Wilde Frau
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Wilde Frau

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3262 m = 10,042 Par.F.

Die Nacht hatte die drei Wanderer ankommen sehen, sie sah sie auch wieder ausziehen. Der heutige frühe Aufbruch galt der Ersteigung des Freundhorns ( 10,368 ' ). Oft streben wir im Leben nach etwas Schönem, und das Schicksal spricht es uns ab, um ein anderes an seine Stelle zu setzen, dessen unverhoffte Erlangung uns über den Yerlust der fehlgeschlagenen Hoffnung tröstet. So ging es heute auch uns.

Mit Sonnenaufgang nahm ich das Gspaltenhorn auch von der Westseite noch einmal auf. Um 6 Uhr standen wir auf dem Oeschinengrat. Ich hätte bedenken sollen, dass 3000'herauf zu unserm jetzigen Standpunkt, 3500'hinab zum Oesehinensee, wieder 5500'nach dem Freundhorn empor, und nochmals 6800'nach Kandersteg hinunter für den heutigen Tag etwas viel sei. Doch wir hätten nicht so falsch gerechnet, wären wir nur über die Details des aller Welt ziemlich unbekannten Freundhorns etwas näher unterrichtet gewesen. Auskunft hatte ich auf der Höhe unseres Grates gehofft; aber von der ganzen Bergfront bis hinaus zum kleinen Doldenhorn ist gerade der uns interessirende Berg verdeckt, und ich war nur im Stande, meinen Führern seine Konturen in dem sehr prägnanten Schattenriss zu zeigen, den die aufgegangene Sonne so markirt auf die entgegenstehenden Felswände des Zahlerhorns und des Bürren abzeichnete. Diese eigenthümliche Photographie bewies, dass vor Nacht vielleicht der Aufstieg, keinenfalls aber der Eückweg möglich sei.

Wir waren daher, wenn auch sehr ungern, genöthigt, die heutigen Plane fallen zu lassen.

Aber sollen wir denn, wie der Thalsohlenclub, heute gar nichts thun, als einzig und allein nach Kandersteg zu bummeln? Das wäre doch im Grund genommen eine SchandeSchaut einmal zu eurer Linken! Da steht im Gewände fleckenloser Reinheit die siebengipflige Blümlisalp. Herr Bädecker hat mir zwar den schönen Preis des Morgenhorns vorweggenommen; aber immerhin ist noch manches Neue zu leisten, und wir dürfen nur wählen: Die Wilde Frau z.B. ist so viel bekannt noch jungfräulich, und beugt sie auch vor den hohen Gestalten der rückwärtsliegenden Kette das Haupt, immerhin überragt ihr 10,042'hoher Schneeteller manchen gefeierten Berg um ein gutes Stück, und in 's Kienthal hinab imponirt sie mächtig durch ihre himmelhohen Felsabstürze. Also rüstig hinan!

" Wir stiegen geradeaus den Felsrücken hinauf, wähnend, es ginge da so ohne Weiteres nach den Gletschern hinüber. Durch die offene Pforte des Hochthürli erblickten wir das Oeschinenthal sammt seinem See in viereckig abgeschlossenem Felsrahmen, ein seltsames Bild, werth einer idealisirenden Künstlerhand. Plötzlich stehen wir am Ende des Felsrückens; über den Abgrund vor uns ist nicht hinabzukommen; wir müssen wieder zurück. Vom Grat westlich hinabsteigend und zwischen ihm und dem Gletscher hinwandernd, hatten wir bessern Erfolg. Wir begingen den letztern auf dem bekannten Wege zwischen der Wilden Frau und dem Blümlisalpstock und wurden durch die Schrunde, die unter Umständen nur mit Leitern zu passiren sind, in keiner Weise aufgehalten. Das sanft geneigte Firnrevier, das den strahlenden Herrschern zu Füssen gebreitet ist, musste weit hinauf passirt werden; denn unserm Ziele ist nur von Norden, nicht von

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Osten her beizukommen. Endlich war der Punkt erreicht, von dem aus der Angriff zu erfolgen hat. Weit empor zieht sich der steigende Firntalar. Dann folgt der Felsenkranz. Da dieser gegen das Morgenhorn hin zu steil ist, so wanderten wir auf hoher Schneebank in südlicher Richtung an ihm entlang, bis wir nach einigem Suchen den praktikabeln Durchpass fanden. Eine halbe Stunde lang wurde mit Hülfe der Hände hinaufgeklettert.

