht wird, um so rascher und intensiver sind alle Bewegungen der Lawinen und letztere damit um so gefährlicher für die menschliche Kultur.

Wir erkennen ferner aus der vorliegenden Erscheinung, daß die Strömung der Lawine eine relativ langsame war, weil selbst nur wenige Meter hohe Erhebungen des Terrains genügten, um die Strömung abzulenken; daß ferner die letztere an ihrer Spitze die größte Mächtigkeit besaß, und nach ihrem Stillstande die Stauung der Massen nach rückwärts fortschritt, und kein anderer Lawinenstrom mehr dem besprochenen folgte, weil letzterer die von ersterm geschaffenen Verhältnisse in erkennbarer Weise hätte verwischen müssen. So können wir auch in diesem Falle aus der Art ihrer Ablagerungen auch die Art der Bewegungen einer Lawine wenigstens in ihrem Unterlaufe erkennen und erhalten anderseits auch Fingerzeige für die künstliche Ablenkung solcher Lawinen und Errichtung anderweitiger Schutzbauten. Es ist nicht dasselbe, ob eine Lawine ihre gesamte Masse auf einmal in das Thal und die Kulturen wirft, wie es bei Lawinen im offenen Gelände stattfindet, oder erst in einer längern und engen Bahn auf einen verhältnismäßig dünnen Stromfaden verteilt und gleichsam nur portionenweise ins Thal ausschüttet, wie es bei unserm Beispiele und den meisten Lawinen des Taminathales der Fall ist. Jene sind gefährlicher, weil ihre Wucht, Schnelligkeit und Wirkungskreis im Verhältnis zu ihrer Masse größer und ihre Richtung schwerer zu bestimmen ist, eine künstliche Einwirkung daher meist nur im Sammelgebiete möglich ist. Diese aber können, wie unser Fall lehrt, auch in der Bahn verbaut und eingeschränkt werden nach der Art, welche die Lawinen selber lehren.

