«Kein LVS-Training ohne medizinische Ausbildung»
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

«Kein LVS-Training ohne medizinische Ausbildung» Tourengänger sollten Erste Hilfe beherrschen

Die medizinische Hilfeleistung durch unverschüttete Kameraden ist für Lawinenopfer meist die einzige Überlebenschance. Das zeigt eine neue Studie. Für die Forscher ist deshalb klar, dass mit Wiederbelebungsmassnahmen begonnen werden muss, noch bevor das Unfallopfer vollständig ausgegraben ist.

Es geht um jede Sekunde: Totalverschüttete Lawinenopfer haben vor allem dann eine realistische Chance, den Unfall ohne schwere Schädigung zu überleben, wenn sie innerhalb von 15 Minuten ausgegraben und medizinisch erstversorgt werden. Weil aber nur in den seltensten Fällen professionelle Retter die Unfallstelle innerhalb dieser Zeit erreichen, kommt der Kameradenrettung eine ungeahnte Bedeutung zu. Dies hat eine Studie der Medizinischen Universität Innsbruck ergeben.

Dabei geht es nicht nur darum, einen Verschütteten mit dem Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS) möglichst schnell zu finden, sondern auch darum, ihn dank Training mit System effizient auszugraben. Und genauso wichtig sind die sofortigen Wiederbelebungsmassnahmen. Warten auf Rettungshelikopter und Arzt liegt nicht drin. Die Studiengruppe um den Notarzt Bernd Wallner von der Medizinischen Universität Innsbruck hat es wissenschaftlich nachgewiesen: Die Überlebenschancen von Totalverschütteten werden massiv erhöht, wenn nicht verschüttete Kameraden richtig und effizient graben und so rasch wie möglich mit Reanimation, Beatmung und Herzmassage beginnen.

Überleben nur dank Laien

Die österreichischen Forscher analysierten zusammen mit Spezialisten des Forschungszentrums Eurac Research in Bozen Lawinenunfälle mit insgesamt 55 Opfern, die nach der Verschüttung einen Herz-Kreislauf-Stillstand erlitten haben. 32 Personen (58%) davon konnten erst nach mehr als 35 Minuten geborgen werden und wurden vom Notarzt für tot erklärt, ohne dass vorher mit einer Herz-Lungen-Wiederbelebung begonnen wurde. Bei 23 Lawinenopfern (42%) wurde vor Ort am Lawinenfeld eine erfolgreiche Herz-Lungen-Wiederbelebung durchgeführt. Die Forscher konnten aufzeigen, dass lediglich jene Opfer ohne Spätfolgen überlebten, bei denen Laien vor Eintreffen des Notarztes eine sofortige Reanimation durchführten.

«Diese Daten und Zahlen sind für uns Notärzte sehr ernüchternd», zieht Wallner Bilanz. Die Ende Oktober an der Schweizer Bergrettungsmedizin-Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für Gebirgsmedizin (SGGM) in Interlaken vorgestellten Forschungsergebnisse zeigen zwar, dass Lawinenopfer mit Herz-Kreislauf-Stillstand und kurzer Verschüttungszeit ohne Spätfolgen überleben können, sofern Laien vor Ort sofort eine Reanimation einleiten. Umgekehrt heisst dies aber, dass faktisch so gut wie jedes noch so rasch geortete bewusstlose oder nicht mehr atmende Lawinenopfer verstirbt, wenn es keine entsprechende medizinische Erstversorgung erhält.

Für den Rettungsarzt Bernd Wallner steht damit fest: Mit einer effizienten Grabungstechnik und einer richtigen medizinischen Erstversorgung durch Laien können die Überlebenschancen von Lawinenopfern noch deutlich verbessert werden. Dazu seien Schneesportler aber nur in der Lage, wenn sie auch entsprechend ausgebildet würden. «In den vergangenen Jahren ist der Fokus bei der Ausbildung ausschliesslich und zu stark auf die Anwendung der LVS gelegt worden», sagt er.

Keine falsche Zurückhaltung bei der Reanimation

Und welches sind die richtigen Konsequenzen? Für Studienleiter Wallner steht ausser Zweifel, dass sich die Einstellung gegenüber der Reanimation durch Laien und die Erste-Hilfe-Ausbildung von Wintersportlern grundlegend ändern müssen. «In der Praxis bedeutet das, dass keine LVS-Ausbildung und kein LVS-Training ohne gleichzeitiges medizinisches Training durchgeführt werden sollte», sagt er. Und: Es müssten in bergtechnischen Kursen verstärkt auch das effiziente Ausgraben des Lawinenopfers nach erfolgter Ortung und die Reanimation unter schwierigsten Bedingungen instruiert werden. Nur so würden Nichtverschüttete befähigt, die einzelnen Massnahmen (Freimachen der Atemwege, Beatmung, Herzdruckmassage) auch richtig und ohne falsche Zurückhaltung und Ängste anzuwenden. «Volle Pulle» heisse dabei das Motto, es gehe um Sekunden, und kaputt machen könne man damit nichts.

Die Studienergebnisse beantworten auch die Frage, ob es Sinn ergibt, ein Lawinenopfer bereits im Lawinenkegel und bei laufender Ausgrabung zu reanimieren. «Keine Frage! Wenn die Atemwege frei sind, gilt es unverzüglich Atem zu spenden», sagt Bernd Wallner. Der engagierte Notarzt und seine Forscherkollegen gehen davon aus, dass es weder sinnvoll noch notwendig ist, einen Verschütteten komplett auszugraben und auf die Lawinenoberfläche zu bringen. Nur sofortige Reanimation durch Laien bringe eine wesentliche Zeitersparnis und somit einen weiteren Überlebensvorteil.

Offene Ohren beim SAC

Beim Schweizer Alpen-Club zeigt man sich interessiert an den neuen Studienresultaten. Man wisse zwar seit vielen Jahrzehnten, dass die Kameradenrettung und die Reanimation bei Lawinenunglücken von grösster Bedeutung seien, so fundiert und wissenschaftlich gestützt habe man das bisher aber nie begründen können.

SAC-Ausbildungschef und Bergführer Bruno Hasler sagt: «In den SAC-Kursen wird bereits seit Jahren mit System sondiert und geschaufelt.» Daneben biete der Zentralverband auch Erste-Hilfe-Kurse an, in denen die Reanimation an Übungspuppen geschult werde. Ein angehender SAC-Toureneiter muss als Zulassung zum Tourenleiterkurs einen Lawinen- und einen Erste-Hilfe-Kurs vorweisen. Eine schnelle und effiziente Rettung inklusive Reanimation sei sehr wichtig, sagt Hasler. «In den SAC-Lawinenkursen wird der Schwerpunkt jedoch auf die Lawinenprävention gelegt, denn Unfallvermeidung kommt vor schneller Rettung.»

Feedback