Notizen aus dem Clubgebiet
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Notizen aus dem Clubgebiet

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Dr. Emil Burckhardt in Basel.

Notizen aus dem Clubgebiet Von „ Ich stehe nicht Bürge, Manches übersehen zu haben; jedoch huffe ich, weniger als Jene, welche die Länder nur auf den Landstrassen durchlaufen sind und dennoch mit viel Geschrei und Machtsprüchen davon geschrieben haben. "

( Hackett, Reisen in den julischen, car-nischen und räthischen Alpen. 1785. ) Das Itinerar für 1878/79 scheidet die Bergfahrten in der Berninagruppe in « Touren zweiten und schwierige Partien ersten Ranges » und stellt eine Classification der letztern in 3 Gruppen auf, je nach dem besten Ausgangspunkte. Die erstere Eintheilung scheint mir eine allzu subjective und darum kaum durchführbare zu sein. Was die letztere betrifft, so bin ich der Ansicht, dass eine Gipfelgruppirung nach Ausgangspunkten nicht ganz zu billigen ist. Das Gebirg ist doch nun und nimmer des Ausgangspunktes, sondern der Ausgangspunkt des Gebirges wegen da. Will man überhaupt « eintheilen », so scheide man die eigentliche engere Berninagruppe in eine Central-, in eine Ost- und eine Westgruppe ( Bernina-Kosegstock, Palü-Zupogruppe und Sella-Chapütschingruppe ). Die De-taileintheilung wäre dann etwa folgende:

I. Der Centralstock mit den mächtigen Erhebungen des Piz Bernina, Monte Scerscen, Piz Roseg und dem niedrigen Vorbau des Morteratsch mit den secundären Gipfeln Tschierva, dem namenlosen 3402™, Piz Misaun und Piz Boval.

II. Die Ostgruppe, mit dem Piz Cambrena ( mit dessen Ausläufern Piz Arles und Pizzo Carale ), dem dreigipfligen Palü, der viergipfligen Bellavista, dem Zupò, dem Argient und der Crast'agüzza.

III. Die Westgruppe, von der zweigipfligen Gimels bis zum Chapütschin, mit der Doppelspitze Sella, dem Glüschaint, der Monica ( Monschia ) und dem Chapütschin. In ihrem stark nach Norden vorgeschobenen Grate schwingt sich der Ausläufer dieser Westgruppe noch'zum Corvatsch empor.

Untergeordnete Gipfelformen bilden die nördlichen Vorstufen dieser drei Gruppen: der Surley-Rosatsch für die Westgruppe, der Chalchagn für den Centralstock und die Diavolezza ( mit dem Mont Pers, Piz Diavolezza und II Trovat ) für die Ostgruppe.

Obschon dem engern Berninamassive noch angehörend, nehmen doch in demselben eine schon selbstständigere Stellung ein: im Südosten der Verona und im Südwesten die Fex-Fedozgruppe, mit dem Piz Tremoggia und Piz Fora, ersterer eigentlich ein Zwillingsgipfel des ungefähr gleich hohen, schon ganz auf italienischem Gebiete sich erhebenden Sasso d' Entova.

Ganz selbstständig aber von der engern Bernina- grappe steht die Forno-Albignagruppe da mit ihren beiden höchsten Erhebungen, der Cima di Rosso im Sissone-Forno und der Cima di Castello ( Cima del' Largo ) im Torrone-Bacconegrat. Der tiefe Einschnitt des Muretto scheidet diese Gruppe vom Fex-Fedoz; Forno-Albigna senden ihre Gewässer zur Maira im tiefen Bergell, Fex-Fedoz aber in den Hochengadiner-Inn. Die Forno-Albignagruppe bildet zusammen mit den Bondaskerbergen das eigentliche Bergellergebirge, dessen wildzerrissene Gipfel mit der ruhig schönen Bernina schon im äussern Charakter nichts gemein haben.

Mit der Fornogruppe durch den hohen Sissonegrat verbunden und doch wieder in gewisser Hinsicht durch die scharf markirte Forcola Pioda geschieden, ragt als südlicher mächtiger Eckstein der rhätisch-veltlini-schen Alpen der Disgrazia empor, von der Bernina durch das tief eingeschnittene Val Malenco völlig getrennt. Er ist ein Gebirgsstock für sich, von formenschönem ausdrucksvollem Bau, mit nur wenig sekundären Formationen. In allen Theilen liegt er auf italienischem, Boden; seine Gletscher speisen die veltlinische Adda. An absoluter Höhe nicht allzubedeutend, steht er an relativer Erhebung im ersten Range; seine Steigungswinkel von Val Malenco sind, in der Luftlinie gemessen, die stärksten der rhätisch-veltlinischen Berge.

Der Gletscher- und Gipfelreichthum der Berninagruppe ist auf verhältnissmässig beschränktem Räume ein bedeutender. Schönere undvielgestaltetere Gletscherbildung findet sich auf der schweizerischen Nordseite, während der italienische Abfall mit seiner zum Theil ausge- bildeten Plateaubildung sehr weite und aussergewöhnlich hochreichende Hochfirne trägt. Ganz gletscherarm dagegen ist der sehr steile Südabfall der Fedoz-Fex und der Forno-Albignagruppe. Der Disgrazia hinwiederum theilt seine Gletscher fast gleichmässig zwischen Süd-und Nordabfall. Reichgestalteter und ausgebildeter allerdings sind auch hier die Gletscher auf der Nordseite. Die engere Berninagruppe ist reich an Hochgletscher-pässen und Jochübergängen. Das Itinerar erwähnt deren eigenthümlicher Weise nur drei ( Sella-, Bellavista-und Chapütschinpass ), abgesehen von der Güssfeldtpforte ( nun Fuorcla Tschierva-Scerscen ), welche nicht mehr zu den practicabeln Hochpässen gezählt werden darf. Dieser letzteren sind aber viele:

1. In der Ostgruppe und im Veronastock; a. Cambrenasattel, Bellavistapass und der fast gleichlaufende Zupopass, Crast'agüzzasattel.

b. Palü- und Gambrepass ( fast gleichlaufend ), Verona-pass.

2. Im Centralstock: ausser der Güssfeldtpforte und der Fuorcla Prievluosa oder Bernina-Morteratschjoch, welche nicht als Pässe, sondern, besonders erstere, nur als forcirbare Uebergänge zu betrachten sind, der Bovalpass.

3. In der Westgruppe und Fex-Fedoz:

a. Sellapass, Glüschaintjoch, Chapütschinpass.

b. Fex-Scerscenpass, Passo Tremoggia und Cha-pütschpass ( letzere zwei gleichlaufend ), Fex-Fedoz-joch ( Güzpass ) und Fedozpass.

Die niedrigeren Pässe und Furkeln, wie: Diavolezza, Fex-Roseg und Fex-Surleyfurkel entziehen sich, als nicht mehr den eigentlichen Gletscherpässen ange- hörend, unserer Erwähnung.

Die Pässe der Forno-Albigna- und der Disgrazia-Gruppe zu berühren, ist hier nicht der Ort.

Unsere Jahrbücher sind in Beziehung auf gewisse der hievor erwähnten Gipfel und Pässe etwas lückenhaft; eine gewandtere Feder, als die meinige, möge diese Lücken in extenso ausfüllen. Für diessmal mögen folgende Angaben als Ergänzung früherer Publikationen genügen.