Grundlawinenstudien II.283

7. Im Sarotlathale.

( Vgl. Alpina IX, 13, Seite 130. ) Es liegt im Interesse meiner Aufgabe, einen nicht bloß theoretisch, sondern auch praktisch wichtigen Gegenstand wie die Lawinen unter möglichst vielen verschiedenen Gesichtspunkten und Verhältnissen zu studieren und zur Darstellung zu bringen. So füge ich an dieser Stelle auch die Beobachtungen bei, welche ich im Mai 1901 anläßlich einer Bergtour ins Vorarlberg gemacht habe. In der Absicht, der Zimbaspitze einen Besuch zu machen, stieg ich am 27. Mai genannten Jahres von Brand aus gegen den zwischen Wildberg und Mittagspitze gelegenen Sattel empor. Das von letzterm herabziehende Thälchen war noch ganz bedeckt von knolligem Lawinenschnee, der in längern Streifen von der Mittagspitze niederhing und eine Schichte kürzlich gefallenen Neuschnees trug und so locker gelagert war, daß ich fast Schritt für Schritt bis an die Kniee darin versank. Da die Bahn dieser Lawinen — ich bin versucht, sie wegen ihrer geringen Mächtigkeit und Bahnkürze bloß Schneeschlipfe zu nennen — außer ihrer Kürze auch steil und glatt war, weil sie über schneebedeckte Couloirs und Schutthalden der Mittagspitze ging, so ist die Bildung der Schneegerölle nicht ohne weiters verständlich. Man begreift sie indessen bei der Überlegung, daß der abgestürzte Schnee alter, schwerer Grundschnee war, bei dessen Sturze die erste, durch kleine Unebenheiten des Bodens erzeugte wirbelnde Bewegung zur Bildung der Gerölle Anlaß gab. Anderer Art sind die Beobachtungen, die ich auf der östlichen Seite des Wildbergsattels machte. Die auch auf dieser Seite hin steile, ein Gerippe von Schichtterrassen und Couloirs bildende Wand der Mittagspitze war noch in tiefen Neuschnee gekleidet, unter dem eine Schicht älteren Winterschnees lagerte. Der Neuschnee war noch pulverig und locker gelagert, so daß herabstürzende Steine darin versanken, ohne die bekannten Schneeballen oder Knollen zu erzeugen, welche man bei fester gelagertem, plastischem Schnee häufig sieht. Auch heute, wenige Stunden vor meiner Ankunft, hatte es hier, zwar nur wenig, geregnet und herrschte noch fortwährend Nebel und Tauwetter, wodurch der frische Schnee durchfeuchtet wurde, sich leicht von den Felsen ablöste und neben mir in kleinern Partien zur Tiefe fuhr. So stürzten auch vom höchsten Gipfel der Zimbaspitze und an deren Westflanke mehrere kleine Grundlawinen gegen die obere Sarotlaalp herab, während ich am Nordhang der Mittagspitze dort hinüber wanderte. Einmal beachtete ich, daß sich unter dem Drucke des abstürzenden Schnees ein größerer Teil ( cirka 3 Quadratmeter ) der etwas erhärteten Oberflächenrinde von 20 bis 30 Centimeter Dicke loslöste, ein Stück weit zusammenhängend über den andern Schnee abrutschte, bis allmählich der Zusammenhang brach, der Schnee durcheinander wirbelte und in rollender Bewegung abstürzte, während die nachfolgenden größern und fester zusammengeballten Massen sich in dem dadurch entstandenen Graben noch tiefer in den weichen Schnee eingruben und den Graben nach ihrem Abstürze über die Felsen als schön gerundeten und geglätteten Schneekännel zurückließ. Derartige, vom stürzenden aus dem ruhenden Schnee erodierte Kännel, welche mit den früher beschriebenen und aus dem stürzenden Lawinenmateriale selbst gebildeten Rinnen nicht zu verwechseln sind, traf ich auf meiner Wanderung noch mehrere und in verschiedenen Dimensionen. Vorliegende Form aber kann nur in lockerm Schnee mit erhärteter Kruste vorkommen. Bei Wanderungen im Gebirge beachtet man auch ähnliche Furchen oder Rinnen im Schnee unterhalb von Felsen, steilen Hängen oder überhängenden Schneemassen, z.B. am Lyskamm, Piz Urlaun, Ostwand des Monte Rosa etc., auch in älterem und hartem oder plastischem Schnee, welche von abgestürzten Steinen, Schneeballen oder größern Schnee- und Firnpartien herrühren. Diese Rinnen sind aber im älteren Schnee, im Vergleich zu ihrer Breite, nicht so tief wie die vorliegenden, und kann deshalb ein geübter Blick schon aus der Ferne eine allfällige Steinschlag- oder Lawinengefahr bezüglich ihres Ortes, ihrer Häufigkeit und Dimensionen aus der Art solcher Schneefurchen beurteilen. Eine andere Art von Schneerinnen, welche man indessen fast nur auf ältern Firnfeldern bei geringer Böschung beobachtet, habe ich als Firnfurchen ebenfalls im Jahrbuche S.A.C. XXXV, p. 330 ff., besprochen. Bei meinem Abstiege in den Thalkessel der obern Sarotlaalp benutzte ich einen der eben beschriebenen, cirka 60 Centimeter breiten und tiefen, prächtig ausgeglätteten und gehärteten Kännel, in welchem ich mich in sitzender Stellung einige Hundert Meter hinuntergleiten ließ. Unten auf der Thalterrasse, welche die obern Alphütten trägt, fand ich eine ganze Sammlung von knolligen Lawinenkegeln, die aus dem Cirkus der umliegenden Höhen herstammten und neben- und übereinander lagerten. An einem dieser gegen die Sarotlahütten gerichteten zungenförmigen Lawinenkegel beobachtete ich ähnliche, zu beiden Seiten desselben sich hinziehende Gleitklüfte, wie oben bei Besprechung der Latleue und Sandeggleue angegeben wurde. Wo diese Kluft sich wieder geschlossen hatte, war ihr Verlauf noch an Schmutzbändern zu erkennen. Die Gerölle aller dieser langsam zur Ruhe gekommenen Lawinenkegel waren sehr locker gelagert und besaßen ( wahrscheinlich wegen der Kürze der Bahn ) nur eine geringe bis mittlere Größe ( Durchmesser 1 bis 30 Centimeter ). Ein Blick auf die Morphologie dieser Gegend belehrte mich sofort, daß ich es hier mit einem typischen Kar von bedeutender Ausdehnung zu thun habe, in dem Sinne, wie es Dr. Ed. Richter 1 ) definiert hat. Im Hintergrunde die Felsgehänge der Zimba, Mittagspitze und Wasenspitze mit den zwischenliegenden zwei scharfen Grateinschnitten; an deren Fuße die steilen Geröll- und Grasplanken, die auf die prächtige Rundhöcker-terrasse der obern Sarotlaalp ausmünden. Die Lawinenkegel, die heute auf diesen Höckern liegen, deuten mir den Gletscher an, welcher hier einst beständig lagerte und dem Boden die jetzige Form gab. Auch der von Richter an Karen gewöhnlich vorgefundene Steilabsturz ist unterhalb unserer Terrasse in der steilen, bewaldeten Halde zwischen der obern und untern Sarotlaalp vorhanden, welch letztere ich über den aus einem steilen Lawinenzuge der Wasenspitze hergekommenen und längst angeschmolzenen Lawinenkegel erreichte. Die Erwähnung der Kare führt mir die Bedeutung vor Augen, welche die Lawinen, besonders die Grundlawinen, in den frühem Gestaltungsperioden der Erdrinde und auch heute noch für die Bildung der Gletscher- und Schneefelder des Hochgebirges und auch für die Ablation, Erosion und Accumulation der festen Erdrinde besaßen und besitzen. Erstere Punkte werden am Ende dieser Arbeit kurz berührt; letztere Punkte aber fallen außer den Rahmen derselben, und bildet jeder für sich ein Thema, das nicht bloß höchst interessant, sondern auch für das Verständnis vieler Oberflächenformen unserer Gebirge geradezu notwendig ist.

