Nicht der Bär ist das Problem Schwindende Akzeptanz in Italien
Während in der Schweiz jedes Auftauchen eines Bären zum Medienereignis wird, leben im Naturpark Adamello Brenta nach einer erfolgreichen Wiederansiedlung rund 40 Braunbären. Doch die Akzeptanz in der Bevölkerung bröckelt.
Man wähnt sich in die Zeiten von Alpöhi und Geissenpeter zurückversetzt. Lorenzo Rocca hält den Finger in die Milch, die er im Kupferkessel über der Glut der offenen Feuerstelle erwärmt: «Ein paar Minuten noch, dann können wir mit dem Käsen beginnen.» Neben einer stattlichen Schar Ziegen verbringen auch 100 Kühe den Sommer auf der Alp Cimrido, die sich auf einer breiten Krete auf 1800 Metern über Meer zwischen den Gebirgszügen des Adamello und der Brenta findet: eine Landschaft wie aus dem Bilderbuch.
Rocca ist zusammen mit seiner Freundin und einem Kollegen auf der Alp. Dank Sömmerungsbeiträgen der Kuhbesitzer sowie Zuschüssen der Provinzregierung und aus Brüssel kommt er gut über die Runden. Das Geld reiche, um auch den Winter zu überbrücken – mit durchschnittlich 1000 Franken im Monat ist das eine bescheidene Existenz. Da kommt es auf jede Ziege und jede Kuh an.
Die Natur solls richten, nicht der Mensch
Man kann den 24-Jährigen verstehen, wenn er über die Bären schimpft, die sich ab und zu auch auf der Alp blicken lassen – zwei Ziegen hätten sie schon geholt. «Ich habe nichts gegen sie, und sie sind willkommen, wenn sie sich hier selber ansiedeln. Doch dass der Mensch dabei auch noch nachhilft, das geht zu weit. Die Natur soll entscheiden, und nicht der Mensch», meint er. Dass er für den bärenbedingten Verlust seiner Ziegen entschädigt worden ist, räumt Rocca dann aber erst auf Nachfrage ein.
Andrea Mustoni ist Wildtierexperte beim Naturpark Adamello Brenta. Er kann der Kritik des Bauern nichts abgewinnen. Der Braunbär war einst im ganzen Alpenraum verbreitet und wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert bis auf einige wenige Tiere in Enklaven ausgerottet, «weil man ihn als Nahrungskonkurrenten und als Gefahr für Nutztiere empfand». Damals, als die Menschen kaum mehr als eine Kuh oder ein paar Ziegen hatten, sei das sicher richtig gewesen. «Doch heute haben wir eine andere Ausgangslage. Niemand ist mehr existenziell von seinen Nutztieren abhängig, und wir stehen auch in der Schuld der Bären, die wir so gnadenlos ausgerottet haben. Jetzt, wo es wieder Platz für sie gibt, müssen wir ihnen den Platz gewähren», sagt Mustoni.
Stetig wachsende Bärenpopulation
Rund 40 Braunbären leben heute im Naturpark Adamello Brenta. Vor zehn Jahren sind es gerade noch drei gewesen – es war der kümmerliche Rest einer einst stattlichen Population, es waren aber auch die letzten Bären in den zentralen und westlichen Alpen. Die wundersame Vermehrung wäre ohne menschliche Hilfe nicht möglich gewesen. Acht Bären aus Slowenien, wo noch eine stattliche Population von rund 500 Tieren lebt, wurden im Rahmen des Projektes Life Ursus in den Jahren 1999 bis 2001 angesiedelt. Es funktionierte. Schon im Jahr 2000 gab es ersten Nachwuchs, und seither ist die Population stets gewachsen. Inzwischen sind die Bären dabei, sich auch ausserhalb des Naturparks dauerhaft zu etablieren. «Wir haben unser erstes Ziel erreicht. Wir haben eine stabile Population, die aber noch zu klein ist, um sich auf lange Sicht selbst zu erhalten», sagt Mustoni. Das zweite Ziel blieb unerreicht.
