Mit Alpinismus zur Emanzipation
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Mit Alpinismus zur Emanzipation Afghanische Frauen entdecken das Bergsteigen

Drei afghanische Bergsteigerinnen waren kürzlich in Chamonix, darunter die erste, die den Noshak (7492 m) bestiegen hat. Sie erzählten davon, wie die Berge ihnen helfen, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen – in einem Land, in dem die Unterdrückung von Frauen immer noch die Norm ist.

An einem Freitag im Juni bricht ein nebliger Tag im Vallée de Chamonix an. Drei Frauen winden sich nacheinander aus einem grauen Zelt, in dem sie die Nacht verbracht haben. Obwohl sie zurückhaltend sind, bleiben die etwas anderen Bergsteigerinnen auf dem Campingplatz Glacier d’Argentière nicht unbemerkt. Zwei von ihnen tragen den Hijab, die dritte eine einfache Mütze. Hanifa, ihre Cousine Shogufa und Mariam kommen aus Afghanistan. Es ist ihr erstes Mal im Westen. Noch vor vier Jahren wusste keine von ihnen, was ein Pickel ist. Und heute sind sie in Chamonix, der Welthauptstadt des Bergsteigens, mit Steigeisen an den Füssen und angeseilt. Sie wollen hier in einer Ausbildung ihre Bergsteigertechnik perfektionieren. Organisiert wird der Kurs von der amerikanischen Nichtregierungsorganisation Ascend. Diese hat das Ziel, das Vertrauen afghanischer Frauen zu stärken und sie durch Bergsteigen und Sport zu bilden.

Oft sind die Gipfel im Innern

Mehr als anderen Menschen aus den Bergen ist diesen Frauen bewusst, dass die von ihnen begehrten Gipfel vor allem innerlich sind. Hanifa, mit 24 Jahren die älteste der drei, hat letzten Sommer einen erreicht. Der Noshak (7492 m), der höchste Punkt im Land von Hanifa, war noch nie zuvor von einer Frau bestiegen worden. Oben angekommen, kniete sich die 1,57 Meter grosse Afghanin nieder, küsste den Boden, stand auf, um ihre Nationalflagge im Wind zu entfalten, und rief spontan und trotz Müdigkeit und Sauerstoffmangel mehrmals: «Hoch die Mädchen aus Afghanistan!» Marina LeGree, Gründerin von Ascend, weiss: «Dieser Erfolg und der lange Weg, der sie dorthin führte, haben sie zu einer selbstbewussteren Frau gemacht, die heute in Schulen spricht und für viele andere zu einem Symbol der Hoffnung geworden ist.»

Zwei Jahre durch die Hölle

Die junge Frau hat einen langen Weg hinter sich, und es scheint, als wäre ein Teil von ihr selbst auf der Strecke geblieben. Man sieht es in ihren Augen. Es ist, als würde ein Schleier des Leidens sie ständig verhüllen. Nur flüchtig hebt er sich, wenn sie lächelnd vom Traum erzählt, der sie beseelt: «Ich möchte Bergführerin werden und den Everest besteigen!»

Hanifa hat lange das Leben einer typischen afghanischen Frau geführt. Sie wurde als das jüngste von neun Kindern einer armen Familie in Kabul geboren. Sie kann weder lesen noch schreiben und spricht sehr wenig Englisch. Im Alter von 14 Jahren wurde sie mit einem entfernten Cousin zwangsverheiratet. Danach lebte sie in Pakistan und ging dort zwei Jahre lang durch die Hölle, bevor sie floh. Ihr Mann hatte sie geschlagen und im Haus eingesperrt.

Nachdem sie sich mehrere Jahre im Haus ihrer Eltern von der Welt abgeschottet hatte, waren die Entdeckung von Ascend und das Bergsteigen für sie wie eine Wiedergeburt. Auch wenn dadurch ihre Probleme offensichtlich nicht auf wundersame Weise verflogen waren.

Wie eine Löwin in Freiheit

«Als ich in die Berge kam, war es, als hätte man meinen Käfig geöffnet. Von da an habe ich mich entschieden, eine mächtige Frau zu werden, die anderen hilft», sagt Hanifa, die heute ein kleines Gehalt als Projektassistentin in der NGO Ascend erhält und Neuankömmlingen das Klettern beibringt. Davor musste Marina LeGree Hanifas Vater davon überzeugen, ihr zu vertrauen. «Ohne die Zustimmung des Familienoberhaupts zu handeln, würde die Mädchen in Gefahr bringen», betont die 40-jährige Amerikanerin. Sehr oft haben die Angehörigen der 24 jungen Frauen, die die NGO jedes Jahr betreut, ganz andere Ansichten. Zum Beispiel drohte Hanifas Onkel, sie zu töten, wenn der Name ihrer Familie in der Presse veröffentlicht würde. Als die Bäckerei in ihrer Nachbarschaft einen Artikel über ihre Erstbesteigung des Noshak aufhängte, entfernte ihn die junge Frau deshalb sofort.

«In Afghanistan hat jeder Angst vor dem, was andere über ihn sagen könnten. Und trotzdem tun die Extremisten immer noch, was sie wollen», erklärt Marina LeGree. Die meisten Frauen in der Obhut der NGO hätten denn auch schon ein Familienmitglied bei einem Attentat verloren. Shogufa, die bei der Noshak-Expedition vor dem Gipfel aufgeben musste, erfuhr bei ihrer Rückkehr, dass vier Verwandte während ihrer Abwesenheit bei einem Selbstmordanschlag in einer Moschee getötet worden waren.