I. Palü-Zupogruppe.

1. Pizzo di Verona und Bellavistapass.

1878 war ich spät in 's Engadin gelangt. Nachdem ich am 28. September den Piz d' Err und am 29. den Piz Kesch bestiegen, bezog ich am 30. Nachtquartier auf dem Berninahospiz mit Hans Grass von Pontresina und Christian Jossi von Grindelwald. Am 1. October früh vor Tagesanbruch Abmarsch nach dem Palügletscher. Ein in jüngster Zeit von Sass-Masun aus gebahnter Fussweg förderte uns eine Strecke weit an den steilen Rasenhängen von Carale ob dem linken Ufer des Palügletschers. Ueber rauhes Geröll wird sodann nach dem flachen Palügletscher abgestiegen und derselbe in scharf südlicher Richtung überschritten. In zerrissenem Gletschermantel erhebt sich noch fast 1000 m über uns im Süden der Pizzo di Verona. Die starken Schneefälle der letzten Wochen und die darauf folgende scharfe Kälte hatten den Gletscher so günstig gestaltet, dass es möglich war, durch den Gletscher- bruch in streng südlicher Bichtung anzusteigen, was bei normalen Schneeverhältnissen kaum der Fall sein dürfte. Nach Durchschreitung des Séracs war der flache Hochfirn am Fusse des langgestreckten Veronagipfel-grates gewonnen, dieser letztere wurde an seinem Westende betreten und ohne Schwierigkeit zuerst die westliche, dann die östliche Spitze ( 3462 ) erreicht. Der zerfallene Steinmann der Herren Tuckett und Genossen aus dem Jahre 1865 fand sich vor. Seither scheint der Berg nicht mehr besucht worden zu sein. Der Nordabfall des Gipfelgrates ist mit glänzendem, steilen Firne bekleidet; die Südseite bilden zerrissene, schneelose Felswände. Der Ausblick nach Norden und Westen ist etwas beschränkt; sonst aber, besonders nach Süden, ein prachtvoller. Als Beherrscher des Verona- und des Palügletschers gewährt der Berg besonders in diese Eisbildungen einen sehr instructiven Einblick. Ein Niederstieg nach dem Veronagletscher und Poschiavo wäre der kürzeste Rückweg; zeitraubender der nach Fellaria und Lanzada; auf ersterem würde der sogen. Veronapass, auf letzterem der Gambrepass überschritten. Wir zogen vor, noch am selben Tage nach Pontresina zurückzukehren. Vom westlichen Veronagipfel gegen die Einsattelung des Gambrepasses absteigend und dann in erst westlicher, nachher schwach nordwestlicher Richtung uns wieder erhebend steuerten wir in langem, sanftem Anstiege dem Bellavistapass zu. Es war halb 4 Uhr, und wir hatten nur noch 2 Va Stunden Tag vor uns, als wir auf der Passhöhe ( 3684 ), zwischen Palü Spignas ( 3825 ) und dem Bellavistaostgipfel ( 3800 ) standen. Die sonst so harmlose « Festung > erforderte diessmal, völlig verschneit und vereist, wie sie war, Vorsicht. Tiefer Pulverschnee deckte die Firnhänge ob Isla Pers und diese letztere selbst. Auf dem bis in sein unteres Drittel Schnee tragenden Morteratschgletscher fanden wir uns in der früh eingebrochenen nebeligen Herbstnacht nur mühsam zurecht, erreichten um 7 Uhr festen Boden und um 8 Uhr Pontresina. Künftige Veronabesteiger werden gut thun, sich nach Ueberschreitung des untern flachen Palügletschers mehr östlich zu halten und den Veronagipfelgrat selbst von Osten zu betreten. Der Zeitgewinn wird ein nicht unbeträchtlicher sein. Für die genaue Kenntniss des Südabfalles der Berninaostgruppe ist diese Bergfahrt sehr wichtig. Sie erforderte vom Berninahospiz bis Pontresina zurück 14 Stunden, worunter H3/é Marschstunden.

2. Ueber die Arieslücke und den Ariesgrat auf Piz Cambrena und Abstieg nach Palü.

Vor zehn Jahren galt der Piz Cambrena noch als unbetreten, trotz Colani's Versicherung, er habe 1863 mit einem Dr. Cruzemann den Berg bestiegen. Die Pontresiner Führer stellten diese Besteigung in die gleiche Categorie, wie die Colani'sche Palübesteigung durch jene Gräfin Isabella Metternich mit dem sagenhaften goldenen Ringe. Fest stand, dass mehrere Versuche zur Besteigung des Berges vom oberen Persgletscher aus misslungen waren. An eine Erreichung des Gipfels auf dem von der Natur vorgezeichneten Wege, von der Lücke zwischen Palü und Cambrena.

."'S ( 3464 ), wie sie 8 Jahre später Cordier ohne Schwierigkeiten gelang, dachte man damals noch nicht.

Man versuchte es mit dem Frontalangriff und wurde, wie zu erwarten, zurückgeschlagen. Bei Gelegenheit einer Palübesteigung, Anfangs September 1868, hatten Hans Grass und ich die Ueberzeugung gewonnen, dass dem Cambrena über den Ariesgrat beizukommen sei. Der Ariesgrat zweigt sich erst als breiter Schneerücken, dann als steiler, scharfer Felskamm, in zwei schneelosen Spitzen, dem grossen und kleinen Piz Arles ( 3367 und circa 3300m ) gipfelnd, vom Cambrena nach Norden ab. In seinem unteren Theile tritt eine Verzweigung ein. Der eine Zweig nimmt nordöstliche Richtung an und scheidet Cambrena und Arles-gletscher; der'andere dagegen biegt fast rechtwinklig nach Nordwesten und sinkt zur Lücke ( 3009 ) herab, welche am Südostfusse des Piz Trovat ( 3154 ) sich weitend, das Ariesthal und den Arlesgletscher beherrscht. Dieser Grat, vom Persgletscher aus eine hohe, massige, fast unschöne Felsmauer, ist für den Beschauer von der Berninastrasse aus von mächtigem Eindruck. Es war am Morgen des 13. September 1868, als ich mit Hans Grass in der Arieslücke stand. Vor 5 Uhr vom alten Berninahause aufgebrochen, hatten wir vom Diavolezzawege beim Gletschersee uns südlich gewandt, nach anfänglich scharfem Anstiege uns an den " obersten Hängen des Val d' Arles hingezogen und nach dreistündigem raschen Marsche die Arieslücke gewonnen. Um 8 Uhr wurde der Ariesgrat selbst angegriffen und ohne Schwierigkeiten eine kurze Strecke über den seinen untern Theil bekleidenden harten Firn emporgehackt, dann über guten kletterbaren Fels die vordere niedrigere Gratspitze ( circa 3300 ) erreicht. Ein schmaler Kammeinschnitt trennt diese Spitze von der höheren südlicheren, deren Gewinnung scharfes Klettern erfordert. Es ist dies mit der Crast'Agüzza eine der hübschesten Felsklettereien in der Berninagruppe. In nicht viel mehr als zwei Stunden von der Arieslücke aus war der höhere Arlesgipfel ( 3367 ) gewonnen und auf demselben eine längere Rast und Umschau gehalten. Ein leichter Schneegrat, erst schmäler, dann nach oben stets breiter werdend, führt von hier in einer kleinen Stunde auf das Firndach des Cambrena. Weder auf dem Arles, noch auf dem Cambrena fanden sich Spuren eines früheren Besuches vor, allerdings noch kein absolut sicherer Beweis, dass ein solcher nicht stattgefunden.

Auf den beiden fast gleich hohen Cambrenagipfeln von runder Titlisnollenbildung wurden, wie zuvor auf dem Arles, Steinmannli erbaut. Der Abstieg am Südabhange des Berges auf den nördlichsten Theil des oberen Palügletschers, an steiler, bröckliger Felswand, war nicht leicht und erforderte mehr als eine Stunde. Fallenden Steinen ist man hier ziemlich ausgesetzt.

Es wurde nun versucht, den Cambrenasattel östlich zu umgehen und tiefer unten erst über die Carale-lücke ( 2832 ) den Cambrenagletscher zu gewinnen, aber ohne Erfolg. Schneegestöber und dichter Nebel liess uns die anfänglich richtige Direction verlieren.

Ueber theilweise recht schlechtes Terrain wurde immer bergab gestiegen und schliesslich einem Wasser- risse nach die Schafweide erreicht. Um 5 Uhr zertheilte sich der Nebel und liess uns erkennen, dass wir zu viel östlich gehalten, und anstatt auf dem Cambrenagletscher hoch ob der Alp Palü auf dem nördlichen Ufer des Palügletschers standen. Ohne Aufenthalt wurde über die alte Berninastrasse den drei Seen entlang das alte Berninahaus und Nachts gegen halb 11 Uhr Pontresina erreicht.

Diese Bergfahrt kostete uns 15 Marschstunden, wovon allerdings mindestens zwei, als durch unsere Verirrung im Nebel verursacht, bei normalem Wetter wegfallen würden. Der 1877 in der Dauphiné verunglückte Cordier ( S.A.C. und C.A.F. ) führte 1876 vom Persgletscher aus und über die Lücke zwischen Palü und Cambrena ( 3464 ), die er irrthümlich Cambrenasattel nennt, die Besteigung aus. « Cambrenasattel » ( 3390 ) ist aber der Uebergang vom Cam-brena- nach dem obern Palügletscher, zwischen den östlichen Abhängen des Piz Cambrena und dem Pizzo Carale ( 3429 ) hindurch. Cordier berechnet die Zeit vom alten Berninahaus bis auf die Cambrenaspitze auf gute 6—7 Stunden ohne die Rasten. Da Cordier ein ebenso rascher Steiger war, als ich ein mittelmässiger bin, so halte ich meinen Weg über Arieslücke und Ariesgrat, der mich für den Aufstieg nicht einmal volle 6 Marschstunden kostete, für kürzer. ( 5 Uhr früh bis 3/412, wovon eine Stunde Rast. ) Für den Rückweg ist jedenfalls der Route Cordier's zu folgen, da ein Hinabklettern über den Ariesgrat auf bedeutende Schwierigkeiten stossen würde, und da ferner mein Abstieg auf der Südseite auf den Palügletscher, und sodann wieder nach den Berninaseen hinauf mühsam und lang ist. Wer vom Cambrenagipfel nach Poschiavo will, der wähle allerdings meinen Abstieg, doch suche er die unangenehme Passage am Südabhange des Berges, besonders in den Mittagsstunden, möglichst rasch zurückzulegen, da, wie schon angedeutet, von fallenden Steinen Gefahr droht.

