I. Piz Buin
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I. Piz Buin

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Am 5. Juli 1876, Morgens 9 Uhr, entstiegen wir Einheimischen zu Vieren dem ersten Zuge der Vorarlberger Bahn und vertauschten das Dampfross njit dem weniger behenden Stellwagen, welcher uns nach 11 Uhr vor dem gastlichen Hause zum Löwen in Schruns absetzte.

Gegen unser Erwarten und sehr zu unserm Bedauern war Herr Dr. Scholz in Folge eines Missverständnisses nicht zur Stelle, sondern in die Berge gegangen. Wir, denen die Zeit sehr knapp bemessen war, hinterliessen unsern Marschplan und brachen nach kurzer Mittagsrast auf.

Gegen halb vier Uhr trafen wir in dem freundlichen, schön gelegenen Pfarrdorf Gaschurn ein und hätten von hier in vier bis fünf Stunden, also noch bei Abenddämmerung, die Hütte auf der Gross-Vermunt-alp leicht erreichen können. Leider liess der Träger, den wir mit einem Theil unseres Gepäckes schon von Schruns aus vorausgeschickt, aber unverhältnissmässig bald eingeholt hatten, uns in Gaschurn lange auf sich warten. Rudolf Kleboth, der jugendliche Bergführer, war nicht zu Hause und wurde mit dem nöthigen Proviantvorrath auf die Vermuntalpe nachbestellt.

Erst gegen 51/2 Uhr konnten wir unsern Marsch fortsetzen. Wir waren wohl gewarnt worden, so spät noch ohne hinreichend genaue Wegkenntniss nach der fernen Hütte aufzubrechen, allein wir vertrauten auf den im Kalender verheissenen Mondschein und unser gutes Glück und zogen, da wir den Träger zurückgeschickt hatten, schwer bepackt fürbass.

Um 6^4 Uhr bogen wir hinter Pattenen, der letzten Ortschaft im Montavon, in 's Vermuntthal ein. Reich an Wasser wie selten, und in endloser Reihe kleiner brausender Fälle schäumte die 111 uns entgegen. Auf den Besuch der schönen, leider zu wenig bekannten Wasserfälle in der Hölle verzichteten wir, da uns derselbe etwa eine halbe Stunde gekostet hätte und wir nicht wussten, ob die Brücke im sogenannten Schweizer-Vermunt den Winter überdauert hatte.

Der Himmel hatte sich unterdessen mit dichten Wolken bedeckt, welche das Restchen Tag, das uns noch blieb, verkürzten. Einzelne Schneefelder, Reste des Winters, begannen sich über unsern Pfad zu legen. Das erste derselben zeigte uns sehr schön die Erscheinung des rothen Schnee's, welche wir in jenen Tagen noch mehrfach zu sehen bekamen.

Es mochte etwa 872 Uhr sein, als wir wieder ein grosses Schneefeld überschritten. An seinem Ende spähten wir vergebens nach der Wegspur. Die Berghänge lagen in tiefem Schatten und liessen nichts mehr deutlich erkennen. Unverdrossen setzten wir unsern Vormarsch in der Richtung fort, die ja sicher stand, dabei beständig an Höhe gewinnend. Dichtes niedriges Gebüsch nahm uns auf, scheinbar von schmalen Alpwegen durchzogen, die aber stets nach wenig Schritten wieder in 's Dickicht verliefen. Ein ermüdender Kampf gegen den passiven Widerstand dieses Gestrüpps hub an. Beim letzten Dämmerschein sahen wir noch tief unter uns die Hütten im Schweizer-Vermunt. Führt ein praktikabler Weg da hinab? und wenn, wie stand es dann mit der Brücke über die IllDie Ungewissheit über diese Fragen bewog uns, der Lockung, da unten Quartier zu suchen, zu widerstehen und beharrlich vorwärts zu dringen, trotzdem, dass einer unserer Genossen, welcher kurz zuvor einen Fuss übertreten hatte, durch das Stolpern und Straucheln im zähen, Steine und Löcher verbergenden Gestrüpp von starken Schmerzen im verletzten Gliede befallen wurde.

Endlich war die Biegung, welche das Vermuntthal gegen Osten macht, erreicht und nun glaubten wir des nahen Zieles sicher zu sein. Mittlerweile war es zwar Nacht geworden und statt des ersehnten silbernen Mondlichts floss ein sanfter Regen auf uns nieder. Die Orientirung war, da weder Terrain noch Karte mehr zu erkennen waren, sozusagen unmöglich geworden. Nur die Richtung stand fest. Die wachsenden Schmerzen unseres leidenden Gefährten zwangen zu immer langsamerem Schritte, und trotz der grossen Energie, die er bewies, sahen wir den Moment nahen, wo seine Kräfte versagen mussten. Weiter und weiter waren wir ostwärts thalein gezogen, die Mündung des Ochsenthales und die Bielerhöhe erschienen in nicht mehr grosser Entfernung, aber keine Hütte war weit und breit zu sehen.

