Manager mit viel Forscherblut
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Manager mit viel Forscherblut Der Direktor des Nationalparks geht in Pension

23 Jahre lang hat der Wildtierbiologe Heinrich Haller den Schweizerischen Nationalpark geleitet und das einzigartige Wildnisgebiet erfolgreich in die Gegenwart geführt.

Weit erstreckt sich die Hochebene Jufplaun gegen Süden, abgegrenzt vom Piz Daint auf der östlichen und vom Munt Buffalora auf der westlichen Seite. Heinrich Haller setzt seinen Feldstecher an und äugt in die schuttdurchsetzte Felsflanke des Munt Buffalora. «Oft brütet hier ein Kolkrabenpaar, heuer hat es aber einige Kilometer weiter südlich genistet», sagt er. Kennt er denn alle Kolkraben, die im Nationalpark ein- und ausfliegen, persönlich? «Es ist eher so, dass einige von ihnen mich kennen und mich teilweise sogar begleiten», sagt Haller. Es ist eine typische Antwort für den Wildtierbiologen, der schon als 17-Jähriger ein Uhupaar beobachtet und eine 100-seitige Studie über die Biologie der Uhus verfasst hat. Doktoriert hat er mit der Dissertation Raumorganisation und Dynamik einer Population des Steinadlers in den Zentralalpen und habilitiert mit der Arbeit zur Ökologie des Luchses im Verlauf seiner Wiederansiedlung in den Walliser Alpen.

In Heinrich Haller steckt ein Hardcoreforscher, der im Feld über zwei Jahrzehnte hinweg in teilweise horrendem Tempo Tausende Kilometer und Höhenmeter abspulte, um seinen Studienobjekten nachzustellen – natürlich nicht mit der Flinte, sondern mit Notizbuch und Fotoapparat. Fast 40-jährig, gab er 1993 den Rücktritt vom «Spitzensport im Feld» und trat den ersten Schreibtischjob als Leiter des Naturmuseums St. Gallen an. Drei Jahre später wurde er Direktor des Schweizerischen Nationalparks.

Tabuzonen für die Natur

Heute, nochmals 23 Jahre später, führt Heinrich Haller zu einem seiner Lieblingsberge im Nationalparkgebiet, dem 2587 Meter hohen Munt la Schera hoch über der Ofenpassstrasse. Der «Munt», was auf Rätoromanisch «Hügel» bedeutet, wurde vom Gletscher überfahren und ist – wie Haller es ausdrückt – «mit wenig Reliefenergie» ausgestattet. Heinrich Haller ist kein typischer Gipfelstürmer, schon gar kein Hasardeur. «Zum einen sind zu viele Bekannte und auch nahe Verwandte von den Bergen nicht zurückgekehrt», sagt er sichtlich bewegt. Zum andern begeistert ihn die Bergnatur als Ganzes: ihre gestalterische Urkraft, ihr geologischer und biologischer Reichtum – vor allem wenn er ursprünglich und unberührt ist. «Neben den Gebieten mit mehr oder weniger eingeschränkter Nutzung braucht es auch Tabuzonen, wo Natur uneingeschränkt wirken kann», sagt der politisch durchaus liberal eingestellte Haller. Er zeigt auf die Val Nüglia auf der anderen Seite des Ofenpasses. «Da geht kein Weg hinein, und auch ich selbst war noch nie dort», sagt er. «Das hat mit Respekt zu tun.»

Respekt und Hochachtung empfindet er auch für die Gründer des ältesten Wildnisgebietes Mitteleuropas. Denn das ist der Nationalpark eigentlich – im Gegensatz zu vielen anderen Schutzgebieten, die auch «Nationalpark» heissen: ein Wildnisgebiet mit dem höchsten Schutzgebietsstatus gemäss der Weltnaturschutzunion (IUCN). «Die Gründer haben 1914 das Zeitfenster erkannt und genutzt. Es erfüllt mich mit Stolz, dass ich dieses Erbe weitertragen durfte», sagt Heinrich Haller.

Nationalpark unter Druck

Das Erbe weiterzutragen, war nicht immer einfach: Nur mit einiger Mühe schaffte es Heinrich Haller zusammen mit dem damaligen Stiftungsratspräsidenten und SP-Nationalrat Andrea Hämmerle und anderen wohlgesinnten Parlamentariern in Bern, dass im Jahr 2005 das Bundesgesetz über den Schweizerischen Nationalpark nicht im neuen Bundesgesetz über den Natur- und Heimatschutz aufging. Somit blieb die rechtliche Basis für den einzigartigen Schutzgebietsstatus des Schweizerischen Nationalparks erhalten.

Fünf Jahre zuvor hatte sich die Gemeindeversammlung Zernez deutlich gegen eine grosszügige Umgebungszone für den Nationalpark ausgesprochen. Die Gemeindeversammlung von Scuol dagegen sorgte 2015 mit ihrem Ja zu einer Pflege- und Entwicklungszone auf ihrem Gemeindegebiet dafür, dass das Gebiet mit dem Nationalpark als Kernzone als UNESCO-Biosphärenreservat anerkannt wurde. Die Bevölkerungen von Zernez und S-chanf sprachen sich mit knappen Mehrheiten aber einmal mehr gegen ein solches Vorhaben aus. Die Zeiten haben sich seit dem grossen Wurf von 1914 also definitiv geändert, doch Erfolge sind immer noch möglich. So gehört seit dem Jahr 2000 auch die Seenplatte von Macun zum Nationalpark.