3. Vom Berninahause über Piz Palü nach Fellaria.

Dieser Fahrt sei erwähnt, um dem S.A.C. die Priorität der ersten Ueberschreitung des Palükammes von Norden nach Süden zu wahren. Am 5. September 1868 stand ich mit Hans Grass auf dem östlichen Palügipfel ( 3889 ), den wir vom Berninahaus über die Arieslücke und den oberen Persgletscher in 7 Stunden erreicht hatten. Der Schnee war in so schlechtem Zustande, dass ein Uebergang auf den mittleren und westlichen Palügipfel ( Palü Muotas 3912 und Palü Spignas 3825 ) sich als unmöglich erwies. Ein Abstieg in unseren alten Spuren hatte für uns aber wenig Anziehendes. So kletterten wir denn direct von der Spitze auf der Südseite herunter, ein Weg, der mehr westlich schon 1864 von den Engländern in umgekehrter Richtung gemacht worden war. Der Fels war nicht schlecht, aber eine kleine Eishalde, welche traversirt werden musste, hielt ziemlich lange auf. Auch diese Strecke sollte der fallenden Steine wegen nicht in den Nachmittagsstunden zurückgelegt werden. Weiter unten kam steiler Lawinenschnee, über den wir eine Stunde und 20 Minuten nach Verlassen des Gipfels den weithin gedehnten Hochfirn gewannen. Ein langer, etwas ein- förmiger Marsch über diesen und über den stellenweise zerrissenen Fellariagletscher, dann durch eine sehr tief sich herabziehende steile Geröllkehle brachte uns auf die Fellariaalp, welche 4V2 Stunden nach Verlassen des Palügipfels erreicht war. Wider Erwarten erwies sich die Alp als schon verlassen, ebenso die tiefer gelegene Alp Campomoro. Ohne Proviant brachten wir eine leidliche Nacht zu. lieber den Fellaria- und den Scerscengletscher wurde am folgenden Tag, 6. September, der Sellapass und über den Roseggletscher Pontresina erreicht, wo Grass und ich ziemlich ausgehungert eintrafen. Die Keise vom alten Berninahause über Piz Palü bis Fellaria hatte 13 Stunden incl. 1V2 Stunden Rast, und die von Fellaria über den Sellapass nach Pontresina zurück 11 Stunden incl. 2 Stunden East gekostet.

Für die Kenntniss der Südseite der Berninagruppe ist der " Weg von Piz Palü nach Fellaria und von dort über das Gletscherjoch zwischen Fellaria- und Scerscengletscher auf den Sellapass sehr förderlich. Die mächtigsten Firnreviere der Berninagruppe werden dabei begangen, und es wird ein Einblick in die von der Nordseite gänzlich verschiedene Bildung der Südseite des Grenzkammes gewonnen, wie er sich auf keinem andern Wege bietet. Die Ansicht des Itinerars, pag. 36, als sei der Piz Palü vor 1875 selten bestiegen worden, ist eine irrige, denn schon 1868 fand ich auf der Spitze die Wahrzeichen von sechs Besteigungen, worunter vier englische, eine deutsche und eine schweizerische. 1875 bestieg ich den Berg nochmals und zwar alle drei Spitzen, wiederum mit Hans Grass, von Boval aus mit Abstieg auf den Persgletscher. Die Schneeverhältnisse des Gipfelgrates waren damals ausserordentlich günstige; dagegen war der Hochfirn, über den sonst ohne Hinderniss nach dem Persgletscher hinabgestiegen wird, in so schlechtem Zustande, dass wir zu den Hängen des Cambrena unsere Zuflucht nehmen und einige Zeit in dessen Eishalden abwärts traversiren mussten. " Wenn der obere Pers-firn nicht passirbar ist, so thut man darum wohl, die Tour in umgekehrter Richtung, wie wir, zu machen, so dass das lästige und stellenweise schwierige Abwärts-traversiren am Cambrena wegfällt, bezw. durch das leichtere Aufwärtstraversiren ersetzt wird. Diese letztere Besteigung hatte von Boval bis Pontresina einschliesslich der Halte ( fast 2 Stunden ) 13 Stunden beansprucht.

4. Piz Bellavista.

Die viergipfelige Bellavistagruppe macht, obwohl durchschnittlich etwas höher als die Palügruppe, bei Weiten nicht den Eindruck wie diese. Ihre mehr zurückgedrängte Lage und der sie umlagernde mächtige Hochfirn, über den ihre Spitzen sich verhältnissmässig nur noch unbedeutend erheben, verschaffen ihr diese äusserlich untergeordnete Stellung. Ihre hinterste Südwestspitze ( 3921 ), welche das Itinerar, pag. 35, anzuführen unterlägst, wird öfters irrthümlich vom Thale aus für den Zupò angesehen. Selbst Jahrbuch V des S.A.C. macht sich in dem Bilde zu pag. 91 dieses Irrthumes schuldig. Yom Thale aus ist aber bekanntlich nur ein Grattheil des Zupò sichtbar; daher der Name des Berges: Piz Zupò, verborgenes Horn. Als scheinbar unbedeutender Gipfel wird die Bellavista selten bestiegen. Ich besuchte sie in ihrer höchsten Spitze ( 3921 ) am 10. September 1868 mit Hans Grass und fand keine Spur früherer Besteigung vor. Von Boval um 3 Uhr aufgebrochen, gewannen wir das östliche Ufer des Morteratschgletschers, wurden lange durch das Sérac aufgehalten und erreichten dann, durch die sogen. « Bellavistakehle » oder das « Loch » ansteigend, den Bellavistahochfirn unter 3839. Unter diesem letzteren Punkte und unter 3894 vorbei, wurde die steile, aber verhältnissmässig kurze, zum Gipfel ( 3921 ) führende Firnwand gewonnen. Diese wurde emporgehackt und um 10 Uhr, 7 Stunden nach dem Abmarsch von Boval, die Spitze betreten. Der Rückweg führte über die Festung, Ma Pers und den Morteratschgletscher nach Pontresina. Die ganze Eeise betrug inclusive 3 Stunden Rast I6V2 Stunden.

5. Piz Argient.

Die Existenz dieses, noch weiter südlich als Piz Zupò zurückliegenden Berges war Manchem bis in die neueste Zeit fremd. Wie die Bellavista, gehört der Argient zur Zupogruppe; immerhin aber weist er eine selbstständigere Gipfelbildung auf und ist, wie die Bellavista vom Zupò durch den Einschnitt des sogen. Zupopasses, durch eine sehr markirte Lücke an seinem Ostfusse vom Südfusse des zu ihm im rechten Winkel stehenden Zupò getrennt. Piz Argient zeigt ausgeprägte Kammformation; seine höchste Erhebung ist am westlichen Kammende. Nach Norden mit leuchtendem Firn bedeckt, fällt auch er wie seine Nachbarn nach Süden schroff, fast schneelos, ab. Der Hochfirn, der sich zwischen Zupò und Argient und der Firnvorstufe ( 3828 ) weitet, zieht sich hier hoch zum Grat empor und wirft gleichsam als letzte mächtige Welle den Piz Argient auf. Mit seinen 3942 Metern nur um einen Meter niedriger als der höchste Roseggipfel, ist er die fünfthöchste Erhebung der Berninagruppe.Der Berg hat schon verschiedene Namen getragen. In den 60er Jahren hiess er, zu Ehren des Languard-eröffners Ladner, « Piz Ladner oder Ladnerus », Studer in « Ueber Eis und Schnee » machte daraus « Lat-marus », Pontresiner Führerwitz aber aus dem Lad-nerus einen « Lazarus ». 1869 wurde der Berg zum ersten Mal bestiegen, von zwei Baslern ( v. Seideneck und Seiler ). Die ersten Besteiger tauften ihn « Piz Blondina », ein Name, der aber nur kurze Dauer hatte. Anfangs der 70er Jahre wurde ihm der sehr passende Name « Piz Argient » ( Silberspitze ) zuerkannt und er ist ihm auch geblieben. Im August 1875 bestieg ich den seit 1869 nicht mehr besuchten Gipfel. Nachdem ich mit Hans Grass eine Woche zuvor zwei Tage und Nächte in Boval auf gutes Wetter gewartet und schliesslich doch unverrichteter Dinge hatte nach Pontresina zurückkehren müssen, fand mich die Nacht des 10. Aug. wiederum in Boval; diessmal in Verhinderung von Hans Grass mit Ambühl und Cadonau von Pontresina. Am 11. August wurde vor 3 Uhr früh aufgebrochen undPiz Bernina 4052, Piz Zupò 3999, Monte Scerscen 3967, Piz Roseg 3943, Piz Argient 3942. Der Cordier'sche „ Monte Rosso di Tschierva " 3998, kommt als einfacher Gratpunkt hier nicht in Betracht.

durch den Morteratschgletschersturz, der viele Mühe und lange Hackerei erforderte, der Hochfirn unter Crast'agüzza und Bellavista gewonnen. Ueber den Argientfirn wurde der östliche Eckpunkt des Argient-gipfelgrates, und diesem entlang um 10 Va Uhr der Westgipfel ( 3942 ) erreicht, fast 8 Stunden nach dem Abmarsch von Boval, einschliesslich einer kurzen Rast.

Auf dem Rückwege bestieg ich, hauptsächlich der Vergleichung halber, noch den Piz Zupò, dessen Firnband sich in so vortrefflichem Zustande befand, dass wir vom Argientfirne aus in nur 8U Stunden, ohne eine Stufe zu hauen, den Gipfel gewannen. 14 Tage später waren für dieselbe Strecke über zwei Stunden Hackarbeit erforderlich. Wenn die Aussicht vom Zupò eine umfassendere, so ist dafür die vom Argient eine instructivere und der Blick von letzterem in die Tiefe des Scerscen weit fesselnder, als der vom Zupò nach dem Fellaria.