Im Anschlusse an meine oben dargelegten Beobachtungen über das Entstehen und den weitern Verlauf der Lawinen kann ich den Hinweis auf die in der deutschen Sprache, selbst in gelehrt sein wollenden Aufsätzen oder Abhandlungen, sich breit machende Phrase von einem „ lawinenartigen Anwachsen " eines Gegenstandes, einer Unternehmung, eines Übels etc. nicht unterlassen. Diese Phrase rührt her von der in vielen ältern Schriften enthaltenen und durch Unkundige von alters her, auch in der Schule, verbreiteten Meinung, die Lawine entstehe durch das Losbrechen eines Schneeballes am Berghang, der sich beim Herunterstürzen fortwährend vergrößere, zu einem Riesenball und dergleichen anwachse und in dieser Weise alles am Berge Stehende zertrümmere oder vergrabe. Wie die Leser dieses Jahrbuches aber schon aus meinen Darstellungen über die Bewegungsart der Lawinen und wahrscheinlich auch aus eigener Anschauung wissen, kommt ein derartiges Anwachsen der Lawinen in der Natur nicht vor. Wohl kennt man allgemein die Erscheinung, daß bei einer gewissen Dicke, einer bestimmten lockern Lagerung und einem plastischen Zustand des Schnees ( z.B. wenn solcher frisch gefallen und nachher infolge des Eigengewichtes oder der Wärme zu- Wände geschlossen sind, während der flache Boden nach vorn geöffnet ist und dort in der Regel ziemlich unvermittelt in einen Steilabsturz übergeht. Sie liegen mitten im Gebirgsgehänge, meist nahe am Kamme hoch über der Sohle des benachbarten Thales, zu welchem sich von ihnen nur unbedeutende Wasserrisse herabzuziehen pflegen.... "

sammengesintert ist ) ein einzelner, von Felsen fallender Stein oder Schneepartikel einen den Hang hinabrollenden und bis zu einer gewissen Grenze ( höchstens 1 Kubikmeter ) anwachsenden Schneeball zu erzeugen vermag, welcher aber infolge der Rollbewegung meist nur in zwei Dimensionen wächst, scheibenförmig wird und oft schon am Abhang ohne weitere Folgen zur Seite rollt und stecken bleibt. Andere zerfallen bei geringen Unebenheiten des Bodens in Stücke, die sich ihrerseits wieder in ähnlicher Weise vermehren, bis schließlich eine kleinere Lawine zu stande kommt. Solche sind an warmen Wintertagen, aber noch mehr im Frühling zur Zeit der Schneeschmelze im Gebirge an hierzu geeigneten Gras- oder Geröllhalden, Plattenhängen etc. häufig zu sehen. Nur in wenigen Fällen giebt ein solcher Schneeball an kritischen Stellen den Anstoß zum gleichzeitigen Losbrechen größerer Schneemassen, welche dann allerdings im Falle häufig noch andere Massen zu beiden Seiten mitreißen, bei der weitern Fahrt in einer Mulde oder einem Tobel sich konzentrieren, um sich alsbald wieder in einen längern Strom zu verteilen, der unten im Thale oder in der Bahn nicht plötzlich, sondern successive zur Ruhe kommt. Von einem Riesenball ist da nichts zu sehen. Auch nimmt die Masse der meisten Lawinen ( ausgenommen gewisse Arten von Staublawinen und manche in freier, offener Bahn abfahrende Grundlawinen ) aus Gründen, die ich schon in meiner ersten Arbeit über Grundlawinen angegeben habe, während der Fahrt nicht zu, sondern ab.