Einige Schritte vom Ziel Messen mir die Führer den Vortritt; ich sollte den Fuss zuerst auf den unbekannten Gipfel setzen. Es war 9 Uhr. Eine Grossthat hatten wir zwar nicht vollbracht; nach den gestrigen Strapazen aber war es nicht ungerechtfertigt, heute einmal nur dem Genüsse zu leben. Und wir fanden ihn reichlich. Der An! liek der Schneegipfel gen Süden und Westen ist unübertrefflich. Nach Norden war es so klar, dass wir Bern erblickten. Kette hinter Kette hoben sich die Freiburger Yorberge in sanften Schattirungen vom blauen Himmel ab. Aber der Preis der Schönheit gebührt dem Niesen. Vom Thunersee herauf, in dessen Wellen sein Fuss sich badet, scholl, vom Winde getragen, ferner Kanonendonner bis herauf in unsre ewig wilde und doch von Kämpfen ewig unberührte Region. Der Gipfel bildet einen sehr langen, nach Nordost verlaufenden Grat von fast überall gleicher Höhe; wir sassen auf der südlichsten Ecke. Zum Schlüsse wurde hier ein Steinmannli errichtet, und fort ging es wieder auf dem Wege, den wir gekommen waren. Um 10 Va Uhr waren wir bei dem Gepäcke zurück. Wir hatten Eile; denn wie wir auf der Bundalp vernommen, war für die gestern erlittenen Verluste von Hut und Axt nicht in Kandersteg, sondern erst in Frutigen Ersatz zu hoffen.

Beim Hinabsteigen halte man sich immer dicht an den Gletscher an; der Weg an der nördlichen Thalseite führte uns viel zu hoch.

Am Oeschinensee wurde das Freundhorn einer genauen Musterung unterworfen; dass wir heute nicht hinaufgekommen wären, sahen wir wohl ein. Ich kann Denen nicht beistimmen, die hier von „ einer etwas unscheinbaren Spitze " sprechen. Im Gegentheil, gerade die Firnspitze des Freundhorns ist eine der schönsten Bergformen. Wie aber und wo die Ersteigung thunlich ist, ist mir trotz eingehender Betrachtung unklar geblieben. Vom See aus ist sie unmöglich. Man müsste wohl zunächst über die Felshänge des grossen Doldenhorns traversiren. Auf diese Weise würde man bis zur Mitte des Berges gelangen. Hier stehen durch die drei tiefen Einschnitte, die auch auf der Karte deutlich ausgedrückt sind, drei Wege offen; aber über allen droht das Damoklesschwert der hangenden Gletscher. Das Freundhorn erschien uns wie eine planvoll angelegte Festung; überall wo eine entfernte Möglichkeit des Aufstiegs vorhanden scheint, drohen die Eisbrüche mit kaum vermeid-barem Verderben. Vollends vom Tschingelgletscher aus halte ich jeden Versuch für eine Thorheit. Aus der ganzen Untersuchung wurde mir nur Das klar, dass wer das Freundhorn besiegt, unbedingt unter die Montanisten allerersten Rangs gezählt werden darf.

Im Hôtel Victoria langten wir um 4 Uhr Nachmittags an. Ich war nun fast anderthalb Tage unter glühendem Sonnenbrand und zum Theil über weite Firnfelder im blossen Kopfe marschirt. Froh, keinen Anflug von Hirnentzündung bekommen zu haben, überliess ich mein schmerzendes Haupt der so nöthigen Ruhe auf weichem Pfühl. Der freundliche Wirth ersparte mir den fünfstündigen Hin- und Rückweg nach Frutigen, indem er mir grossmüthig seinen Hut überliess, dem die Stürme des Lebens bereits in- und auswendig einen bleibenden Stempel aufgedrückt hatten.