Unser Rückweg führte uns über den Beiiavistapass und den weiten Hochfirn, welcher den Südabfall des Palükammes umsäumt, auf den Palügletscher hinab * ), dessen oberster Gletscherbruch uns lange aufhielt. Der tiefe, auf der Südseite gründlich durchweichte Neuschnee war überaus ermüdend. Auf dem linken Ufer des Palügletschers, erst steil über rauhe Felshänge, dann über Geröll und Rasen, wurde endlich die Palüalp,Diess wäre, wenn man diesem Wege überhaupt einen Namen geben will, der wirkliche „ Palüpass ". Der 1864 von englischen Clubisten unter diesem Namen gemachte Pass ist nichts Anderes, als die oben erwähnte Palübesteigung von Süd mit Abstieg nach Nord.

6 die alte Berninastrasse und Nachts halb 10 Uhr das neue Berninahospiz erreicht.

Es ist diess, abgesehen von Besteigungen wie Güssfeldt's Monte Scerscen und Berninascharte, bei denen die Schwierigkeit des Weges viel Zeit beansprucht ( Besteigungen die ich nie nachzumachen versuchen werde ), zwar eine der längsten, aber dafür eine der schönsten und interessantesten Fahrten im Berninagebiet: Von Boval über Piz Argient, Piz Zupò und Bellavista - Palüpass bis zum Berninahospiz in 19 Stunden, einschliesslich der diessmal sehr kurzen Rasten. Selbst Piz Bernina, den ich 1868 vom alten Berninahause aus und nach Pontresina zurück machte, kostete mich eine etwas kürzere Marschzeit, als die hievor angeführte Bergfahrt. Dafür bietet aber diese letztere zwei Gipfel und einen Hochpass in einem Tage.

6. Crast'agüzzapass.

Zwischen Piz Bernina und Crast'agüzza befindet sich eine sehr markirte Einsattlung ( 3598 ); es ist die tiefste Depression auf dem ganzen Grate von der östlichen Palüspitze bis zum Bernina. Sie ist wie zu einem Uebergange vom Morteratsch nach dem Scerscen geschaffen und wurde auch schon verhältnissmässig früh, 1864, von den Engländern Tuckett und Buxton von Fellaria aus begangen. 1866 folgten ihnen dia Herren Tuckett und Brown, ebenfalls von Fellaria aus, welche nach gelungenem Passübergang noch den Piz Bernina bestiegen und noch an selbem Tage Pontresina erreichten. Seither blieb der Pass unbesucht, bis 1875 Prof. Minnigerode ( S.A.C. ) und ich ihn von Pontresina aus, überschritten. Am gleichen Tage thaten diess einige Engländer v'on Fellaria aus.

Früh Morgens von Pontresina aufgebrochen, hatten Prof. M. und ich um i1/* Uhr das Restaurant im Rosegthale verlassen und standen um halb 9 Uhr auf der Sellapasshöhe. Das Wetter war äusserst schlecht, doch steuerten wir dem italienischen Abfalle des Piz Roseg, der Güssfeldtpforte und des Monte Scerscen entlang und über den obern Scerscenfirn dem Fuss des Crast'agüzzapasses zu, den wir schon in einer Stunde von der Sellapasshöhe aus erreicht hatten. Harter Lawinenschnee half uns eine Strecke weit empor. Die nun folgenden Felsen waren steil, aber gut kletterbar; sie sehen zwar abschreckend aus, sind aber durchaus ungefährlicher Natur. Man hält sich nicht an die Crast'agüzza-, sondern an die Berninaseite. Weiter oben wird vom Fels über eine kurze, aber jähe Eispassage nach der Crast'agüzzaseite zu traversirt und man steht auf den sanften Schneehängen des Crast'-agüzzasattels ( 3598 ). Die Erklimmung der Fels- und Eisbarriere des eigentlichen Passes hatte uns von dessen unmittelbarem Fusse an lx/a Stunden gekostet. Ueber Bella vi stafirn, Festung und Isla Pers wurde um 58k das Ende des'Morteratschgletschers und eine Stunde später Pontresina erreicht. Unter den 14 Va Zeitstunden, welche die Reise vom Rosegthale aus erfordert hatte, waren etwas über 12 Marschstunden, welche aber bei günstiger Witterung — wir hatten theils Nebel, theils. Regen und Schneefall, wodurch besonders die Felsen am Sattel etwas erschwert wurden — sich auf circa is*

11 Stunden reduciren dürften. Als Führer hatte Prof. M. den alten Christian Grass und ich dessen Bruder Hans. Beiden war der Pass selbst noch praktisch unbekannt. In Pontresina erfuhren wir, dass am gleichen Tage eine Partie Engländer mit fremden Führern den Pass gemacht hatten. Der italienische Clubist Mannelli wählte 1877 als Rückweg vom Piz Bernina den Crast'agüzzasattel und Sellapass, so dass dieser erstere nun nach beiden Richtungen hin überschritten ist. Das Itinerar, pag. 33, irrt aber, indem es annimmt, dass vor Mannelli « noch Niemand als Hans Grass jenes Terrain begangen habe Es sei mir noch gestattet, ein Wort beizufügen über:

7. die Crast'aguzza über den Ostgrat.

Weilenmann und Specht, von 1865/74 die einzigen Ersteiger des Berges, halten denselben für nur von der Westseite, also vom Crast'agüzzasattel aus, für zugänglich. Das Itinerar theilt diese Ansicht. In der That sehen auch die Klippen des Ostgrates nahezu uneinnehmbar aus. Hans Grass war allerdings dieser Meinung nicht. 1874 führte er mich in Gemeinschaft mit Peter Egger von Grindelwald über den Ostgrat auf die Spitze. Die Hauptmomente dieses Ganges waren folgende: 3 Uhr früh Aufbruch von Boval, Durchschreitung des Gletschersturzes, 73k Uhr Fuss des Ostgrates der Crast'agüzza, 9 Uhr 20 Min. Spitze. Wir hatten vom Fusse des Ostgrates aus zuerst eine kleine Eishalde hinaufgehackt, waren eine Zeit lang an dem steil emporsteigenden Grate hinaufgeklettert und hatten dann auf den glatten Platten der Südseite eine Strecke weit traversirt, « m schliesslich wieder den Ostgrat zu betreten, der in seinen obersten Partieen sehr zerrissen und verwittert ist. Der Abstieg bis zum Ostfuss nahm etwas längere Zeit, 1112 Stunden, in Anspruch und erforderte, da ein mit Schnee gemischter Regen die an sich schon glatten Platten ausserordentlich schlüpfrig machte, Vorsicht. In ganz schlechtem Wetter lenkten wir über den Bellavistafirn der Festung zu, nicht ohne eine volle Stunde des dichten Nebels wegen, und zwar auf dem Hans Grass und mir wohl bekannten Bellavistafirn, in der Irre herum zu tappen. Ueber die Diavolezza waren wir um halb 6 Uhr Abends im alten Berninahause. Unsere Fahrt hatte somit 14V2 Stunden, einschliesslich der, bei der schlimmen- Witterung allerdings sehr kurzen, Rasten gedauert. Hans Grass bestieg später mit Güssfeldt und in der Folge noch mit Prof. Minnigerode den Berg gleichfalls über den Ostgrat. Ich halte den Weg über den Westgrat zwar für leichter, aber länger. Weilenmann und Specht haben 1865 vom Westfusse bis auf die Spitze 2 V2 Stunden gebraucht. Es muss nicht vergessen werden, dass die eigentliche Crast'-agüzzabesteigung — die Erklimmung des Felskegels — sich auf eine Höhe von nur noch circa 270 Meter vom Crast'agüzzasattel, resp. vom Ostfusse des Berges aus, beschränkt. Gewandtere Kletterer, als ich, werden den « final climb » über den Ostgrat in noch kürzerer Zeit als wir zurücklegen. Die auffallend lange Zeit, welche Weilenmann und Specht 1865 brauchten — von Boval auf die Spitze und wieder nach Boval zurück 20 Stunden — erklärt sich wohl daraus, dass erstens zwei Reisende mit zwei Führern langsamer vorrücken, als nur ein Reisender mit zwei Führern, und dass des Ferneren eine erste Ersteigung, zumal mit fremden, des Terrains ganz unkundigen Führern unternommen, stets ein weit schwierigeres und zeitraubenderes Stück Arbeit ist, als alle nachfolgenden Besteigungen. Immerhin verdient die Crast'agüzza häufigem Besuch, und den Bergsteigern besonders,, welche Piz Bernina und Piz Zupò schon bestiegen haben, wird ein Besuch des Gipfels trotz der verhältnissmässig geringen Höhe viel Interessantes und Instruktives bilden.