8. Eine Lawine am Eiger.

( Vgl. die Abbildung. ) Eine Lawine während ihres Sturzes zu zeichnen, ist schlechterdings unmöglich. Selbst ein scharf beobachtendes Auge wird wohl den vollen Eindruck einer solchen aufnehmen, aber nie so dem Gedächtnis einzuprägen vermögen, daß derselbe nachher frisch, lebenswahr und auch für den Fernerstehenden verständlich gezeichnet werden kann. Außer der Akustik, welche den durch das Auge vermittelten Eindruck so wirkungsvoll zu verstärken vermag, fehlt auch die Kraft der Bewegung, die Wirkung der Umgebung, die auch der beste Künstler meistens nur schematisch zu Bilde bringt. In der Wiedergabe großer wie kleiner Erscheinungen spielt ferner der subjektive Gedanke, die persönliche Auffassung oder Voreingenommenheit bald mehr, bald weniger schädlich mit, so daß niemals ein völlig objektives Bild zu stande kommt, wie es zum Verständnis der Lawinen, sofern man das Objekt nicht selber sehen kann, nötig ist. Vielleicht wird einmal der Kinematograph diesen Mangel einigermaßen ausfüllen; denn — nebenbei gesagt — ist diese Erfindung der Neuzeit noch mehr als das Skioptikon und verwandte Apparate geeignet, solche und ähnliche Naturvorgänge auf das Bild zu fesseln. Die Presse aber muß sich nach wie vor mit der Wiedergabe eines bestimmten einzelnen Bildmomentes begnügen. Bei dem großen Mangel passender und brauchbarer Aufnahmen von Lawinen, die mir bisher zu Gesicht gekommen, benutze ich gerne diese Gelegenheit, ein im Verlage Gebrüder Wehrli in Kilchberg aufgefundenes Bild zu reproduzieren 1 ). Dasselbe stellt eine der sogenannten Schloßlauenen ( welche Bezeichnung dem topographischen Atlas entnommen ist ) am Ostabsturz des Eigergrates dar. Im Vordergrunde erkennt man die zahlreichen Schründe des schuttbedeckten untern Grindelwaldgletschers. Rechts und links vom Centrum zeigen sich die feingeschichteten und zerklüfteten Malmkalkwände des Hörnli und Wildschloß. Die Rundung und Glättung der untern Felspartien giebt das frühere Niveau des Gletschers an. Auf dem letztern ruhend, aber dem Felsen angelehnt, erblicken wir mehrere schmutzige Lawinenkegel. Aus den Spalten, welche, vom Gletscher ausgehend, diese Accumulationen ebenfalls durchsetzen, erkennen wir das größere Alter der letztern. Ein Blick in die Spalten findet aus der verschiedenen Schattierung des Gletschereises noch andere, ältere Lawinenreste, die sich allmählich dem übrigen Gletscher assimilieren und mit diesem fortbewegen. Wer über den Ursprung derselben im Zweifel ist, blicke in die Mitte des Bildes, wo eben eine Grundlawine vom Kallifirn herunterstürzt. Leider dauerte die für ruhende Objekte günstige Exposition etwas zu lang, wodurch die Darstellung der bewegten Massen zu unkontrollierbaren weißen Fäden verwischt wurde. Indessen sind doch aus dem Bilde wenigstens die Dimensionen der Strömung, ihr Verhältnis zum Gelände, die Bildung von Schneeknollen, von welchen einige auf den Terrassen inmitten des Bildes zur Ruhe gekommen sind, ferner die Staubbildung, trotz dem Vorhandensein einer Grundlawine, und die durch das Gelände hervorgerufene Abzweigung von drei Seitenarmen vom Hauptstrom der Lawine deutlich zu erkennen. Die auf den Terrassen liegenden Schneehaufen und die eben zur Ruhe gekommenen Seitenarme zeigen, daß die Mächtigkeit der Lawine an der Spitze die größte war, weil sie jene zu erzeugen vermochte, während die nachfolgende Strömung, sich allmählich verringernd, schließlich nur mehr durch die Hauptbahn zur Tiefe zieht und dort den größten Lawinenkegel bildet. Außer diesen Fingerzeigen auf die Mechanik des Lawinensturzes führt uns das Bild aber auch die Bedeutung der Lawine für gewisse Gletscher vor die Augen. Hier haben wir ein Beispiel, wo ein aus Firnrevieren herziehender Gletscher durch Lawinen vermehrt wird. Zur Zeit der Schneeschmelze, bei Regen-, Schnee- oder Föhnwetter sehen wir im Gebirge nicht bloß an den steilen Hängen von Gletscherthälern tieferer Regionen, sondern auch der Firnregion, überall kleinere und größere Grundlawinen niederstürzen, um den Gletschern stets neues Material zuzuführen. Weil im Hochgebirge die Schneefälle so häufig eintreten, sind auch die Lawinen dort um so zahlreicher und für die Gletscher um so bedeutungsvoller. An der Nordwand des Wetterhorns, Eigers und der Jungfrau etc., der Maderanerberge, des Ringelgebirges ( worauf ich schon im Jahrbuche S.A.C. XXXV hingewiesen ) giebt es andere, deren Material ausschließlich von Lawinen, zum Teil von Firn- und Gletscherlawinen, auf die wir noch zu sprechen kommen, herrührt. Hierher gehören auch die sogenannten regenerierten Gletscher.

