Odysseus der Moderne
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Odysseus der Moderne Zum Tod von Walter Bonatti

Am 13. September 2011 ist der berühmte italienische Alpinist Walter Bonatti im Alter von 81 Jahren in Rom an einer schweren Krankheit gestorben. Ein Nachruf.

Bis wenige Monate vor seinem Tod war Walter Bonatti voll praller Kraft: Doch nun hat sich der Lebenskreis des grossen Bergsteigers, Fotoreporters und Schriftstellers unerwartet schnell geschlossen.

 

Was Walter Bonattis Tod für Italien und für die Welt des Alpinismus bedeutet, wurde schnell ersichtlich: Man stelle sich vor – in Zeiten, in denen die Wirtschaftskrise den Alltag der Italiener und ihrer zerstrittenen Politiker beherrscht, erhob sich die ganze Abgeordnetenkammer, um Bonatti mit einem langen Applaus zu ehren. Hunderte von Artikeln in allen Medien, Tausende von Menschen, die in Lecco von ihm Abschied nahmen, zeigten, was Bonatti für sein Land bedeutete. Der 1930 Geborene war ein Symbol für den Aufbruch: Niemand verkörperte in der Nachkriegszeit Werte wie Mut, Freiheit und die Fähigkeit, sich mit aller Entschlossenheit neu zu erfinden und zu verwirklichen, besser als Bonatti. Von 1951 an wurde er durch seine alpinistischen Glanztaten zur Legende, die in Zeitungen und Zeitschriften Titel schrieb. Und dies gerade er, im flachen Monza aufgewachsen, «kein Kind der Berge, sondern des Flusses Po, wo ich von den fernen Welten von Jack London und Ernest Hemingway, meinen Evangelien, träumte…», wie er mir einmal sagte. Ab 1965 sprach Bonatti mit seinen grossen Fotoreportagen ein noch breiteres Publikum an: Aus jedem wilden Winkel der Welt erzählte er den Daheimgebliebenen von den Abenteuern, die er dort allein erlebte. In den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs stand Bonatti stellvertretend für ein glückliches Italien, reich an Zuversicht und Zukunft.

 

 

Neue Dimensionen in Fels und Eis

Diese Konsequenz machte Bonatti in der Welt des Alpinismus zu einer bedeutenden Figur. So bedeutend, dass der noch unbekannte Steve House vor Jahren auf ein Ersatzrad seines Busses schrieb: «Bonatti is god!» Nach seinem Tod sagten führende Alpinisten wie etwa Alexander Huber, Ueli Steck, Hansjörg Auer oder Simone Moro, Bonatti sei Mythos, Idol, Vater «ihres» Bergsteigens, ja, er verkörpere den Geist des Bergsteigens, gar den Alpinismus an sich. Bonatti war ein Visionär, ein Träumer – er betonte immer wieder, der Traum erlaube dem Menschen, Grosses zu verwirklichen – und in der Umsetzung ein wahrer Athlet auf der Suche nach Perfektion in allen Disziplinen des Bergsteigens seiner Zeit. Er erschloss neue Dimensionen, überwand als unmöglich angesehene Schwierigkeiten – und dies stets in einem puristischen Stil: Er wollte sich mit der Natur von Antlitz zu Antlitz messen. Er war gegen Technik und Hilfsmittel, die das Bergsteigen seiner Ansicht nach arm und wertlos machten. Gerade deshalb haben die von ihm eröffneten Linien Bestand und sind bis heute Prüfsteine. Nicht zuletzt war er wohl einer der Ersten, die ihre Erlebnisse in Büchern weitervermittelten und die von ihren Büchern und Vorträgen leben konnten – so ebnete er den Weg für heutige Berufsbergsteiger.

 

Der Abenteurer und die Schauspielerin

Wer das Glück hatte, von Walter Bonatti in seinem wunderschönen alten Veltliner Haus empfangen zu werden, wo er umgeben von Zehntausenden Dias, Tausenden Büchern und von seinen Reisen heimgebrachten Erinnerungsstücken lebte, wer dieses Glück hatte, erlebte einen besonderen Menschen: Walter war herzlich, witzig und – zusammen mit seiner langjährigen Gefährtin, der bekannten Schauspielerin Rossana Podestà – ein vollkommener Gastgeber. Rossana und Walter: ein Traumpaar! Hier der Abenteurer, da die Schauspielerin, beide mit einer bewegten Lebensgeschichte, beide ein Ausbund an Intensität und Vitalität. Es waren Sternstunden. Walter ging stets aufmerksam auf den Gast ein, und ermunterte einen, immer den eigenen Weg zu gehen. Das ist, was Walter Bonatti so einzigartig machte: Er verlieh der Fantasie Flügel und ermutigte andere, ihren Träumen – so bescheiden sie auch sein mögen – zu folgen.

Lassen wir uns weiterhin von ihm inspirieren: Er war ein moderner Held ohne Halbheiten, einer der immer sein Bestes gab. Er wird ein Vorbild bleiben. Weit über jeden Pfeiler und jede Wand hinaus.