Man lernt überhaupt einen Hochgipfel in allen seinen Einzelheiten erst dadurch genau kennen, dass man ihn besteigt und sich so vor Allem ein praktisches Urtheil über seine technische Beschaffenheit und seine Stellung als Aussichtspunkt bildet; dass man ihn sodann aus der Nähe und aus der Ferne, von andern Bergen und von verschiedenen Seiten aus, beobachtet und prüft. Nur so wird die genaue Kenntniss eines bestiegenen Gipfels oder eines überschrittenen Passes zu erzielen sein: Zuerst ansehen, dann machen und schliesslich mit anderen vergleichen. Ist doch eine richtige und unbefangene Beurtheilung eines einzelnen Berges und einer ganzen Gebirgsgruppe auch für den gewissen-haftesten Beobachter unmöglich, wenn diesem letzteren, der vergleichende, objektive Maassstab, die Kenntniss anderer Berge, fehlt. Ich meine nicht nur die theoretische, sondern auch die praktische Kenntniss. Und diess gilt namentlich auch von Solchen, die in der von ihnen beurtheilten Gebirgsgruppe selbst leben und schon aus diesem Grunde in den sehr naheliegenden Fehler verfallen, Wesen und Bedeutung ihres heimatlichen Ge- targes einseitig aufzufassen. Eine Ueberschätzung desselben liegt für diese Beurtheiler jedenfalls näher, als das Gegentheil.

II. Der Sella-Chapütschinkamm.

Der gletscherbehangene Kamm, welcher vom Südfusse des Piz Koseg bis zum Chapütschin sich zieht, bildet eine Zierde des Rosegthales. Obwohl keine seiner Spitzen eine Höhe ersten Banges erreicht, ist er doch in seinem leuchtendem Firnreichthume und mit seinen schönen, reinen Formen ein prächtiges Stück Gletscherwelt. Anders allerdings sieht seine Südseite aus: eine fortlaufende kahle, nur spärliche Schneerinnen weisende Felsmauer von einförmiger, oft fast unschöner Gestaltung. Der Nordabhang dieses Kammes wurde zwar schon viel bewundert, aber bis vor wenig Jahren ziemlich selten besucht; wenigstens fand ich, als ich 1868, 1874 und 1875 seine Haupterhebungen besuchte, die Spuren von nur vereinzelten Vorgängern. In der allerjüngsten Zeit allerdings ist auch er Modepartie geworden. Er weist drei ausgeprägte Erhebungen: die doppelgipf lige Sella, den Piz Glüschaint, den Chapütschin. Weniger ausgebildete Gipfelformen sind: die Gimels und die Monschia ( Monica ). Die höchste Höhe erreicht der Glüschaint mit 3598 Metern* ). Drei praktikable Uebergänge überschreiten den Kamm: der Sellapass am Ostende, das Glüscbaintjoch und der Chapütschinpass in der westlichen Hälfte.

i. La Sella.

Ich hatte 1868 die beiden äussersten Flügel des Kammes durch Begehung des Sellapasses und durch Besteigung des Chapütschin kennen gelernt. Es dauerte acht Jahre, bis diese Bekanntschaft wieder aufgefrischt wurde. Ende Juli und Anfang August 1874 befand ich mich im Engadin, bei einer Witterung, die zu Hochtouren nur wenig einladend war; auf je fünf Tage kamen vier mit Regen oder Schnee. Schon eine Woche war ich in Pontresina und meine Erfolge beliefen sich auf drei Nachtquartiere in Alp Misaun und auf einen traurigen Rückzug thalwärts. Als am Nachmittag des 26. Juli das Wetter sich einigermassen besserte, brach ich wieder nach Misaun auf. Hans Grass war momentan nicht zu haben, und so begleitete mich nur mein Bernerführer Peter Egger. Am folgenden Morgen standen wir beim prächtigsten Wetter um halb 9 Uhr früh auf der Sellapasshöhe ( 3304, nicht, wie auf den altern Karten 3180 ). Das Gebirge in seinem frischen Schneemantel, der bis zur Waldgrenze herunterreichte, bot einen glänzenden Anblick. Vom Passe aus begingen wir den Schneekamm über die sanftgerundeten Erhebungen der Gimels ( 3523 und 3513 ), zogen uns dann etwas tiefer, nach dem Gletscher hinab, um, wieder aufwärtskehrend, zuerst die östliche Sellaspitze ( 3566 ) und dann vom kleinen Sattel zwischen dem Gipfelpaare aus, die westliche, höhere ( 3587 ) zu erreichen. ( Tchudi, 1878: unrichtigerweise 3598 und 3587 ). Der Weg von der Sellapasshöhe aus hatte 3 Stunden gekostet und ist eine der lohnendsten und leichtesten Gletscherwanderungen, die ich kenne. Der Niederblick von der Sella nach Norden über den Roseggletscher in das tiefdunkle Waldthal hinaus nach Pontresina ist von eigenthümlichen! Gegensatze mit dem Blick nach Nordwesten, auf die mächtigen, starren Wände des Piz Roseg. Wunderbar schön aber ist die Ausschau nach Süden, in das duftige Veltlin mit dem grünen Addathale, in das durch Val Malenco das Auge dringt. Als Glanzpunkt steht im Südwesten Monte della Disgrazia; unverhüllt, von ihrer besten Seite, tritt uns diese schönste Berggestalt der rhätisch-veltlinischen Alpen entgegen, in Wahrheit ein « Pizzo Bello ». Wer an einem klaren Hochsommertage den Disgrazia von der Sella aus hat schauen dürfen, der wird nicht ruhen, bis er diesen Gipfel sein eigen nennen kann, der mit dem Walliser Weisshorn eine der edelsten Gratbildungen der Alpen ist. Zwei Stunden sind auf einer Höhe, wie der Sella, rasch verflossen: kann man sich doch da, wo der Rückweg unschwierig und kurz ist, einem viel ruhigeren und behaglicheren Geniessen hingeben, als auf schwer zu erreichenden Punkten, mit vielleicht noch schwierigerem Abstiege.Von der Sella aus wird über den Gletscher in 2 Va Stunden das Rosegthal und in einer ferneren halben Stunde Alp Misaun gewonnen. Unser Weg hatte 13 Stunden, worunter 10V2 Marschstunden erfordert. Geht man vom Roseggletscher aus direkt auf die höhere Sellaspitze, ohne Sellapass und Gimels und den niedrigem Sellagipfel zu berühren, so werden mindestens zwei Stunden erspart, wie mir mein späterer nochmaliger Besuch des Berges von Pontresina aus im gleichen Sommer 1874 zeigte.* ) 2. Chapütschinpass und Glüschaintjoch.

Der Chapütschinpass, Fuorcla Chapütschin, führt vom Rosegthale über den westlichen Hochfirn des Roseggletschers zwischen La Monschia ( 3419 ) ( Monica ) und dem Chapütschinausläufer ( 3333 ) durch ein Felsthor und sodann durch eine steile Felskehle nach dem oberen Fexgletscher ( Fexfirn ). Von dort kann entweder über den Fexgletscher das Fexthal oder über den Chapütschinpass Val Malenco, oder endlich über den Fex-Scerscenpass Val Lanterna erreicht werden. Der letztere Pass, ein weites, sanftes Schneejoch zwischen Piz Tremoggia und dem Sella-Chapütschingratpunkte ( 3382 ), ist dort, wo auf der schweizerisch-veltlinischen Grenze die älteren Dufourkarten eine mächtige Felsmauer verzeichnen. Weilenmann hat schon im Jahrbuch I. des S.A.C. auf diesen Irrthum der Karte aufmerksam gemacht, der ihm bei seinem 1859 ausgeführten einsamen Tremoggiagange auffiel. Das Itinerar, pag. 37, hat also ganz recht, wenn es zwischen Piz Tremoggia und 3382 das Dasein eines Passes vermuthet. Diese Vermuthung ist übrigens für Jeden, der den Südabhang der Bernina- gruppe nur einigermassen kennt, schon seit Jahren thatsächliche Gewissheit. Weniger glaublich noch scheint dem Itinerar ( 1. c. ) das Dasein des auf der Karte nordwestlich vom Piz Glüschaint verzeichneten « Glü-schaintjoches » ( Fuorcla Glüschaint ). Der Verfasser des Itinerars hat von der Fuorcla noch nie etwas vernommen, und weder Caviezel noch Tschudi erwähnen ihrer. Trotz dieser geringen Theilnahme, deren sich somit das Glüschaintjoch von competenter Seite zu erfreuen hat, kann ich des Bestimmtesten versichern, dass der Pass existirt, dass, wie übrigens im Jahrbuch X. des S.A.C. pag. 671 deutlich zu lesen ist — er auch schon überschritten und in Folge dieser Ueberschreitung in die revidirte Karte eingezeichnet wurde.

Die Nacht nach dem hievor erwähnten Gange auf Sellapasshöhe, Gimels und La Sella brachten wir wieder in Alp Misaun zu. Ich erwartete Hans Grass, der mich am folgenden Tage auf Piz Roseg führen sollte. Anstatt Hans kam aber um Mitternacht Peter Jenny, ein weit bekannter und sehr verschieden beurtheilter Mann. Hans sandte ihn und zugleich den Bericht, dass er, Hans, noch für einen weiteren Tag verhindert sei, mich zu führen.