9. Firn- und Gletscherlawinen.

Ein anderes Bild, durch unsern rühmlichst bekannten Clubphotographen Dr. H. Brun aufgenommen, versetzt uns hinein in das Reich des Tödi. Von der Terrasse der gelben Wand am Bifertengletschersturz schauen wir über die schmale Gletscherzunge hinunter links gegen das Grünhorn, rechts und im Centrum gegen die Wände der Scheibe und des Selbsanft. Zwischen den letztern beiden erblicken wir die stark zusammengeschmolzenen Lawinenreste der Scheibenruns, durch welche wir auf die genannten Berge ( Selbsanft links, Scheibe rechts ) gelangen. Rechts zeigen sich in gleicher Flucht die annähernd 1000 Meter hohen Felswände und die an der Gipfelwand gelagerten Firnmassen des Bifertenstockes. Von dem letztern stürzten am Abend des 22. August 1901, als ich mich eben in der Fridolinshütte aufhielt, mehrere donnernde Lawinen nieder, welche mich zum nähern Studium dieser Erscheinung veranlaßten. Als ich am folgenden Morgen, cirka 6 Uhr, aus der Hüttenthüre trat, wiederholte sich das gleiche imposante Schauspiel an den Wänden des Tödi, von welchen eine Lawine zum hintern Röthifirn herniederfuhr. Alle genannten Lawinen waren Firnlawinen, deren Material, meist aus mehrjährigen Schichten bestehend, sich im Laufe der Zeit molekular zu grobkörnigen Krystall-individuen umgeformt hatte. Die Betrachtung der Bahn der angeführten Lawinen läßt uns erkennen, daß wohl auf den Terrassen und Vorsprüngen Schnee zurückgelassen wurde, eine Auskleidung der Bahn aber, wie bei den bisher beschriebenen Grundlawinen, nicht vorhanden ist, weil der stürzende Schnee anfangs in größern kompakten Massen zusammenhaftete, die in weiten Sprüngen die Bahn durcheilten, nach und nach aber in lockeren, hart grobkörnigen und daher unplastischen Schnee aufgelöst wurde, der sich zwar dem Terrain anzupassen vermochte, aber für eine konstante Bahnpflasterung und Geröllbildung eben zu wenig Plasticität und Haftvermögen besaß, weshalb bei solchen Lawinen auch keine während der Fahrt gebildeten Schneegerölle zu beobachten sind. Die schließlich auch stromartige Lawine zeigt alsdann die gleichen Bewegungserscheinungen wie die gewöhnlichen schneeführenden Grundlawinen. Selbst Schneestaub kann sich beim Sturz durch das Zerschellen der harten Firnkörner bilden.

Die äußern Umrisse der auf Terrassen, Hängen, Schuttkegeln und Thalmulden abgelagerten Lawinenkegel entsprechen nur dann solchen gewöhnlichen Grundlawinen, wenn ihr Material in feinen, lockern Massen zur Ruhe kommt. Solange dieser Zustand des Materials nicht herbeigeführt ist, gleicht die Bewegung der Lawine mehr derjenigen eines Steinschlages, statt eines Stromes oder Wasserfalles, und lagert schließlich ihre größern oder kleinern Blöcke am Ende der Bahn auch unregelmäßig zerstreut ab. In dieser Beziehung ist die Bewegung der Firnlawinen identisch mit derjenigen der Gletscherlawinen, das heißt mit solchen, deren Material ursprünglich aus gewöhnlichem Schnee oder Firn durch Zusammenfrieren der einzelnen Schneeteilchen zu größern kompakten und einheitlich gelagerten Gletschermassen 1 ) entstanden ist. Welche der beiden Lawinenarten wir in einem bestimmten Falle vor uns haben, können wir am abgelagerten Materiale oder durch Untersuchung der Abbruchstelle herausfinden. Dabei ist nicht zu vergessen, daß sich durch gegenseitige Reibung der einzelnen Teile unter sich und mit der Unterlage im einen wie im andern Falle ein vom Zustande des Materials, der Gestalt und Länge der Bahn abhängiger Strom zerriebenen Materials — manchmal auch mit Staubbildung — entwickelt, der sich nach Art gewöhnlicher Grundlawinen fortbewegt und ablagert; möglicherweise auch nicht so weit vorzudringen vermag wie die in der freien Luft abstürzenden gröbern Massen. Von einer Geröllbildung ist aber auch in diesem Falle nichts zu sehen.

