Weil der Berg niemandem gehört
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Weil der Berg niemandem gehört Kletterethik: Routenveränderungen erfordern Konsens und Fingerspitzengefühl

Beim Erschliessen und Sanieren von Kletterrouten prallen manchmal unterschiedliche Vorstellungen und Philosophien aufeinander. Dann sind Konflikte programmiert.

Manche nannten es Selbstjustiz, andere die Befreiung der Wand: Anfang Oktober 2019 vermeldeten die Einrichter der Route Gran Paradiso an den Wendestöcken die Erstbegehung; nur wenige Tage später baumelten die Bohrhaken allesamt an einem Seil – eigenmächtig entfernt von lokalen Kletterern. Gran Paradiso hätte wohl zu den technisch schwierigsten Routen der Alpen gehört. Und so war die Diskussion programmiert: Darf man das? Welche Regeln gelten am Berg? Und wer darf sie durchsetzen? Mit welchem Recht? Und wem gehört denn nun der Fels?

Allesamt keine neuen Fragen. In der Vergangenheit hat es schon viele ähnliche Kontroversen gegeben. Im Januar 2012 entfernten Hayden Kennedy und Jason Kruk einen grossen Teil der Bohrhaken aus dem Klassiker Kompressorroute am patagonischen Cerro Torre. Sie wollten den Berg in seinen «Originalzustand» versetzen und wieder eine alpinistische Herausforderung schaffen. National Geographic berichtete in einer langen Reportage über das Unterfangen und die Uneinigkeit. Nur: Der Erstbegeher hatte wohl eine andere Vorstellung. Und eigentlich gilt das ungeschriebene Gesetz, dass der Charakter einer Route nach der Erschliessung und Erstbegehung nicht mehr verändert werden sollte – ausser die erschliessende Person gibt ihr Einverständnis.

Organisch gewachsene Bräuche

Gehen die Jahre ins Land, kommt irgendwann der Zeitpunkt, in dem man eine Route sanieren muss, um sie weiter sicher begehen zu können. So auch bei Supertramp im schwyzerischen Bockmattli. 1980 wurde die ästhetische Route vom Kletterpionier Martin Scheel eingerichtet und erstbegangen. Schnell entpuppte sie sich als Alpenklassiker und Meilenstein des alpinen Sportkletterns. Ein Vierteljahrhundert später stand die Sanierung an. Scheel gab grünes Licht, falls nur das vorhandene Material ersetzt würde. Doch am Ende waren über 30 zusätzliche Bohrhaken in der Wand. So war es nicht abgemacht. Freunde wiesen Scheel auf diesen Umstand hin und schlugen vor, die zusätzlichen Bohrhaken wieder zu entfernen. Er begrüsste das, und kurze Zeit später war die Route wieder wie früher.

Für einige sind Felsen und Berge Orte der Freiheit, Oasen der Selbstverwirklichung. Vorschriften wären da fehl am Platz – und selbst ernannte Ethikapostel ebenso. Festgelegte Regeln gibt es zwar tatsächlich nicht, Martin Scheel verweist im Gespräch aber auf die «organisch entstehenden Bräuche», die zu berücksichtigen seien. Denn Klettergebiete entfalten mit den sich darin bewegenden Menschen ein Eigenleben, eine Tradition, die es zu respektieren gilt. «Man muss sich an die lokalen Grundsätze halten», sagt Scheel. Während in alpinen Kletterrouten Bohrhaken spärlicher eingesetzt werden, bieten Klettergärten und Plaisirrouten durch regelmässige Sicherungspunkte mehr Sicherheit. Platz gebe es für beides, aber nicht alles müsse an denselben Ort.