Auf den schönen Tag war eine regnerische und stürmische Nacht gefolgt; erst um halb 4 Uhr früh konnte aufgebrochen werden. Bald erkannten wir, dass die schlimme Witterung eine Rosegbesteigung nicht erlauben würde und lenkten, um den Tag nicht ganz zu verlieren, dem Chapütschinpasse zu. Um 8- Uhr war die Passhöhe ( 3228 ) und eine Stunde später durch die zwar sehr steile, aber unschwierige Felskehle hinab der obere, flache Fexgletscher erreicht. Von hier aus wäre der Piz Tremoggia bequem in l^'a Stunden zu besteigen; für diessmal verhinderte uns daran das andauernd schlechte Wetter.

Dem sanft ansteigenden Gletscher längs der Felswände, welche den Südwestabfall der Monschia bilden, folgend, gelangt man in einer kleinen halben Stunde an den Fuss eines Schneecouloirs. Auf dieses Couloir hat schon Weilenmann im Jahrbuch I des S.A.C. aufmerksam gemacht. In einer jähen Flucht zieht es sich bis auf die Höhe des Grates, welcher den Punkt 3382 und La Monschia verbindet. Reichlicher Lawinenschnee überbrückt den Bergschrund; in scharfem fünfviertelstündigem Anstiege wird " die Höhe des Couloirs gewonnen, das nach oben an Steilheit zunimmt.

Diess ist das Glüschaintjoch, die Fuorcla Glüschaint, der directeste und meines Ermessens auch der kürzeste Uebergang über den Sella-Chapütschin-kamm. Es war H3/4 Uhr, als wir auf der Passhöhe standen. Um 1 Uhr war der flache Roseggletscher und nach einer langen, zweistündigen, Rast um 5 Uhr wieder Misaun erreicht.

Dieser von uns zum ersten Male überschrittene Hochpass scheint, nach dem, was ich in Pontresina 1878 vernahm, seither nicht mehr begangen worden zu sein. Die Rundtour von Misaun über Chapütschinpass und Glüschaintjoch nach Misaun zurück hatte somit 13x/2 Stunden, wovon 11 Marschstunden, mittleren Ganges, erfordert.

Ich bin 1875 und 1878 wieder am Südfusse des Grlüschaintjoches vorbeigegangen und habe mir das Couloir nochmals genau angesehen. Auch diese beiden Male — einmal im August und das zweite Mal im October — lag reichlicher Schnee im ganzen Couloir, so dass dasselbe stets practicabel sein dürfte.

Die Nacht nach dem Abstieg vom Glüschaintjoche brachte ich wieder in Misaun zu; Jenny verliess mich und dafür kam Grass. Mit ihm und Egger griff ich am folgenden Tage, 29. Juli 1874, die Güssfeldtwand oder Fuorcla da Roseg ( nun Fuorcla Tschierva-Scerscen ) an, wurde aber nach langer und für meine Leute ausserordentlich strapaziöser Arbeit bei ganz schlechtem Wetter und grosser Kälte völlig geschlagen. Da die Witterung für einige Tage keine Aussicht auf Besserung bot, dehnten wir unseren Kückzug bis nach Pontresina aus, wo Egger und ich ziemlich mitgenommen anlangten. In drei Tagen waren wir Beide, und zwar an den zwei letzten Tagen bei schlechtem Wetter, 36 Stunden auf Eis und Schnee gewesen.

Noch am Ende derselben Woche nahm ich den Angriff auf die Güssfeldtpforte wieder auf und zwar mit Erfolg. Auch der Piz Roseg, den ich noch einige weitere Eegentage hindurch von Alp Misaun aus belagerte, wurde schliesslich noch gemacht, aber leider bei sehr ungünstigem Wetter.

3. Piz Glüschaint und la Monschìa ( Monica ).

Wie la Sella, war auch Piz Glüschaint, die höchste Erhebung des Sella-Chapütschingrates, bis vor wenig Jahren noch selten besucht. Hans Grass und ich beschlossen, diese Lücke in unserem Eepertoir auszufüllen.

Am 7. August 1875 verliessen wir zwei um halb 4 Uhr früh Pontresina, frühstückten auf Alp Misaun und standen um halb 9 Uhr am Fusse des sehr zerrissenen Firnes, der vom Glüschaint nach dem untern Roseg-gletscher abfällt. Wir begingen hier den Fehler, anstatt mehr links, östlich, nach der Sella zu, zuviel gradaus, südwestlich, zu halten. Ein bald einbrechender Föhn-nebel desorientirte uns einigermassen, so dass wir über zwei Stunden zur Durchschreitung des durchaus nicht langen Gletscherbruches gebrauchten. Auf dem oberen, sanft ansteigenden Firne behielten wir irrthümlicherweise noch ferner die südwestliche Richtung bei, während wir um den Glüschaintfuss östlich hätten abbiegen und dann über den Grat gehen sollen. Vom Nebel irregeleitet, griffen wir vom Hochfirne unter der Westwand des Glüschaint diesen letztern an. 20 Minuten vor 12 Uhr passirten wir den Bergschrund und arbeiteten uns während fast 2 Stunden ( bis halb 2 Uhr ) an jener steilen Wand empor, die, wie mit dem Richtscheit geebnet, in glänzendem Eismantel, von spärlichen Felsstreifen durchsetzt, abfällt und die Hauptzierde der wohlgeformten Berggestalt bildet. Während wir in der Wand steckten, zertheilte sich der Nebel und liess uns die keineswegs behagliche Situation erkennen, in die wir uns begeben hatten. Wer diese Wand, die weit in das Rosegthal hinausleuchtet, schon näher betrachtet hat, wird mich verstehen. Von unten bis nach der Mitte schon jäh ansteigend, wird sie in ihrem obern Theile, zumal da, wo mit dünnem Eisüberzuge bedeckte Felsköpfe zu Tage treten, fast ungangbar. Wir waren Beide froh, als endlich die Grathöhe ge- wonnen war; ein entschiedener mauvais pas lag hinter uns* ). Dem Grate folgend, erreichten wir in bequemem, nur noch viertelstündigem Anstiege um lsk Uhr die Spitze, 3598 m. Die Aussicht ist dieselbe, wie von la Sella. Seit der ersten Besteigung, 1863, scheint der Berg bis zum 1. August 1875 wenig oder gar nicht mehr besucht worden zu sein. Seither ist er in Aufnahme gekommen. Um 23/4 Uhr verliessen wir den Gipfel, folgten dem Grate bis auf den Hochfirn, hielten uns dann mehr östlich als im Heraufwege und gelangten ohne irgend welches Hinderniss auf den flachen Roseggletscher. Abends 53/* Uhr waren wir auf Misaun und um 78k Uhr wieder in Pontresina. Der Glüschaint hatte somit I6V4 Stunden, wovon 133/4 Marschstunden, gekostet, welch'letztere sich, wenn der richtige und kürzeste Weg — unser Rückweg — eingeschlagen wird, auf circa 12 Stunden von Pontresina hin und zurück reduciren werden.

Zwei Jahre nach dieser Glüschaintfahrt, 1877, bestieg ich, um mit dem Sella-Chapütschingrate völlig abzuschliessen, die Monschia ( Monica ), 3419 m. Ich war den ganzen Sommer von den Alpen fern gehalten worden und erst Anfangs Oktober noch für einige Tage nach Pontresina gekommen, fand aber eine winterliche, rauhe Witterung, die sich übrigens damals auch im Flachlande fühlbar machte. Mit Christian Grass, Hans'älterem Bruder, führte ich am 4. Oktober diese Fahrt aus. Der Weg ist bis auf den Hochfirn zwischen Chapütschin und Monschia derselbe, wie zum Chapütschinpass. In der untern Hälfte dieses Hochfirnes wird westlich abgebogen und durch sehr zerrissenen Gletscher mit prächtigen Schrunden scharf angestiegen. Ein leichter Schneehang bildet den Zugang zu der aus mächtigen Blöcken aufgeschichteten Spitze. Dieselbe ist sehr selten besucht, doch fanden sich die Reste eines Steinmannes. Noch auf der Spitze überraschte uns dichter Nebel und ein so starker Schneefall, dass die Spuren unseres Aufstieges nicht mehr zu erkennen waren. Wir verloren viele Zeit mit Irrgängen und langten erst kurz vor Anbruch der Nacht im Rosegthale an. Ueber diese Fahrt stehen mir keine genauen Zeitangaben zu Gebot, da mir die betreffenden Notizen leider abhanden gekommen sind. Meines Erinnerns brauchten wir von Pontresina hin und zurück 14 Stunden, einschliesslich circa 2 Stunden Rast.

III.

Noch sei eines Ueberganges über die Ausläufer des Centralstockes erwähnt. Es ist diess der

Bovalpass.

Niedriger und leichter, als die Fuorcla Prievluosa ( Bernina-Morteratschjoch, 3450 ) vermittelt er den Hochweg von Val Roseg, bezw. Misaun, nach dem Morteratschgletscher, bezw. Boval.

Der massenhafte frische Schnee, der Anfangs October 1878 im Bündner Hochgebirge lag, machte mir die geplante Ueberschreitung der Fuorcla priev-luosa unmöglich. So wandte ich mich dem Bovalpasse zu. Schon 1866, bei Anlass einer Besteigung des Piz Morteratsch, hätte ich gerne den Abstieg von diesem Gipfel nach Boval ausgeführt; vorgerückte Tageszeit und zahlreiche Gesellschaft liessen uns darauf verzichten. Erst zwölf Jahre später, am 6. October 1878, konnte ich, allerdings in anderer Form, das damals Versäumte nachholen.