Auf unserm Bilde sehen wir rechts am Fuße der Felswand einen vom Bifertenstock herstammenden Lawinenkegel der oben angeführten Lawinen, welche auch den größten Teil des darauf lagernden Schuttes mitgeführt haben. Der während des ganzen Jahres durch immer neue Nachstürze sich vergrößernde und unten zu einer kompakten Masse zu-sammenfrierende Lawinenkegel ist, wie der nebenliegende Gletscher, in steter langsamer Bewegung begriffen, welche auch seine leicht kenntlichen Spalten erzeugte. Beim Zusammentreffen mit dem Gletscher verschmelzen beide Teile miteinander; die Bewegungsrichtung des Lawinenkegels wird durch jene des Gletschers zur Seite gedrängt und letzterer parallelisiert. So sehen wir den vom Gipfel des Bifertenstockes abgestürzten und in lockere Massen aufgelösten Firn 1000 Meter tiefer unten sich wieder zu einem, allerdings kleinen, Gletscher vereinen, der, falls das Stammwort „ Biferten " vom gleichnamigen Berge ausgegangen ist, den Namen Bifertengletscher eher verdienen würde als der große, vom Tödi und Piz Urlaun herkommende Gletscher, der analogerweise Tödigletscher heißen sollte. Der aus seinem Lawinenkegel allmählich auswitternde Schutt bedeckt diesen schließlich ganz als Ober- oder Oberflächenmoräne und bildet nach und nach an der Berührungslinie beider Gletscher die Mittelmoräne. Ähnliche Verhältnisse treffen wir in kleinerm oder größerm Maßstabe mehrfach längs der großen Eisströme des Hochgebirges, welche uns in ähnlicher Weise, wie es die Lawinen am Eigergletscher und obiges Beispiel gethan, die große Bedeutung auch der Firn- und Gletscherlawinen für die Gletscher illustrieren. So kommt es oft, daß primäre Gletscher, wie der Bifertengletscher einer ist, auch regenerierte Gletscher oder Gletscherteile mit sich führen.