Bonattis Meilensteine

1948Erste Klettereien in den Grigne bei Lecco.

1949 Bonatti wiederholt, ein Jahr, nachdem er mit dem Klettern begonnen hat, die damals extremsten Touren wie Walker-Pfeiler oder Westwand der Aiguille Noire de Peuterey.

1951 Erstbegehung der Ostwand des Grand Capucin – zuvor als «unmöglich» betrachtet – mit Luciano Ghigo. Nach jener Erstbegehung wird er in seinem damaligen Wohnort Monza geehrt. Bei der Feier erleidet seine Mutter, die einen zu hohen Blutdruck hatte, einen Infarkt und stirbt. Mit Tränen in den Augen erzählte mir Bonatti eineinhalb Jahre vor seinem Tod: «Mir blieb für immer das Gefühl, ihr Tod sei meine Schuld – auch wenn der Grund ein freudiger Anlass war...»

1954 Italienische K2-Expedition, bei der Achille Compagnoni und Lino Lacedelli die Erstbesteigung gelingt. Bonatti wird von ihnen um einen Gipfelversuch betrogen. Compagnoni und Lacedelli stellen ihr Zelt an einem anderen Ort auf als abgemacht und setzen damit das Leben Bonattis und des Hochträgers Mahdi aufs Spiel. Sie können das Lager vor dem Eindunkeln nicht finden und müssen ohne Biwakmaterial auf 8100 Metern übernachten. Im Expeditionsbericht wird einiges zu Ungunsten des jungen Bonatti dargestellt, der tief getroffen ist und dadurch, wie er mir sagte, «misstrauisch und zum Einzelgänger» wird. Gegen die Unterstellungen wehrte sich Bonatti erfolgreich vor Gericht. Doch es dauerte 54 Jahre, bis der CAI 2008 Bonattis Version der Geschehnisse vollumfänglich bestätigte.

1955 Bonatti macht die erste Skidurchquerung der Alpen und wird Bergführer; er übt den Beruf allerdings kaum aus: «Ich konnte unmöglich das Seil, das mich mit jemandem verband, in einen Tarif übersetzen…» Im August Erstbegehung des Südwestpfeilers am Petit Dru in sechs Tagen und im Alleingang – Bonattis spektakuläre Antwort auf den K2! Der «Bonatti-Pfeiler» galt bis zu seinem Einsturz 2005 als einer der Prüfsteine in den Alpen.

1958Erstbesteigung Gasherbrum IV (7925 m) mit Carlo Mauri im Rahmen einer von Riccardo Cassin geleiteten Expedition.

1961 Erstbesteigung des Nevado Rondoy Norte (damals eines der grössten Andenprobleme) und Tragödie am Frêney-Pfeiler. Beim Rückzug im Sturm sterben vier von sieben Alpinisten; nur Bonatti, Mazeaud und Gallieni überleben.

1962 Erstbegehung der Nordwand des Pilier d’Angle, die erst viel später mit moderner Eisausrüstung wiederholt und von Bonatti als seine schwierigste Neutour bezeichnet wurde.

1963 Erste Winterbegehung der Grandes-Jorasses-Nordwand (Walker-Pfeiler) mit Cosimo Zappelli.

1964 Erste Begehung des objektiv gefährlichen Whymper-Pfeilers (Grandes Jorasses) mit Michel Vaucher.

1965 Bonatti schliesst 15 Jahre extremes Bergsteigen mit einem bewusst inszenierten Glanzstreich ab: Allein, auf neuer Route und im Winter durchsteigt er die Matterhornnordwand.

1965–1979 Für die Wochenzeitschrift «Epoca» bereist Bonatti als Reporter die abgeschiedensten Ecken der Erde. Er ist einer der ersten Fotoreporter und wird in Italien noch bekannter als zuvor durch seine alpinistischen Erfolge.

1980 Bonatti lernt die Schauspielerin Rossana Podestà kennen, die Gefährtin seiner letzten 30 Lebensjahre; er veröffentlicht Bücher (insgesamt rund 20), hält Vorträge und unternimmt Reisen. Er lebt in Dubino im Veltlin und auf der Halbinsel Monte Argentario.

Die Autorin

Christine Kopp lernte Walter Bonatti im Rahmen der Übersetzung seines Buchs Berge meines Lebens im Jahre 2000 kennen. Gemeinsam stellten sie das Buch im Herbst 2000 anlässlich einer grossen Vernissage im Apinmuseum des DAV in München vor – wohl Bonattis letztem Auftritt an einem deutschsprachigen Anlass. Seither verband sie eine freundschaftliche Beziehung; Christine Kopp führte mehrere lange Gespräche mit Walter Bonatti in seinem Veltliner Haus, deren Inhalt in den letzten zehn Jahren Eingang in verschiedene Texte in Alpinzeitschriften und Zeitungen fanden. Christine Kopp sagt von Walter Bonatti, unter den bekannten Alpinisten sei er derjenige gewesen, der sie am meisten berührt habe – durch seine Geradlinigkeit, seine Offenheit und vor allem durch seine Ausstrahlung.

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