Nicht so gut trafen es die Führer; der arme Johannes musste sich wohl oder übel zu dem weiten Grange entschliessen, brachte dafür aber auch eine Axt zurück, die Nichts zu wünschen übrig liess. Nur die Regel, dass ein Unglück nie ohne das andere kommt, bewährte sich auch hier, und trotz alles Pochens war und blieb er bei seiner verspäteten Eückkunft aus dem Hôtel ausgeschlossen, und musste die Nacht hungrig in einem leeren Heuschuppen zubringen.

Gern zwar hätte ich dem Freundhorn, das Andreas in Folge der gestrigen Rekognoszirung zum Feindhorn umgetauft hatte, noch einen Tag gewidmet; allein das Gerücht, dass die Umgebungen des grossenAletschgletschers durch John Bull unsicher gemacht würden, rief mich unverweilt auf den Kampfplatz des Lötschthals, wo wichtigere Objekte eine rasche That erforderten.

Der 25. August führte uns daher auf dem kürzesten Wege durch das Gasternthal über den LötscJienpass nach Ried. Auch diese Passage ist zu bekannt, als dass ich irgend dabei zu verweilen brauchte. Auf dem Gletscher hatte ich das Vergnügen, einem der bewährtesten Mitglieder des Alpenclub, Herrn Matthews, mit seinem Leibführer M. Anderegg zu begegnen. Ein gelinder Schreck kam über mich, als ich diese Namen erfuhr. Gewiss, die haben mir wieder einmal meine schönsten Plane durchkreuzt! Wie freute ich mich daher, zu hören, dass Herr Matthews nur Schreckhorn, Aletschhorn und Finsteraarhorn besuche. Das Bewundernswürdigste, was er vor zwei Tagen geleistet, war der Marsch vom Faulberg auf den Mönch, über den Jungfraufirn und grossen Aletschfirn, die Lötschenlüeke, den langen Gletscher und das Thal hinaus bis nach Riedallen Respekt vor solcher engli-scherAusdauer! Sein nächstes Ziel war das Blümlisalphorn.

Sei es mir gestattet, auf der Passhöhe eine kurze Umschau über die Lötschthalerberge zu halten, die in grandioser Gipfelreihe dem überraschten Auge entgegen-tretenWunderbar, dass diese gewaltige Gebirgsgruppe noch nicht das Ziel häufigerer Unternehmungen war! Seit Leslin Stephen das Bietschhorn zuerst erstieg, war Herr von Fellenberg der Einzige geblieben, der sich bisher näher damit beschäftigte. Seine Schilderung des Aletschhorns und der durch Herrn Studer erstattete Bericht seiner Bietschhornersteigung führen uns ein schönes und vollständiges Bild dieser beiden grössten Kolosse des Lötschthals vor. Betrachten wir das letztere, das uns jetzt zunächst steht, so ist es, als ob die Natur bei seiner Erschaffung alles Ebenmass ihres Planes vergessen hätte. Der Unterbau, wenn auch riesenhaft genug, scheint dennoch in keinem Verhältniss zu stehen zu der Last des viereckigen Felsenklotzes des Bietschhorns, das er zu tragen hat. Es ist sehr begreiflich, dass die Aufmerksamkeit der Gebirgsfreunde, so lange auch dieser Berg noch unbekannter war, ganz auf ihn hin und von den übrigen abgezogen wurde. Und doch, welche Eisreviere dehnen sich zwischen Bietschhorn und Aletschhorn aus, welcher Grletscherkranz an der geradlinigen Front des Gebirges, welche Zacken und Gräte, welche Bergspitzen von nahezu 12,000'Höhe, die selbst der eingehendsten Litteratur bisher alle so gut wie unbekannt geblieben sind! Hier liegt eine Fundgrube neuer Erfahrungen, wie wir sie kaum in irgend einem Theile der Schweiz zu erwarten haben, und wie sehr selbst der sonst so ausgezeichnete Dufour-Atlas in diesen Gebieten irrt, darüber sollten wir m den folgenden Tagen eingehend belehrt werden.