10. Lawinen und Schneeflecken.

Schon in meiner ersten Abhandlung über Grundlawinen erwähnte ich die perennierenden Lawinenkegel am Calanda ( Breitägerten, Vidameida ) und im Calfeisenthale ( Fluh, Parlitobel, Tristelleue ). Im Abschnitt 8 und it war ebenfalls von solchen die Rede. Während aber die genannten sich allmählich in Gletschereis verwandeln, giebt es zahllose andere vorübergehende und dauernde Lawinenablagerungen ( Bahnpflasterung oder Lawinenkegel ), z.B. an der Nordwand des Ringelgebirges ( Panarahörner ), im Ochsenthäli, an der Nordwand der Zimba, der Schächenthaler Windgälle, die Firrenbänder an der Nordwand des Scherhorn-Ruchengrates, der Berner Alpen etc., deren Umbildungsprozeß ( wahrscheinlich infolge ungenügender Besonnung [Insolation] und daherigen starken Temperaturwechsels oder ungenügender Druckschmelzung ) in dem frühern Stadium gewöhnlichen, krystallinisch-feinkörnigen Grundschnees oder krystallinisch-grobkörnigen Firnschnees zurückgeblieben ist. Im allgemeinen halten sich die dauernden Lawinenablagerungen — denn im folgenden soll nur diese Art behandelt werden — in der Nähe der Schneegrenze, auf Terrassen, in Couloirs etc. oder, wenn sie tiefer herabsteigen, an besonders schattigen, abgelegenen Orten, und wurden bisher in der topographischen Beschreibung der betreffenden Gegend, ohne Rücksicht auf ihre Genesis, kurzweg als Schneeflecken oder Firnflecken bezeichnet. Aber schon aus dem Orte des Vorkommens ( in oder am Ausgange von Lawinenzügen ), den äußern Umrissen, der Mächtigkeit der Lagerung können wir die Entstehung dieser Schneeflecken aus Lawinenresten, zum Unterschiede von solchen, die sich aus bloßen Niederschlägen konserviert haben, erkennen. Letztere steigen nur ausnahmsweise unter die Schneegrenze herab, befinden sich außer dem Bereich von Lawinenzügen und sind auch meistens weniger mächtig. Der Zustand des Materials aber kann bei beiden Arten von Schneeflecken ( zumal in später Jahreszeit ) gleich oder verschieden sein. Je länger der Schnee solcher gewöhnlicher oder Lawinenschneeflecken liegen bleibt, um so mehr beeinflußt die Witterung ( Temperatur, Föhn, Regen ) und der gegenseitige Druck den Zustand, beziehungsweise die Lagerungsart, des Schnees. Der weiche, plastische Schnee geht allmählich in hartkörnigen Firn über, auch an Orten, die tief unter der Schneegrenze liegen ( z.B. am Vidameidakegel bei Vättis, in cirka 1000 Meter Meereshöhe ). Anfangs vorhandene Geröllstruktur weicht durch Anschmelzung und nachheriges Zusammengefrieren der Gerölle und ihrer kleinsten Massenteilchen — oft ist auch das Zusammengefrieren allein die Ursache — einer homogenen, nur durch accessorische Schmutzstreifen oder gröbere Geschiebe unterbrochenen Struktur, während die Oberfläche nach und nach wellig und durch den ausapernden Schutt während des Sommers immer schmutziger wird. Oft bildet sich auch an der Oberfläche hartes Eis, bei dünnern Lagen geht meist alles Material in solches über. Nicht bloß die vorübergehenden, sondern auch die dauernden Schneeflecken sind den Sommer über einer beständigen Abschmelzung und Verdunstung, welch letztere indessen bekanntermaßen von dem Feuchtigkeitsgehalt der Luft abhängig ist, sowohl an der Oberfläche wie am Grunde ( letzteres bei Geröllboden besonders stark ) ausgesetzt, was die an den Rändern und hervorragenden Stellen an das untere Ende abfließenden Wassertropfen, sowie die Feuchtigkeit der nächsten Umgebung — Dinge, die man bei den meisten Schneeflecken beobachten kann — beweist. Dadurch erklärt es sich, daß solche dauernde Schneeflecken, auch wenn sie durch öftere Lawinen während des ganzen Jahres genährt werden, nicht beständig anwachsen, und schließlich auch beständig wachsende größere Gletscher bilden, wie es die vorübergehenden Schneeflecken bei der Inaktivität genannter Faktoren ebenfalls thun würden.

Nach diesen Darstellungen können wir die Lawinenablagerungen ( Alluvionen ) nach der Art ihres Materials und der Dauer ihres Bestehens in folgende Klassen einteilen:

1. Vorübergehende Alluvionen, deren Material besteht aus:

a. Gewöhnlichem, feinkörnigem, aus Schneekrystallen oder Teilen von solchen bestehendem Schnee. ( Hierher gehören die Mehrzahl der recenten Grund- und Staublawinenablagerungen, ausgenommen die Firn- und Gletscherlawinen [recente Alluvionen] .) b. Gewöhnlichem Schnee, wie in 1 a angegeben, der sich aber allmählich in Firn umgewandelt hat. ( Hierher gehören die Lawinenalluvionen in der Nähe der Schneegrenze oder an geschützten Stellen tieferer Thalregionen, ausgenommen die obigen und die vereisten [verfirnte Alluvionen] .) c. Firnschnee, herrührend von Firnlawinen, die in Thalregionen unterhalb der Schneegrenze niedergefahren sind und dort gänzlich abschmelzen ( Firnalluvionen ).

d. Gletschereis, herrührend von Gletscherlawinen ( Gletscherlawinenalluvionen ).

2. Dauernde Alluvionen, deren Material bestellt aus:

a. Gewöhnlichem Schnee, der allmählich in Firn übergeht und durch Abschmelzung oder Verdunstung in loco sich entfernt, aber vor gänzlicher Entfernung durch anderes erneuert wird ( verfirnte Alluvionen ).

b. Gewöhnlichem Schnee, der successive in Firn und Eis übergegangen ist ( vereiste Alluvionen ).

c. Firn, der als solcher sich wie derjenige in 2 a verhält ( Firnalluvionen ).

d. Firn, der allmählich in Eis übergeht ( vereiste Firnalluvionen ).

e. Gletschereis ( Gletscherlawinenalluvionen ).

Das in der Alluvion vorhandene ursprüngliche oder durch Metamorphose aus Schnee oder Firn entstandene Eis der unter 2 e, d, e angegebenen Arten kann entweder stationär bleiben oder sich fortbewegen, sei es als eigener, selbständiger Gletscher ( wie z.B. die beiden Röthifirne am Tödi ), sei es als Teil eines solchen ( z.B. an der Schneeruns des Tödi und am Fuße des Bifertenstockes ).

