Vom Bifertenstock
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Vom Bifertenstock

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

( Hierzu drei Abbildungen der Felskeasel am Ostgrat des Bifertenstockes, nach photographischen Aufnahmen von Dr. K. Meyer, Sektion Tödi. ) Im ersten Jahrbuch des S.A.C. schildert Herr Dr. Abraham Roth seine in Gesellschaft der Herren Georg Sand aus St. Gallen und Raillard-Stähelin aus Basel mit Führer Heinrich Elmer und zwei Trägern unternommene erste Ersteigung des Bifertenstockes in der Tödigruppe. Wohl nicht viel über ein Dutzend Mal ist jener stolze Gipfel seit dem Jahre 1863 wieder erreicht worden, obschon außer dem von den ersten Besteigern eingeschlagenen Wege längs der südlichen Abdachung des Ostgrates noch zwei andere Zugänge, von Norden und von Süden, aufgefunden worden sind 1 ). So kommt es, daß die Gestaltung jenes gegen das Kistenstöckli und den Kistenpaß sich hinziehenden Ostgrates nur wenigen Bergsteigern bekannt geworden ist, und doch gehört sie zum Eigenartigsten, was man im Gebirge sehen kann. Es sind die dort auftretenden Erosionsbildungen geradezu als einzig dastehende bezeichnet worden.

Wandert man, von der Muttseehütte ob Lintthal oder von Brigels im Vorderrheinthal herkommend, an dem Schieferbau des originellen Kistenstöckli vorbei auf dem zunächst gut gangbaren und breiten Gratrücken nach Westen dem Bifertenstock zu, so hat es zunächst den Anschein, als ob sich keine besonderen Schwierigkeiten darbieten würden. In den Trümmern der stark verwitterten eocänen Gesteine ( Nummulitenkalke und quarzitische Sandsteine ) findet man hin und wieder kugelförmige Stücke von Schwefelkies, Strahlkies, meist aber nur deren Verwitterungsreste, runde Löcher, teilweise mit braunem Eisenoxyd ausgefüllt. Auch hübsche Drusen von kleinen Bergkrystallen habe ich dort aufgelesen. Der Grat wird gegen Westen hin allmählich schmäler und bricht bei Punkt 3098 ( Siegfried-Atlas, Blatt Tödi ) plötzlich ganz ab, eine tiefe Scharte bildend. Man gewahrt da zu seinem Schrecken, daß dieser Grat doch nicht so Prof. Dr. h. Bosshard.

leicht zu begehen ist, als es nach der Karte oder nach dem Anblick vom Gipfel des Kistenstöckli oder des Piz da Dartgas aus scheinen möchte. Man sieht zur Linken hinab in einen gewaltigen Felsenkessel von wohl 600 Metern Tiefe, der sich in den hinteren Teil der Val Frisai, Durschin genannt, öffnet. Dieser Kessel ist ein wahrer Höllenschlund. Am oberen Rande hat er an 600 Meter Durchmesser. Die Wandungen, größtenteils aus Kreide-Kalken bestehend, sind glatt geschliffen und stürzen mit durchschnittlich etwa 50° Neigung in die Tiefe ab. Das Ganze ähnelt einem Trichter oder einer Schüssel, aus der eine Seite herausgebrochen ist. Da, wo die verschiedenen Gesteinsschichten abwechseln, ziehen sich schmale Felsbänder, fast horizontal oder schwach ( gegen Westen ansteigend, durch die Schüsselwandung hin, als natürliche Verzierungen. Diese Bänder sind auf den beigegebenen Aufnahmen deut- Vom Bifertenstock.

lich sichtbar. Das oberste derselben, an der Grenze zwischen den eocänen Gesteinen der Gratschneide und den glattgeschliffenen Kalkfelsen der Kreideformation, ist gangbar und ermöglicht die Besteigung des Bifertenstockes von dieser Seite. Man hält sich östlich von Punkt 3098 abwärts gegen die Südflanke des Grates und kommt dann zu einer Felsecke am Anfang jenes Bandes. Wohl jeder ist von dem Anblick, der sich da bietet, ebenso überrascht, wie Herr A. Roth es drastisch von seinen Gefährten schildert: „ Der erste Eindruck, der sich bei diesem Anblick allen mitteilte, war der: Hier hört alles auf. "

Das Fluhband ist mit schiefrigem Schutt bedeckt und hat eine Breite von 1—2 Metern. Es ist gegen die Tiefe des Kessels hin geneigt. Auf der Bergseite schwingen sich die Felswände fast senkrecht zum scharfen Grat empor. Für Schwindelfreie bietet indessen die Begehung des Bandes.