Die einzigen Unternehmungen neben jenen beiden schon genannten waren meines Wissens der öfter erfolgte Uebergang über den Beichgrat, die Ersteigung des Nesthorns und die nur einmal im Jahr 1866 durch Engländer bewerkstelligte Ueberschreitung des Baltschiederjochs zwischen Bietschhorn und Elwerück.

Wurde bei der letzteren auch der westliche Theil des Jägifirns begangen, so fand dieser Gletscher doch bisher so gut wie keine topographische Berücksichtigung; über ihn selbst, sowie über seine grossen Umgebungen vermochte ich in der vorhandenen Litteratur nur den spärlichsten Aufschluss zu finden. Für seine Kenntniss konnte Nichts erspriesslicher sein als die Ersteigung des Lötschthaler Breithorns. Dieser Berg, 3795 m= 11,683'hoch, erhebt sich als Doppelspitze in unnahbaren " Wänden über den Hintergrund des Thales. Westlich und östlich wird er von den Punkten 3642 und 3585 flankirt, deren ersterer mit Fug und Recht ein selbstständiger Gipfel genannt werden darf. Seine Ersteigung schien am leichtesten von Süden her über den Jägifirn ausführbar. Ich schloss mich dieser Ansicht an, und wenn auch jetzt die grosse Entfernung der Spitze vom Baltschiederjoch dazu mahnt, den Weg lieber über den Beichgrat zu nehmen, so halte ich dennoch aus Interesse für den Jägifirn an meinem ersten Entschlüsse fest; glaubte ich ja doch, dahinten mit einem zusammenhängenden Gletscherplateau zu thun zu haben, nicht mit zwei tiefen, ganz getrennten Thälern, die in weiter keiner Beziehung zu einander stehen, als dass sich ihre Eismassen am Absturz des Jägihorns mit einander vereinigen, gerade so wie z.B. die des Beich- und Oberaletschfirns am Thorberg oder die des Studer- und Walliser Viescherfirns am Rothhorn.

Unser zweites Ziel ist das Schienhorn. Dass die Ersteigung dieses 11,858'( 3852 m ) hohen Gipfels nur vom Beichfirn aus geschehen konnte, war einleuchtend. Wir dachten nicht entfernt daran, dass uns diese beiden Berge fünf Tage kosten würden, und desshalb war unser Plan der:

Am ersten Tag über das Baltschiederjoch und den Jägifirn das Breithorn zu gewinnen; in der Nacht sollte ein Bivouak am Beichfirn bezogen, am zweiten Tage das Schienhorn vorgenommen werden.

Beim Hinabsteigen in 's Thal hielten uns die angeschwollenen Bäche der nördlichen Kette, die bei den letzten schweren Wettern ihre Brücken zertrümmert hatten, dermassen auf, dass wir erst spät im neuen Hotel Nesthorn zu Ried ankamen. Das Haus sowie seinen Inhaber, Herrn J. J. Lehner, kann ich meinen Kollegen auf 's Wärmste empfehlen. Sehr interessant war mir das Fremdenbuch. Die darin angedeuteten Touren bezogen sich meist auf die nördlichen Berge. Ein dritter Versuch zur Ersteigung des Bietschhorns, sowie ein zweiter beabsichtigter Uebergang nach dem Baltschiederthal waren am schlechten Wetter gescheitert. Was unter dem „ Nestjoch ", über welches ein Engländer „ in one day " von Bellalp nach dem Lötschthal gelangt sein will, zu verstehen sei, konnte ich mir weder selbst deutlich machen, noch von den Führern des Thals erfahren.

III. Entdeckungsfahrten zwischen Baltschiederjoch und Beichgrat.

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