Um 4 Uhr früh mit Christian Grass, Vater, und Christian Jossi von Pontresina aufgebrochen, hatte ich über die schon verlassene Alp Misaun und über Mar-gum die Tschiervaterrasse ( 3125 ) und um halb 10 Uhr den Hochgletscher zwischen Piz Morteratsch und Piz Tschierva, « Vadretiu da Tschierva », erreicht. Das prächtige, klare Herbstwetter be wog uns zu einem Abstecher auf Piz Tschierva selbst ( 3570 ) und zu einem zweistündigen Aufenthalte auf dessen Gipfel. Wenn auch von verhältnissmässig untergeordneter Höhe, bietet derselbe doch nach. Norden einen schönen Thal-blick auf Val Roseg und Pontresina und nach Süden eine äusserst lehrreiche und unmittelbare Einsicht in die Einzelnheiten des Monte Scerscen, des Piz Roseg und der diese beiden Berge verbindenden Güssfeldt-wand. Im Abstieg verfolgten wir die Höhe des Grates, welche Vadretin da Tschierva vom Misaungletscher scheidet, ein Grat, der im felsigen Punkte 3402 gipfelt.

7 Steil geht es von hier in fast gerader Linie nach Boval hinab, über Fels, Eis und Moräne. Der kleine namenlose Gletscher, über dessen sehr zusammengeschmolzene Reste abgestiegen wird, würde wohl am besten Boval-g l e t scher genannt. Fünf Viertelstunden nach Verlassen der Passhöhe ( 3402 ) war Boval ( 2459 ) gewonnen. Der sehr directe, fast 1000 Meter betragende Abstieg vertheilt sich auf eine Entfernung von kaum 2000 Meter in der Luftlinie gemessen. Von unten sieht zumal der oberste Theil des Weges schlecht aus; doch lasse sich Niemand dadurch täuschen, es sind hier keinerlei Schwierigkeiten vorhanden. Nach einer kleinen Rast in der ebenso geräumigen als bequemen neuen Clubhütte, die mir — es sei mir diese Bemerkung erlaubt — neben der alten, völlig genügenden, als etwelcher Ueberfluss vorkommt, wurde dem neuerdings angelegten, gebahnten Wege entlang das Morteratschthal und um halb 7 Uhr Pontresina erreicht. Dieser Weg von Boval nach dem Morteratschthale bringt gegenüber dem früheren rauhen Pfade bedeutenden Zeitgewinn, und Mancher, der einst in der Dunkelheit oder nach einem frischen Schneefall den alten Bovalweg zurückgelegt hat, wird diese Neuerung begrüssen.

Der Gesammtzeitaufwand von Pontresina hin und zurück hatte 141k Stunden, wovon 11 x/2 Marschstunden, betragen. Rechnet man für Piz Tschierva I1/ä Stunden ab, so verbleiben für den Bovalpass mit Ausgangs-und Endpunkt Pontresina 10 Stunden mittlern Ganges. Der Pass ist somit, trotzdem er bis zur Höhe von 3402 Metern führt, ein kurzer und leichter.

IV. Fex-Fedozgruppe.

Ueber die Gipfel und Pässe des Fex- und des Fedoz-thales ist das Itinerar äusserst kurz. Der Hauptgipfel des letzteren Thales, Piz Fora ( Ziegler: Piz Fora oder Piz Pontz 3370 ) wird gar nicht berührt, und für das erstere Thal werden nur zwei Pässe angeführt, während sechs Uebergänge, wovon fünf Gletscherpässe, ebenso viele Hochwege in das Fexthal bilden. Diese fünf aber sind: von Val Fedoz das Fex-Fedozjoch ( Güzpass ), vom oberen Val Malenco die gleichlaufenden Chapütsch'- und Tremoggiapass; vom unteren Val Malenco der Fex-Scerscenpass, vom Rosegthale die Hoch-gletscherpässe Chapütschinpass- und Glüschaintjoch. Einige Notizen über zwei bisher in den Jahrbüchern des S A. C. noch nicht behandelte Bergfahrten mögen für das Fex-Fedozgebiet genügen.

i. Ueber den Fex-Scerscenpass auf de/n Sasso d' Entova.

Piz Tremoggia kann sehr wohl von Sils-Maria aus bestiegen werden, selbst wenn man den Rückweg über Chapütschinpass oder Glüschaintjoch nach dem Rosegthale nimmt. Ein Nachtlager in Curtins im P'exthale ist durchaus unnöthig. Dasselbe gilt von dem allerdings etwas entfernteren Sasso d' Entova ( 3450 ). Vom Fexthale und vom Fexgletscher aus durch den Tremoggia verdeckt, erhebt sich dieser Berg schon ganz auf italienischem Boden, südöstlich vom Tremoggia; in schöner Firnkuppel wölbt er sich vom Scerscengletscher empor und in fast schneelosen zerrissenen Felswänden fällt er nach Val Malenco ab. Wie schon 1859 Weilenmann, fiel auch mir 1875 vom Gipfel des Tremoggia aus der Sasso d' Entova auf. Weilenmann weiss keinen Namen für ihn; noch 16 Jahre später konnte der erste Pontresinerführer, Hans Grass, mir ihn nicht benennen. Ziegler, Vsooo, führt ihn, und mit Recht, als Sasso d' Entova an; beherrscht er doch das Entovathal, die Entovaalp und den kleinen Entovasee. Einige bezeichnen ihn als « Caspoccio »; andere versetzen ihn — wenigstens dem Namen nach — gar auf den Sella-Chapütschinkamm, 3000 Meter zu viel nördlich.Beides ist gleich irrig. Der Sasso d' Entova gehört dahin, wo die Ziegler'sche Karte ihn stellt, an den Südrand des westlichen Scerscengletschers oder genauer Scerscenfirnes, als Haupterhebung des Grates, welcher den Scerscengletscher von den nördlichen Hängen des Val Malenco scheidet. « Caspoccio » aber, der frühere Namen des « Glüschaint » ist, seitdem dieser letztere Gipfel nunmehr fest benannt wurde, eine depossedirte Grösse. Nun und nimmer gehört dieser nun gegenstandslos gewordene Namen dorthin, wo die Ziegler'sche Karte ihn hinweist: östlich der Gimels ( 3523 und 3513 ). Soll « Caspoccio », oder richtiger « Caspoggio », durchaus beibehalten werden, so wäre damit vielleicht die Graterhebung östlich vom Sasso d' Entova zu bezeichnen, am Südrande des Scerscengletschers. « Colmo d' En-tova » dagegen ( Ziegler Vboooo ) 3226 sollte durchaus gestrichen werden; dort sind nur die Firnvorstufen des Nordabfalles des « Sasso d' Entova ».

Hans Grass, der kein grosser Verehrer des Fex-thales ist, wusste mich 1875 zu bewegen, den Sasso d' Entova unbesucht zu lassen. « Ist ein kleiner Berg, hat gar keinen Namen, braucht nicht bestiegen zu werden », hiess es, und ich musste nachgeben. Erst 1878, als ich zu einer Jahreszeit, welche höhere Besteigungen nur noch ausnahmsweise erlaubte, in 's Engadin gekommen war, gelang es mir, Hans Grass noch einmal für das Fexthal günstig zu. stimmen. Es war nicht nur der Besuch einer an und für sich ziemlich unbedeutenden Spitze, welcher mich auf den Sasso d' Entova zog, sondern der Wunsch, wieder aus recht unmittelbarer Nähe den einzig schönen Disgrazia, und zwar von seiner besten Seite, zu sehen. Und dafür musste der Sasso d' Entova einen ebenso guten Standpunkt, wie der Tremoggia, bieten; in dieser Hinsicht aber war mir dieser letztere Gipfel in bester Erinnerung.

Ueber die Fahrt auf den Sasso selbst nur Folgendes: Der Weg vom Fexthale aus ist fast bis zuletzt derselbe, wie auf den Tremoggia. Am 3. Oktober 1878, bei Tagesanbruch, wanderten wir, d.h. Hans Grass, Chr. Jossi und ich, von Sils-Maria aus über Curtins dem Hintergrunde des Fexthaies zu. Die steilen, kurz berasten Fluhsätze und die Wasserrisse der östlichen Thal wand, über die vom untern nach dem obern Fex- gletscher aufgestiegen wird, waren unten festgefroren und weiter oben tief verschneit. Auf dem oberen Fexgletscher, den wir um 9 Uhr betraten, hielt uns der massenhafte frische Schnee so auf, dass wir erst um 11 ^2 Uhr auf der Wasserscheide zwischen Fex und Scerscen, dem weiten Schneejoche des Fex-Scerscenpasses, standen. Am Nordostfusse des Tremoggia vorbei wird südöstliche Richtung angenommen. Auch hier verdecken Anfangs noch mächtige Firnwellen die Kuppe des Sasso d' Entova; dann tritt sie hervor in reinem Schnee- gewande mit felsiger Krone.

In fünf Viertelstunden vom Fex-Scerscensattel aus ist der Gipfel betreten — wohl zum ersten Male. Die Höhe ergibt sich, mit dem Nivellirinstrument vergleichend gemessen, als dem Tremoggia fast gleich: 3450™.