Freiluftlaboratorium erster Güte

Trotz allen Wirren ist der Nationalpark unter der Ägide von Heinrich Haller also letztlich geblieben, was er immer war: ein Naturreservat für Tiere und Pflanzen in der Grösse des Fürstentums Liechtenstein – und für Forschende ein Freiluftlaboratorium erster Güte. Letzteres wusste Haller optimal zu nutzen: Die Zahl der Forschungsprojekte im Schweizerischen Nationalpark hat sich in seiner Amtszeit auf rund 60 pro Jahr vervielfacht, und auch die Themenbreite hat zugenommen. «Unser Anspruch ist es, Ökosystemforschung zu betreiben. Dank dem seit 105 Jahren geltenden totalen Prozessschutz ist das Gebiet des Schweizerischen Nationalparks zudem eine einzigartige Referenzfläche für generationenübergreifende Langzeitprojekte geworden», sagt er nicht ohne Stolz.

Auf dem Weg zum Gipfel des Munt la Schera hat Heinrich Haller einen Wanderstock mit scharfer Spitze dabei – zum Aufstecken von Unrat. Ausser zwei weggeworfenen Taschentüchern gibt es jedoch nichts zu entsorgen. Auf dem Gipfel lenkt die grenzenlose Aussicht das Gespräch auf eine weitgehend unbekannte Errungenschaft des Nationalparks: die Analyse des Raumes mittels eines Geoinformationssystems (GIS). Obwohl selbst alles andere als ein Computerfreak, erkannte Haller schon bald nach seinem Amtsantritt die Wichtigkeit dieses Instruments für die Lebensraumanalyse und förderte innerhalb der Nationalparkverwaltung den Aufbau eines GIS-Kompetenzzentrums für Schutzgebiete. Dazu zählen heute ein Serverraum in der Grösse eines Schlafzimmers, fünf GIS-Fachleute und drei ICT-Spezialisten. Sie sind Teil eines Teams von 40 Angestellten – dreimal mehr als vor 30 Jahren. Für die Öffentlichkeit sichtbar wurde dieser Ausbau vor allem mit der Eröffnung des Besucherinformationszentrums im Jahr 2008. «Mittlerweile generiert der Schweizerische Nationalpark eine touristische Wertschöpfung von rund 20 Millionen Franken jährlich», sagt Heinrich Haller. Von einer Überflutung des Parks mit Touristen könne aber keine Rede sein. «Die effektive Zahl der Menschen, die den Nationalpark betreten, hat in den letzten 20 Jahren kaum zugenommen. Allein der Gästeservice ist besser geworden.»

Der Samen ist aufgegangen

Beim Abstieg vom Munt la Schera nach Punt la Drossa macht Haller auf die Hirschspuren auf dem Weg aufmerksam, erzählt von den Zusammenhängen von Äsung und Pflanzenvielfalt und erkennt junge Buntspechte, die im Nest nach Futter betteln, an ihren Rufen. Besonders freut es ihn, zu sehen, dass sich junge Arven im Bergföhrenwald breitmachen. «Das ist das Werk unseres Logovogels, des Tannenhähers. Er versteckt als Nahrungsvorrat Arvennüsse. Einige keimen später auf, weil er sie vergessen hat, und sorgen so für die Erneuerung der Bergwälder», sagt er.

Auch Heinrich Haller selbst darf in dieser Hinsicht zufrieden sein: Viele der Samen, die er irgendwo in den Organismus des Nationalparks gesteckt hat, sind aufgegangen. Und jetzt? Klar ist, dass er sich total aus den Parkangelegenheiten zurückziehen wird. Als erster Nationalparkdirektor wird er aber nach der Pensionierung in Zernez wohnhaft bleiben. Ansonsten will er zuerst schauen, wie sich die neue Lebenssituation anfühlt, bevor er sich auf weitere Pläne festlegt. Nachdem er zwei Jahre an einem Muskelabriss am Oberschenkel laboriert hat, ist er inzwischen wieder fit und wird sicher wieder mehr Zeit in den Bergen verbringen – mit Notizbuch und Fotoapparat.

«Am Puls der Natur»

Zum Abschied von Heinrich Haller ist Band 108 in der Nationalpark-Forschungsreihe erschienen. Am Puls der Natur geht dem breiten Spektrum an Themen, Aufgaben und Konflikten nach, mit denen der Nationalpark in den letzten Jahrzehnten konfrontiert war. Autorinnen und Autoren aus den verschiedensten Disziplinen befassen sich mit wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Fragen rund um den Nationalpark und mit der Person des scheidenden Direktors. Haupt Verlag, 2018, ISBN 978-3-258-08018-5, Fr. 39.–

Ruedi Haller wird neuer Direktor

Nein, Heinrich und Ruedi Haller sind nicht verwandt. Aber kennen tun sie sich gut. Der 53-jährige promovierte Geograf Ruedi Haller arbeitet schon seit über 20 Jahren beim Nationalpark. Er hat die GIS-Abteilung aufgebaut und war zuletzt Leiter des Bereichs Forschung und Geoinformation. «Ich weiss, was mich erwartet», sagt er und: «Ich freue mich darauf.»

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