Keine Freude an den Bären
Weder werden die Bären von der Bevölkerung breit akzeptiert noch blickt jemand mit Stolz auf die gelungene Wiederansiedlung. Daran haben auch jahrelange Aufklärungskampagnen nichts geändert. Der Parkranger Gilberto Volcan erzählt etwa von einem Autofahrer, der die Polizei verständigte, nachdem eine Bärin mit ihren Jungen die Strasse gekreuzt hatte. Er hatte Angst um seinen Sohn im Kindersitz. Ein Grossaufgebot der Feuerwehr suchte nach der Bärenfamilie. Sie hatte sich längst verzogen. «Doch was hätte passieren sollen?», fragt Volcan. «Der Mann hätte sich freuen können, zu den wenigen zu gehören, die überhaupt einen Bären zu Gesicht bekommen. Im Auto bestand keinerlei Gefahr. Und auch wenn er mit seinem Sohn im Wald Pilze gesammelt hätte, hätte die Bärin mit allergrösster Wahrscheinlichkeit einen grossen Bogen um ihn gemacht.» Tatsächlich sind die Begegnungen zwischen Mensch und Raubtier extrem selten. Volcan selbst hat die Bären nur ein paar wenige Male zu Gesicht bekommen: «Bären gehen dem Menschen aus dem Weg. Sie verziehen sich tagsüber meistens in die hoch gelegenen Wälder. Nur nachts kommen sie in die tieferen Lagen, um ihre Leibspeise, Bucheckern, die Nüsse der Rotbuche, zu fressen.»
70 Prozent der Bärennahrung ist vegetarisch. Das können auch mal frische Kirschen oder Äpfel sein. Edoardo Lattuada, der vor den Toren des Tourismusortes Madonna di Campiglio Ferien auf dem Bauernhof anbietet, zeigt mächtige Kratzspuren am Stamm eines Kirschbaumes. Sie stammen von einer Braunbärin, die mit ihren Jungen auf Nahrungssuche war. Sie habe es sogar geschafft, unter einem Elektrozaun durchzukriechen und zwei Kaschmirziegen zu reissen. «Das ist bedauerlich, aber damit müssen wir leben, wenn der Bär hier eine Zukunft haben soll», sagt der Tierarzt, der massgeblich an der Wiederansiedlung beteiligt gewesen ist.
Unvernünftiger Mensch
Doch sollte es tatsächlich zum Schlimmsten, einer Bärenattacke auf einen Menschen, kommen, wäre es mit Life Ursus wohl rasch vorbei. Zwar ist im 20. Jahrhundert in Westeuropa kein Todesfall aktenkundig. Ganz ausschliessen lässt sich das aber nicht. Bärinnen können aggressiv werden, wenn sie ihre Jungen in Gefahr wähnen. Sorgen machen dem Ranger Volcan vor allem die verbotenerweise eingerichteten Futterplätze, wo Bären angelockt werden, um sie zu fotografieren. «Das kann lebensgefährlich sein», sagt er. Vor allem, weil die Bären so ihre natürliche Scheu vor den Menschen verlieren.
Inzwischen werden Unterschriften gesammelt, um die reguläre Jagd auf die streng geschützten Bären wieder zu erlauben. Es passt ins Bild des modernen Menschen, der wenig weiss vom natürlichen Geschehen und sich deshalb entweder extrem fürchtet oder – aus Überheblichkeit und Unkenntnis – die Raubtiere verniedlicht und zu romantischen Fotosujets verklärt. Es ist gerade diese Unkenntnis, die Andrea Mustoni Sorgen bereitet. Nicht nur bei den ahnungslosen Touristen. Auch viele Landwirte hätten die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt, wenn sie sich über Bärenschäden beschwerten, obwohl sie dafür entschädigt werden – die Schadenssumme ist seit Jahren konstant. Die Schutzmassnahmen, von Elektrozäunen bis zu Herdenschutzhunden, hätten sich bewährt. «Wir müssen uns heute nicht mehr primär um das Bärenhabitat kümmern. Viel wichtiger ist das politische Habitat», sagt Mustoni, «wir müssen den Menschen erklären, was wir tun und weshalb es gut ist, den Bären wieder hier zu haben.»
Junge Bärenmänner suchen Bärinnen
Die Bären breiten sich inzwischen mehr und mehr auch in den umliegenden Region aus. Es sind vor allem junge Männchen, die im Konkurrenzkampf gegen ihre älteren Artgenossen keine Chancen haben und aufbrechen, um das Umland zu erkunden. Sie kehren, solange sie kein Weibchen finden, wieder zurück, um ihre alten Rivalen zu verdrängen. Weibchen sind standortgebundener, ihre Ausbreitung dauert viel länger, manchmal Jahrzehnte. Die männlichen Jungbären, die heute in die Schweiz oder ins Tirol einwandern, sind deshalb nur Gäste auf Zeit. Was rät Andrea Mustoni den Regionen, die mit dem Bären konfrontiert sind? «Aufklärung. Das sind wir den Bären und den Menschen schuldig. Dann ist ein künftiges Zusammenleben möglich.»