Um Mitternacht hielten wir auf freiem Wiesenplan. Unser Patient war nicht mehr im Stande, weiter zu marschiren. Zudem m u s s t e die Hütte hier in der Nähe sein. Zwei Jahre früher hatte ich sie bei Nebel und Schneegestöber und in einer Gesellschaft betreten, welche meine ganze Hülfe und Unterstützung in Anspruch genommen hatte. Es war mir damals nicht möglich, mir die Oertlichkeit genau einzuprägen, aber die Nähe der Bielerhöhe war uns Beweis genug, dass wir nicht ferne vom schützenden Obdach sein konnten. Alles Johlen und Rufen, mit welchem wir seit geraumer Zeit das Thal erfüllten, verhallte scheinbar ungehört. Nur das gedämpfte Gebimmel der Schafe vom Berghang antwortete uns. Eine letzte Recognoscirung, welche zwei der Gefährten vornahmen, während ich Wache bei dem schlafenden Patienten und dem Gepäck hielt, wobei ich selbst stehend Mühe hatte, den Schlaf abzuwehren, um stets durch Johlen und Schreien die Verbindung mit den Streifenden aufrecht zu erhalten, ergab kein Resultat. Es war 1 Uhr geworden. Schweigend legten wir uns auf einen der Plaids nieder, wobei die Flügelmänner noch zur Hälfte in 's nasse Gras zu liegen kamen. Noch einmal ging die Schnapsflasche und der Brodlaib in die Runde, dann deckten -wir uns mit den andern drei Plaids zu und stille wurde es im weiten Thal.

Hätte uns der Träger nicht so unverantwortlich aufgehalten oder wäre der Führer Kleboth zu Hause gewesen, wir lägen längst schlafend in der warmen Hütte. Zum Glück hatte wenigstens der Regen aufgehört.

Als der erste Morgendämmerschein sich mühsam Durchpass durch die tief herabhängende Wolkendecke erzwang, wurde es lebendig in unserem Lager. Gegen 4 Uhr verliessen wir dasselbe. Die Bewegung und die warmen Strahlen der aufgehenden Sonne führten bald Wärme und Gelenkigkeit in unsere steifen, erfrorenen Glieder zurück und endlich gewahrten wir von der Bielerhöhe aus auch die ersehnte Alphütte, deren Schornstein bläulicher Rauch entstieg. Kaum fünf Minuten von unserem Lagerplatz entfernt, aber eine kleine Bergstufe tiefer und desshalb bisher nicht sichtbar, lag sie auf grünem Wiesenplan. Gegen halb sechs Uhr hielten wir unsern Einzug. Kleboth war bald, nachdem unsere Rufe verstummt waren, mit dem Proviant angekommen und lag in dem Heuschragen, auf welchen wir vergebens gehofft hatten.

Alois Pfeiffer, der freundliche Schafhirt, welcher uns in seinem Bärenschlaf nicht gehört hatte, kochte uns rasch warme Milch und nach einer halben Stunde fühlten wir uns wieder wohl, warm und kräftig.

Der Himmel belohnte unsere Beharrlichkeit, denn draussen hatte unterdessen die Sonne die Herrschaft gewonnen und versprach einen schönen Tag.

Gegen 7 Uhr Morgens brachen wir zu Dritt mit Kleboth auf, um den grossen Buin zu besteigen.

Unser Invalide blieb in der Alphütte zurück. Der fast ebene Weg durch 's Ochsenthal am rechten Illufer, an den Trümmern eines Steinsbergischen Wappensteins und eines. geräumigen Hauses, das « Veltlinerhüsli » genannt, vorüber bis zum Absteig des Ochsenthaler-ferner's wurde in V/2 Stunden zurückgelegt.

Früher sollen in dieser Gegend grosse Viehmärkte stattgefunden haben, wobei es im Veltlinerhüsli hoch herging. Jetzt zeugen kaum mehr drei Mauern von der entschwundenen Pracht.

Wir betraten den Ochsenthalferner von der rechten Seitenmoräne aus. Der reichliche Winterschnee machte das Seil überflüssig und gestattete ein rasches Fortkommen. Wir hielten uns ziemlich nach rechts, gegen das linke Gletscherufer zu. Vor uns reckten die beiden Buine ihre wilden Wände majestätisch in den tiefblauen Aether. Blauschimmernde Séracs glänzten uns aus der Gletscherwölbung rechts unter dem grossen Buin entgegen. Wir umgingen sie in weitem Bogen nach Westen, wobei wir kurze Zeit durch den Schuss-bereich der Hanggletscher marschiren mussten, welche in prächtigen Gebilden über dem Felsfuss des Silvretta-hornes erscheinen und successive auf unsern Gletscher abbröckeln. Es ist diess die einzige Gefahr bei der ganzen Partie, indess dauert sie nur kurze Zeit.

Der Schnee war nachgerade von der brennenden Julisonne erweicht worden und machte den Anstieg mühseliger. Selbst Kleboth's Hund « Arni », der zum, zweiten Mal den grossen Buin zu besteigen sich anschickte und auch schon auf dem Fluchthorn gewesen. war, gab es auf, die von den Uferwänden herabfallen- den Steine gewissenhaft zu apportiren und folgte mit eingezogenem Schweif misera tiefen Fussstapfen.