Das Gespenst der Zwangsheirat

Shogufa ist durch eine Präsentation an ihrer Schule mit Ascend in Kontakt gekommen und hat mit Hanifa darüber gesprochen. Sie ist nur fünf Jahre jünger als Hanifa, aber zwischen den zwei Frauen liegen Welten. Shogufas Blick flieht nicht. Sie spricht fliessend Englisch und ist die Erste in ihrer Familie, die lesen und schreiben kann. Dank dem Studium konnte sie auch eine Zwangsheirat aufschieben. «Ich möchte, dass es in meinem Land eines Tages möglich ist, sich gegen die Heirat zu entscheiden. Sollte ich heiraten, dann den Mann meiner Wahl. Er müsste meine Liebe zu den Bergen respektieren», bekräftigt die junge Frau, als ob sie sich dies selbst verspräche. Das wird kein einfaches Unterfangen! In der Vergangenheit heirateten zwei ehemalige Ascend-Mitglieder zwei Bergler, die überdurchschnittlich offen waren. Aber sehr schnell gaben sie dem sozialen Druck nach und verboten ihren Frauen schliesslich, Sport zu treiben.

Die Berge als Medizin

Die Freiheit, die sie hier auf dem Campingplatz erlebt, überrascht Shogufa. «Hier ist es normal, dass Männer und Frauen zusammen in die Berge gehen. Man fühlt sich sicher. Man kann frei sein, kann miteinander reden, ohne Angst vor den Blicken der anderen haben zu müssen. Allein deswegen könnten die Frauen in meinem Land getötet werden, weil viele Afghanen denken, dass Frauen zu Hause bleiben sollten. Sie sehen nicht ein, dass das ungerecht ist.» Diese Realität ist für die junge Bergsteigerin schwer zu schlucken. Seit ihrer Kindheit klettert sie gerne auf Bäume, und sie hasst es, wenn ihr jemand sagt, was sie tun soll. «Tatsächlich fühle ich mich wie ein Mann», sagt sie mit einem Lächeln.

Die 20-jährige Mariam nickt. Sie hat neben dem Bergsport auch das Yoga über Ascend entdeckt. Beides wirkte für sie therapeutisch, läuternd gar. «Diese Aktivitäten haben mein Leben verändert», sagt sie mit überzeugter Stimme. «Früher war ich schüchtern, jetzt spreche ich ohne Mühe. Früher war ich deprimiert, jetzt bin ich glücklich.» Zu Beginn hatte sie in den Bergen manchmal Angstzustände. Seit einem Jahr sind sie jedoch nicht mehr aufgetreten. Wie ihre beiden Kameradinnen ist die Studentin Mitarbeiterin von Ascend. Sie träumt davon, eine eigene Yogaschule und eine Organisation wie Ascend zu gründen, in der Mädchen und Jungen gemeinsam in die Berge gehen können.

«Die Kraft der Natur kann uns helfen, gesund zu werden. Dieses Argument benutzen wir oft, um die Frauen zu ermutigen, ihre Emotionen auszudrücken und sich auch gegenseitig zu helfen, was in ihren Ländern aus kulturellen Gründen nicht üblich ist», erklärt Marina LeGree.

Und in zehn Jahren auf dem Everest?

In Afghanistan werden Berge eher als unwirtliche Orte angesehen, die Krieg und Gewalt begünstigen. Indem Hanifa, Shogufa und Mariam sie wieder zu Orten der Freude und Freiheit machen, brechen sie mit einer weiteren Vorstellung, die sie einschränkt.

Rob Spencer, der britische Bergführer, der sie in Chamonix betreut, ist verblüfft über ihren Willen, Fortschritte zu machen, und ihre natürliche Trittsicherheit, aber auch über ihre grosse Leidensfähigkeit und die Bereitschaft, Schwierigkeiten zu trotzen. Shogufa veranschaulicht all dies perfekt, als sie nach unserem Gespräch wieder in die Berge aufbricht. Ein Seil unter dem Arm, sagt sie voller Enthusiasmus: «In zehn Jahren werden wir, so Gott will, Leaderinnen sein. Wir werden zum Gipfel des Everest aufgestiegen sein, und wir werden das Bergsteigen und die Frauen Afghanistans damit vorangebracht haben!»

Wandel über Frauen anstossen

Von 2005 bis 2012 war Marina LeGree in Afghanistan in der humanitären Entwicklungszusammenarbeit tätig. Diese Zeit hat nicht nur positive Erinnerungen hinterlassen. «Dort habe ich das Schlimmste gesehen, zu dem Menschen fähig sind», sagt sie und erwähnt insbesondere die Selbstmordattentate. Die 40-jährige Amerikanerin stellte aber auch fest, dass bei den Fachleuten für humanitäre Hilfe und Entwicklung viele Dinge nicht in Ordnung waren. Für viele von ihnen sei dieser Sektor ein Geschäft wie jedes andere. Unter dem philanthropischen Mantel versteckten sich oft andere Motive. Es gehe mehr darum, sein Ego aufzublasen und die Brieftasche zu füllen, als darum, wirklich etwas zu bewirken. Überzeugt, dass «Wandel in Afghanistan nur über die Frauen möglich ist», gründete Marina LeGree 2015 die NGO Ascend mit dem Slogan «Leadership through athletics». Ihre NGO kümmert sich derzeit um eine Gruppe von 24 jungen Frauen im Alter von 15 bis 24 Jahren. Sie gehen in die Berge, machen aber auch Fitness und Yoga. Gleichzeitig werden ihre sozialen Kompetenzen und ihre Führungsqualitäten gefördert. www.ascendathletics.org

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