«Natürlich kann ich aber kein Recht beanspruchen, dass eine Philosophie an einem bestimmten Ort nicht gebrochen wird», sagt Scheel. Schliesslich gehöre der Berg allen. Deshalb habe er auch Verständnis für jemanden, der eine «unpassende» Route wieder entferne. Aber was heisst schon unpassend? «Wir müssen aufpassen, den Charakter eines Gebietes nicht zu zerstören.» Aber nicht jeder Bohrhaken sei einer zu viel. «In manchen meiner Routen ergibt es Sinn, bei der Sanierung Stellen mit zusätzlichen Bohrhaken zu entschärfen, weil sie zu gefährlich sind.»

Charakter und Visionen wichtig

Schliesslich führe ohnehin nichts daran vorbei, miteinander zu reden und einen Konsens zu finden. Dabei hätten aber der Charakter eines Gebiets und die Visionen der Einrichterinnen und Einrichter besonderes Gewicht. Scheel plädiert für lokale Kommissionen, die nach sinnvollen Lösungen suchen könnten.

Für den SAC gilt das Prinzip, dass bei Routen, «die landesweit anerkannte leistungssportliche Massstäbe» gesetzt haben und «von alpingeschichtlicher Bedeutung» sind, nur das vorhandene Material ersetzt werden soll. Selbst konzentriert sich der SAC (SwissBolt) aber «auf die Sanierung von breitensportlich ausgerichteten Routen und Klettergebieten».

Yannick Glatthard ist einer der beiden, die Gran Paradiso aus den Wendestöcken entfernt haben. Dem 23-jährigen Profikletterer und Bergführer ist bewusst, dass er damit einige vor den Kopf gestossen hat. Zwar ist die Geschichte für ihn mittlerweile abgeschlossen, doch der Nachhall bleibt. «Wir haben heute sehr viele sehr gut abgesicherte Routen», sagt er. Da sei es auch wichtig, dass Alternativen blieben, die nicht bloss auf Schwierigkeit und Absicherung aus seien – insbesondere mit der steigenden Popularität des Klettersports.

Ehrlichkeit und Dialog

«Meine Einstellung beim Klettern ist: Ich bewege mich wie Wasser im Fels», sagt Glatthard. «Eine Kletterroute muss Sinn ergeben, sie muss der Logik des Felsens folgen.» Nur, weil es zwischen zwei Routen noch Platz gebe, müsse dort nicht eine neue eingebohrt werden. Wichtig seien das Gesamtbild und der Stil einer Wand – da müssten sich auch neue Routen eingliedern. «Natürlich darf jeder seinen eigenen Stil haben», sagt Glatthard. «Aber ich passe mich an. Wenn ich eine Route nicht im lokalen Stil einrichten kann, dann steht mir das auch nicht zu.»

Orte wie die Wendestöcke bedeuten für Glatthard auch eine Rückkehr zu einer elementaren Erfahrung der Natur. «Man kommt an eine Wand, und sie schenkt einem nichts», erzählt er. «Das finde ich ehrlich. Aus der Herausforderung im Fels entstehen die Geschichten, die das Klettern ausmachen.» Glatthard schätzt die Grenzen, die uns durch die Natur gesetzt werden. «Wenn bei Sanierungen plötzlich doppelt so viel Material im Fels ist, geht dieser Reiz, diese Ehrlichkeit verloren.»

Aber auch Glatthard hat gelernt: Der Königsweg ist der gemeinsame Austausch im Vorfeld – insbesondere an Orten, die eine grosse Geschichte haben. Und wenn alle ihre Punkte einbringen könnten, finde sich im Normalfall schon ein gemeinsamer Nenner, glaubt Glatthard. Und wenn man sich dennoch nicht findet? «Da hilft nur die Zeit.»

Scheel und Glatthard sind beide überzeugt, dass der Berg niemandem gehöre. Sie verstehen sich auch nicht als Sittenwächter, wie sie von manchen anderen gesehen werden. Und trotzdem müssen für die beiden die Geschichten, die am Berg geschrieben werden, und die Menschen, die diese Geschichten geprägt haben, respektiert werden. Denn sie haben dem Berg ihre Handschrift aufgedrückt, wie Neil Armstrong dem Mond mit seinem Fussabdruck.

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