Die Aussicht ist, wie ich sie erwartete, ähnlich der vom Tremoggia, nur dass der Blick in 's Fexthal verdeckt ist. Der Monte della Disgrazia aber bietet sich von hier ebenso schön und der Niederblick nach Val Malenco durch die Schlucht von Lanzada und Torre nach dem grünen Addathale ist noch unmittelbarer als von dort. « In wunderbarer Majestät », sagt Weilenmann mit Recht, « thront der Monte della Disgrazia über dem tief abgeschiedenen Erdwinkel » Die Aussicht auf diesen Berg allein lohnt reichlich den Besuch des Sasso d' Entova.

Ueber den Firnsattel herab, welcher unsern Berg vom Tremoggia trennt, könnte anscheinend leicht und rasch nach Val Malenco abgestiegen werden. Es wäre dies in Verbindung mit dem Glüschaint-Joch wohl der direkteste und kürzeste Weg von Pontresina nach Chiareggio.

Es war ein so klarer und warmer Herbsttag, dass wir anderthalb Stunden auf dem Gipfel blieben. Der Abstieg nach dem Fex-Scerscenpass über den Fexgletscher ging ungeachtet des tiefen Schnees in einmal gebahntem Wege sehr rasch. Im Fexthale, oberhalb Curtins, zeigte sich an der östlichen Thalseite ein starkes Gemsenrudel wir zählten 23 Stück. Es ist dies, mit einem Rudel von 18 Stück, auf das ich 1866 unten an der Tschiervaterrasse stiess, die stärkste mir in der Berninagruppe zu Gesicht gekommene Gemsenzahl. Schon um 6 Uhr war Sils-Maria erreicht, von wo uns ein Wagen noch nach der Maloggia brachte. Folgenden Tages bestiegen wir die Cima di Rosso im Fornogebiet, eine beim damaligen Schneestande recht ermüdende Schneestampferei.

Die Fahrt auf den Sasso d' Entova hatte von Sils-Maria aus und zurück 131k Stunden, wovon 10 ïla Marschstunden, gekostet, die bei normalem Schneestande sich noch um eine Stunde ermässigen werden.

2. Durch Val Fedoz auf Piz Fora ( Piz PontzJ und über den Güzpass nach Val Fex.

Val Fedoz in seiner Abgeschiedenheit und reinen Gletscherpracht ist nur wenig besucht; noch 1875 war es mir unmöglich, unter den besseren Pontresiner Führern einen Kenner des Thales zu finden. Hans Grass zeigte keinerlei Lust, mich zu begleiten, und so machte ich mich ohne ihn, mit Cadonau von Pontresina, auf den uns beiden unbekannten Weg. Wir übernachteten in Sils-Maria. Um 3 Uhr früh, den 24. August 1875, marschirten wir ab. Ueber die Alp Cad'sternam ( Caster-name ) wurde 61/* Uhr der Gletscher erreicht ( 2138 ). Das Thal bildet zu dem benachbarten Fexthal einen eigenthümlichen Gegensatz. In Fex noch drei das ganze Jahr hindurch bewohnte Weiler, ein gutunterhaltener Fahrweg und wohlgepflegte Heuwiesen; in Fedoz völlige Einöde und Verlassenheit. Dass Val Fedoz aber darum eines der wildesten Thäler der Schweiz sei, kann nicht gerade behauptet werden. Die Berge, welche es einrahmen, sind zwar nicht von sehr bedeutender Höhe, aber von kühnen, trotzigen Formen. Der Gletscher, der in weitem Halbkreise den Grund des Thales ausfüllt, mildert in wohlthuender Weise den düsteren Charakter der Felswildniss. Er ist bedeutend ausgebildeter als der Fexgletscher.

Wir überschritten den untern flachen Gletscher und zogen uns dann steil über Felsgeröll und Schnee an der südwestlichen Thalseite empor, nach dem Gratpunkte 3107 ( Monte Muretto ) '. Von diesem Punkte aus lenkten wir nach 3077 und kreuzten dann den oberen Gletscher in seiner ganzen Breite in östlicher Richtung auf Piz Fora zu. Ein sehr schön entwickelter Gletscherbruch deckt den Zugang zum Firngrate, der diesen Berg bildet. Die Gewinnung der Grathöhe erforderte Hackarbeit, und erst um 1 Uhr, volle 4 Stunden nach Verlassen des Muretto, war der Gipfel ( 3370 m ) gewonnen. Der Blick von demselben nach dem Fex- und nach dem Fedozgletscher, sowie in die Tiefe von Val Malenco ist ein äusserst lohnender.

Südwestlich vom Gipfel führt über die tiefste Grat- ^ stelle der Fedozpass von Val Fedoz nach Chiareggio. Nach längerer Rast auf dem Gipfel wurde auf dem langen und zum Theil schmalen Firngrate in nordwestlicher Richtung abgestiegen bis zum Südfusse des Piz Güz, 3169, und dann über den von diesem letztern und vom Piz Led, 3090, nach dem Fexthal sich herabziehenden steilen Gletscher das Fexthal gewonnen. Dies ist der Uebergang von Fedoz nach Fex, das Fex-Fedoz-Joch oder der « Güzpass », 3154.

Dieser Abstieg ist mühsam, aber ohne eigentliche Schwierigkeiten. Um 6 Va Uhr war durch Val Fex Sils-Maria wieder erreicht. Diese Fahrt kostete 16 Va Stunden, wovon 13V2 Marschstunden. Auch wenn ungefähr eine Stunde abgerechnet wird, als durch unsere Unkenntniss des Weges,, die in Folge dessen nöthige öftere Orientirung und ein paar kleine Umwege zu viel aufgewandt, bleibt immer noch eine bedeutend längere Zeit, als für Tremoggia oder für Sasso d' Entova. Wer vom unteren Fedozgletscher aus den Piz Fora direkt besteigen will, ohne den Punkt 3107 und 3077 zu besuchen, wird fernere lVa Stunden ersparen. Als Aussichtspunkt kommt Piz Fora dem Tremoggia oder dem Sasso d' En-tova nicht gleich; als lohnende wechselvolle Gletscherwanderung steht er weit über diesen beiden Bergen. Es ist zu empfehlen, die Tour in umgekehrter Richtung wie wir zu machen: Aufstieg vom Fexthale und Abstieg nach dem Fedozthale.

Am leichtesten ist der Gipfel des Piz Fora jedenfalls vom Chapütschpasse aus zu erreichen; doch fällt dann ein Hauptreiz der Partie, der Gang über den Gipfelgrat, weg.

Für Bergsteiger, welche nur auf grosse Meterzahl und auf besondere Schwierigkeiten ihr Augenmerk richten, wird weder Fedoz noch Fex je eine grosse Anziehungskraft haben. Diejenigen aber, welche auch in den Bergen den Grundsatz befolgen: « Das Eine thun und das Andere nicht lassen », werden von einem Besuche der Fex-Fedozgruppe schöne Erinnerungen mitnehmen. Fex-Fedoz gehört zu einer gründlichen Kenntniss des Berninagebirges so gut als Piz Bernina und Piz Roseg.

In Vorstehendem habe ich versucht, einige Lücken, welche unsere Jahrbücher betreffs des Clubgebietes noch aufweisen, wenigstens stückweise auszufüllen. Es sind keine Thaten wie die eines Güssfeldt, von denen ich habe berichten können, sondern einfache Wanderungen eines Freundes und Verehrers der rhätischen Alpen. Ich habe mich in diesen Notizen auf das engere Berninagebiet beschränkt; über die Fornogruppe und den Disgrazia finden sich einige Andeutungen in den « kleineren Mittheilungen ».

Wenn in neuerer Zeit manche Bergsteiger das Oberengadin mit seiner Fremdenmasse und seinem fast grossstädtischen Leben und Treiben meiden, so ist dies erklärlich. Auch mir gefiel das alte Pontresina besser als das neue. Für den mit dem Fremdenverkehr in keinerlei Beziehung stehenden und darum völlig objektiven Nordschweizer ist es bemühend, zu sehen, wie in einem Theile seines Vaterlandes nach dem an- dem die prekärste aller Industrien — die Fremdenindustrie mit ihren Auswüchsen und Missständen — Boden gewinnt. Auch das Engadin hat durch sie manchen Reiz verloren. Doch man werfe den Kern nicht zugleich mit der Schale von sich! Die wahre Pracht und Schönheit des Hochgebirges bleibt unberührt von solch'äusserlichen Wandelungen, und für Jeden, der überhaupt noch unbefangen zu schauen und zu würdigen im Stande ist, hat die Gletscherwelt der Bernina ihren alten Zauber gewahrt.

Zum Schlüsse noch ein Wort des Dankes an die Herren Dr. Ziegler, Verfasser der topographischen Karte des Oberengadins ( Vsoooo ) und Ingenieur Hauptmann Held, Revisor der eidgenössischen Vermessung. Ihre. Arbeiten sind es, welche das Berninagebirge noch zugänglicher gemacht haben, als es schon zuvor war; ihre Arbeiten haben es auch ermöglicht, dieses Gebirge mit Genuss und Verständniss zu bereisen. Der S.A.C. ist diesen Männern zu grossem Danke verpflichtet.

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