Es war eben Mittag, als wir in der Lücke zwischen den beiden Buin ankamen. Eine ausgiebige Rast war nach dem langen Schneewaten bei brennendem Sonnenglast zum Bedürfniss geworden.

Um 1 Uhr griffen wir das eigentliche Horn des Buin an. Zunächst geht es über eine ziemlich steile Felshalde im Südwesten des Berges nach einem kleinen Einschnitt im Hauptgrate desselben zu.

Der weiche Schnee, welcher in so früher Jahreszeit die Halde noch bedeckt und bei jedem Tritte abrutscht, macht tiefes Eingreifen mit Händen und Fussen nöthig. In massiger Zeit ist jener Einschnitt erreicht und wir wenden uns östlich in ein sehr enges, kurzes Kamin, dessen Sohle leider blankes Eis zeigt, Doch bieten die Wände links und rechts Anhaltspunkte für Hand und Fuss genug, um nach kurzer Anstrengung sich durchzuzwingen. Ein Abrutschen würde hier kritisch werden, da die Fallrichtung hinaus über den Gratrand und hinab nach dem tief unten liegenden Ochsenthalferner geht* ). Das Kamin mündet in eine Schutthalde aus, welche sich ohne Unterbrechung bis zum Gipfel hinzieht, welchen wir denn auch um 2 Uhr 30 Minuten ohne weitere Schwierigkeit erreichten.

Die Aussicht war wundervoll hell und klar. Weilenmann hat dieselbe mit bekannter Meisterschaft ge- schildert* ). Es ihm darin gleiclithun zu wollen, wäre vergebliches Bemühen.

Eine volle Stunde gaben wir uns der herrlichen Kundschau hin, dann traten wir den Rückweg an. Das Kamin wurde glücklich passirt. Ami, der brave Alpenhund, musste zwar in einen Rucksack gesteckt und am Seil hinabgelassen werden, eine zarte Rücksicht für sein Leben, für welche er nur ein sehr geringes Verständniss an den Tag legte. Die schneebedeckte Felshalde wurde in'flotter Abfahrt zurückgelegt, dann ging 's rascher als Morgens in unseren Fussstapfen über den Gletscher hinab und um 5 Uhr 30 Minuten, zwei Stunden nach Verlassen des Gipfels, betraten wir wieder den abernBoden unter dem Absturz des Ochsenthalferners.

Abends 8 Uhr trafen wir wieder in der Hütte auf der Grossvermuntalpe ein.

Kleboth, welcher unvorsichtigerweise keine Schneebrille bei sich hatte, war, gleich seinem Hunde, schneeblind geworden und musste nach Hause geschickt werden. Er litt sehr grosse Schmerzen, lag einen Tag zu Bette und musste noch einige Zeit dunkle Brillen tragen. Auch uns hatte die Hitze stark zugesetzt. Gesicht und Hände waren vom Schneebrand schwarzbraun geworden und geschwollen. Ein gelindes Fieber war die natürliche Folge dieser Entzündung,Siehe Jahrbuch des S.A.C. III, pag. 47 und „ Aus der Firnenwelt ", neue Folge, Leipzig, Liebeskind, pag. 177 u. s. f.

Würde vielleicht besser aper geschrieben vom lateinischen apertus.

gegen welche es, so weit meine und meiner Freunde Erfahrung reicht, ein wirksames Schutzmittel nicht gibt, so dass ich mich längst daran gewöhnt habe, sie gleich einem unvermeidlichen Elementarereigniss über mich ergehen zu lassen.

Wie sehr verschieden das Maass der körperlichen und geistigen Widerstandsfähigkeit ist, je nachdem Kälte oder Hitze herrscht, hatte ich in der Folge Gelegenheit zu erproben.

Bei der Besteigung des Fluchthorns, gegen welche die Tour auf den Buin in Bezug auf Anstrengung und Ausdauer ein wahres Kinderspiel war, bei welcher wir aber anhaltend kaltes Wetter hatten, conservirten sich meine geistigen und körperlichen Kräfte viel besser als am Tage der Buinbesteigung, nach welcher ich physisch und moralisch sehr abgespannt und so zu sagen demoralisirt war.

Wer den Vermuntpass überschreitet, kann mit einem Mehraufwand von circa zwei Stunden den grossen Buin leicht besuchen.

Die Unterkunft auf der Grossvermuntalpe ist sehr freundlich und so gut, als man sie auf einer Hochalpe eben verlangen kann. Uebrigens will der jetzige Pächter ( der berühmte Passeirer Jock ', « Pfitscher » ist schon längst weggezogen ) ein Touristenhaus auf der Bielerhöhe bauen wodurch das Bedürfniss nach einer Clubhütte daselbst wegfällt.

Mit dem Abgang Kleboth's, welcher mit unserem fussleidenden Gefährten am nächsten Morgen thalaus zog, fiel für einmal wieder der Plan, auf 's Fluchthorn zu steigen, dahin.

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