Die Bedeutung, welche solche Lawinenalluvionen für das Landschaftsbild, für die Morphologie und Hydrologie der Erdrinde, für die Phänologie und Pflanzengeographie besitzen, sei hier nur angedeutet, da genannte Punkte einerseits noch zu wenig untersucht, anderseits deren Erörterung nicht zu unserer Aufgabe gehört.

Übersicht über die wichtigsten Ergebnisse.

Die Beispiele 1, 5 und 6 bestätigen meine schon von andern, z.B. Heim 1 ), ausgesprochene und auch in meiner Arbeit vom Jahre 1900 ( Seite 272, 278 ff. ) betonte Beobachtung über die Auspflasterung der Bahn von Grundlawinen durch abgeschürftes Material, über die Rinnen- oder Kännelbildung in der Bahn und auf dem bereits abgelagerten Lawinenkegel und die Streifung und Glättung desselben. Sie geben uns ferner einen Einblick in die Anatomie und damit auch in das Zustandekommen dieser Auspflasterung und besagen, daß größere, plastische Lawinenmassen, unbekümmert um die Terrainverhältnisse, aber erst nach Abschürfung von an der Lawinenspitze befindlichem Materiale durch die Unebenheiten der Sturzbahn in der so geglätteten Bahn, als Ganzes betrachtet, nicht eine rollende, sondern eine gleitende Bewegung ausführen, wobei die einzelnen Masseneinheiten, beziehungsweise Schneegerölle, im horizontalen wie vertikalen Sinne und entsprechend den von der einmal eingeschlagenen Richtung sich aufdrängenden Abweichungen in der Bahn sich gegenseitig verA. a. O.

schieben, welch letztere Bewegung auch die Ursache der Knollenbildung und Kombination von Knollen ist. Beispiel 5 giebt uns Aufschluß über die Metamorphose des Schnees bei Lawinenstürzen, indem es sagt, daß frisch gefallener, krystallisierter ( d.h. noch in der ursprünglichen Krystallform befindlicher ), daher locker und voluminös gelagerter Schnee während des Sturzes infolge des Luftwiderstandes in Masse als Schneestaub aufwirbelt und, in der Luft freischwebend, zur Tiefe sinkt, und daß die Mächtigkeit, d.h. Materialmasse, dieser Staublawine proportional ist der Größe der losgebrochenen Schneemasse, dem Luftwiderstande bezw. der Fallgeschwindigkeit, der Länge der Fahrt, und umgekehrt proportional dem specifischen Gewichte des Schnees; daß ferner der aufliegender Bahn bleibende Schnee durch Zerstörung der Krystallformen und daraus folgende Verdichtung schwerer und durch das leichte Haftvermögen der zerbrochenen Krystallarme unter sich plastisch wird und sich zu Schneegeröllen umformt, welche nach Beispiel 2 während der Fahrt wieder zerschellen und sich neu-bilden oder zu größern Individuen zusammenballen können. Die Schnelligkeit der Umformung wächst mit der Höhe der bereits vorhandenen oder während der Fahrt erlangten Temperatur, mit der Größe der Masse, beziehungsweise des Druckes, und der Reibung derselben unter sich und mit der Bahn. Beispiel 3 belehrt uns, daß Föhn und Regenwetter schon sehr frühzeitig ( in der ersten Hälfte des Winters ) echte und größere Grundlawinen veranlassen können, und daß schon die erste Grundlawine eines Lawinenzuges, dessen Sturzbahn nur wenig Verkleisterungsmaterial von der Lawine fordert, den ganzen Lawinenzug bis zum Thalboden durchzulaufen vermag. Wie Beispiel 2 hält es uns auch den Einfluß der Lawinen auf die Pflanzenverbreitung vor Augen. Beispiel 7 zeigt in etwas anderer Weise als die vorher genannten und die in meiner Arbeit vom Jahre 1900 angeführten Beispiele, daß die über Schnee abfahrende Lawine sich aus diesem selbst ihre je nach der Mächtigkeit und dem Zustande des ruhenden und bewegten Schnees mehr oder weniger tiefe und breite Sturzbahn, d.h. eine Furche, Rinne, Kännel oder Kanal, erodieren kann. Die Beispiele 8 und 9 lehren uns die Lawinen als die einzigen Ernährer vieler und als Mehrer der meisten übrigen Gletscher kennen; während Abschnit 10 das Schicksal der vorübergehenden und dauernden Lawinenablagerungen, die geographische Verbreitung und Klassifikation derselben bespricht.

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