kaum erhebliche Schwierigkeiten, vorausgesetzt, daß kein Schnee oder gar Eis darauf liegt. Nach kurzer Wanderung gelangt man auf diesem Wege an einer kleinen Höhle vorbei in die erwähnte Gratlücke, westlich unter Punkt 3098. Einige aus aufeinandergeschichteten Steinen errichtete Mauerreste und dazwischen umherliegende Abfälle, die sich im Sommer 1899 hier fanden, scheinen darauf hinzudeuten, daß diese Stelle schon als Nachtlagerplatz gedient hat. Man sieht von da aus nach Norden auf den Griesgletscher hinunter und über den langen, vergletscherten Rücken des Selbsanft hinüber zur Muttseehütte; auf der Südseite aber, jenseits des Felscirkus und des Frisalthales, auf die schön gegliederte, wilde Kette der Brigelserhörner. Die grotesken Felszacken des Grates, auf dem wir stehen, verleihen dem zweiteiligen Panorama einen höchst malerischen Vordergrund. Nach der Durchschreitung des ersten Felskessels gelangt man, südlich von Punkt 3248 um eine Ecke biegend, wo ein kleiner Steinmann errichtet ist, plötzlich an den Anfang eines zweiten, anscheinend noch etwas größeren Kessels von ähnlicher Beschaffenheit wie der erste. Beide sind auf der Siegfriedkarte richtig eingezeichnet. Auch durch diesen Kessel verläuft ein Schuttband, aber unregelmäßiger als das erste. Es stellt daher größere Anforderungen an den sicheren Tritt des Gängers. Gleich bei seinem Beginn verschmälert es sich bedeutend und verschwindet dann auf eine kurze Strecke gänzlich, so daß man nur durch einen großen Schritt auf die Fortsetzung gelangt. Das ist also die Stelle, wo wirklich „ alles aufhört ". Wohl mehr als Einer ist da wieder umgekehrt. Der Steinmann an der Ecke enthielt wenigstens im Jahr 1899 verschiedene Visitkarten. Hat man aber das Band betreten, so findet man, daß es leichter zu begehen ist, als es von weitem den Anschein hatte. Es steigt zunächst an, bricht dann mit einem plötzlichen Knick abwärts, um zuletzt ziemlich steil aus dem Kessel herauszuführen. Über eine Firnstrecke, dann wieder über Fluhbänder gelangt man in die aus ziemlich brüchigen, eocänen Kalkschiefern bestehende Wand des Vorgipfels ( 3371 m ). Über diese Wand emporkletternd, wird der Firngrat erreicht, der zum Gipfel ( 3426 m ) führt. Einige Meter südlich, unterhalb desselben, bieten trockene Felsen einen Ruheplatz neben dem Steinmann, in dem seit 1899 ein Gipfelbuch untergebracht ist.

Wie mögen nun diese Felsenkessel entstanden sein, die dem Ostgrat des Bifertenstockes ein so überaus charakteristisches Gepräge verleihen?

Die Siegfriedkarte verzeichnet weiter nach Osten hin noch zwei derartige, viel kleinere Kessel, die aber von dem beschriebenen Wege kaum zu übersehen sind, da sie zu tief unten liegen. Die glatten, von keinerlei tief einschneidenden, abwärts verlaufenden Rinnen durchzogenen Wandungen der großen Kessel lassen eine Entstehung durch Wasserläufe, die vom Grat herunterkommen könnten, als ausgeschlossen erscheinen. Bedeutende, geschiebeführende Wassermengen, die so gewaltige Erosionswirkungen hervorbringen könnten, sind bei der jetzigen Gestaltung des Grates, auf dem nur wenig Schnee haften bleibt, überhaupt nicht vorhanden. Die Kessel müssen sich also zu einer Zeit gebildet haben, wo jene Gegend noch ein anderes Aussehen hatte. Es ist auch kaum denk- Vom Bifertenstocl:

bar, daß der Frisalbach einst solche halbkreisrunde, tiefe Nischen in die eine Thalseite hineinmodelliert haben könnte. Die Erosionsnischen, die durch Bäche erzeugt wurden und die man in der Taminaschlucht, Aareschlucht und anderwärts beobachten kann, haben andere Gestaltung. Der erste Anblick der Kessel am Bifertenstock führt vielmehr auf die Vermutung, daß sie Überreste ungeheurer „ Gletschermühlen " seien. Die Schmelzwasser des Frisalgletschers, der zu Zeiten den Thalkessel ausgefüllt haben muß, bildeten Wasserfälle, die sich in die Spalten des Gletschers ergossen. Steine, die durch dieses Wasser in wirbelnde Bewegung gesetzt wurden, konnten jene trichterförmige Aushöhlungen des Gesteins erzeugen, in beharrlicher, lang andauernder Arbeit. Als der Gletscher allmählich auf den jetzigen kleinen Rest zurückschmolz, vertiefte der Gletscherbach die Sohle des Thales, der südliche Teil der Wandung jener Trichter verschwand durch die Erosionswirkung des Baches. Wenn diese Vermutungen richtig sind, so hätten wir in den merkwürdigen Felskesseln des Durschingrates wohl die größten der bekannten Gletschermühlen vor uns. Ein Besuch dieser Bildungen ist sehr zu empfehlen; die Ecke am Anfang des ersten Kessels, von wo aus dieser ganz zu übersehen ist, kann von der Muttseehütte aus ohne jede Schwierigkeit oder Gefahr leicht erreicht werden.

Prof. Dr. E. Bosshard ( Sektion Winterthur ).

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