100 Jahre Haute Route Chamonix–Zermatt
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100 Jahre Haute Route Chamonix–Zermatt Grosses Jubiläum für grossen Klassiker

Im Januar 1903 unternimmt der Arzt Michel Payot aus Chamonix zusammen mit ein paar Männern aus seinem Dorf eine Skitour nach Zermatt und eröffnet damit die heute wohl berühmteste Alpendurchquerung: die Haute Route Chamonix–Zermatt.

Die Idee, die beiden Orte Chamonix und Zermatt direkt miteinander zu verbinden, stammt – wie könnte es anders sein – von den Engländern. Diese Tourismus-pioniere, die im 19. Jahrhundert in grosser Zahl in Chamonix und in Zermatt Ferien machen, suchen eine möglichst direkte Verbindung durch die Alpen. 1861 entsteht die « High Level Road », die im Sommer schnell grossen Zulauf findet. Es dauert aber noch mehr als 30 Jahre, bis man sich für die Verbindung im Winter zu interessieren beginnt. Zuerst müssen sich die Ski überhaupt in den Alpen behaupten. 1897 sind es der Deutsche Wilhelm Paulcke und ein paar Freunde, die eine erste grosse Überschreitung im Berner Oberland auf Ski machen. Zur gleichen Zeit setzt der Arzt Michel Payot aus Chamonix Ski als Fortbewegungsmittel ein, um seine Patienten zu besuchen. Nachdem er zusammen mit Freunden den Col du Géant überschritten hat, scheint es ihm an der Zeit, die Haute Route auch im Winter unter die Füsse zu nehmen.

Gut gefüllte Rucksäcke

Im Januar 1903 herrschen günstige Bedingungen. Michel Payot stellt eine Gruppe mit den Führern Joseph Couttet, Alfred Simond und Joseph Ravanel, genannt der Rote, zusammen. Drei Träger begleiten sie, im Gepäck zwei Meter lange Ski mit Seehundfellen, einen 1 m 80 langen Bremsstock pro Person, Schneeschuhe, einen Rucksack von 8 bis 10 kg Gewicht mit Wäsche zum Wechseln, Lebensmitteln und Werkzeug für die Reparatur der Ski. Am 16. Januar schnallen sie in Argentière die Ski an, steigen zu den Chalets de Lognan auf und treffen auf ihre Träger, die eine Stunde vor ihnen mit den Schneeschuhen aufgebrochen sind. Am nächsten Tag gehts richtig los. Die Gruppe steigt den Glacier d' Argentière hinauf und seilt sich dann an, um auf hartem Schnee über den Glacier de Chardonnet aufzusteigen. «... Die Schneebrücken erscheinen uns zweifelhaft. Wir gehen vorsichtig weiter, das Seil gespannt. Plötzlich ein Schrei! Eine Brücke ist unter den Füssen von Simond eingebrochen, als er ihre Festigkeit prüfte. Das Seil hält ihn am Rand des Abgrunds... » Sie überschreiten den Col du Chardonnet und steigen dann in den Col de Saleinaz, 3309 m, knabbern anschliessend an ihrem Roastbeef und lutschen ihren Wein, der tiefgefroren ist.

In einen Schlitten verwandelte Ski

Es kommt der Augenblick der Abfahrt. « Wir gleiten nach Les Echelettes. Die Rinne, die wir hinunterfahren müssen, um nach Orsières zu gelangen, ist steil und tief eingeschnitten. Es wäre gefährlich, dies mit unseren ‹Schlittschuhen› an den Füssen zu tun. Schnell verwandeln wir sie in einen neuartigen Schlitten. Die beiden Ski werden nebeneinander gelegt. Wir setzen uns darauf, halten die Riemen der Bindungen in der Hand, und in einer Schneewolke, die wir wegen unserer Geschwindigkeit aufwirbeln, sausen wir in wenigen Minuten nach Grépillon de l' Ors hinunter. » Mit dieser unkonventionellen Methode erreichen sie Orsières und gelangen mit einem Auto nach Châble.

Am Sonntag, 18. Januar, erreichen sie Lourtier im Schlitten. Da sich das Wetter verschlechtert hat, kommen sie erst bei Einbruch der Nacht zur Cabane de Chanrion. Am nächsten Tag beginnen sie um 3 Uhr in der Früh den langen Anstieg über den Glacier d' Otemma. Um 7 Uhr morgens ist der Petit Collon in Sichtweite, aber das Wetter wird wieder schlechter. Als sie schliesslich im dicken Nebel stecken, beschliessen sie, umzukehren und steigen zur Cabane de Chanrion ab.

Zu wenig Lebensmittel, kein Wein

Dienstag, 2O. Januar: « Die Luft ist sehr kalt und der Himmel völlig wolkenlos, aber wir haben zu wenig Proviant, und der Wein ist uns ganz ausgegangen.... Es kann keine Rede davon sein, bei diesen Bedingungen die lange Etappe nach Zermatt anzugehen. » Sie steigen bis Martigny ab und trösten sich mit Raclette, das sie bei dieser Gelegenheit kennen lernen. Doktor Payot notiert in sein Heft, dass « diese unverdauliche Speise wenigstens dazu führt, viel zu trinken ». Dieser Aufenthalt verbessert ihre Moral, und sie beschliessen, mit ihrer Tour dort weiterzufahren, wo sie aufgehört haben.

Am Donnerstag, den 22. Januar, sind sie wieder unterwegs. Sie brechen frühmorgens um 3 Uhr 30 auf. « Bis Haudères ist der Weg gepfadet. Wir ziehen unsere Ski an einer Schnur hinter uns her. … Um 5 Uhr sind wir im Maiensäss Pratz-Fleuri; von jetzt an gibt es keine Spur mehr. Bis zum Abend gehen wir durch unberührten Schnee. Eine Viertelstunde Halt, um unsere Geräte anzuschnallen, und weiter gehts. … Wir steigen jetzt direkt unter der Dent-Blanche auf, die sich gewaltig vor uns auftürmt. In 3 ⁄ 4 Stunden erreichen wir den Glacier de Ferpècle. … Um 16 Uhr sind wir im Col d' Hérens, 3480 m. Ich werde das Gefühl nie vergessen, als ich plötzlich im Osten den Horizont wahrnehme. … In der Ferne das Monte-Rosa-Massiv, und vor uns, ganz nah, das Matterhorn, das auf der anderen Seite des Zmuttgletschers beängstigend mit seinen Schwindel erregenden Graten aufragt. … Wir steigen zum Zmuttgletscher ab, die Ski auf den Schultern. »

Ruhestörer!

« Es ist schon dunkel, und als wir auf den Gletscher gelangen, zündet Ravanel seine Laterne an. Der wunderbare Gletscher, der uns am Tag eine angenehme Abfahrt von 4 km Länge geboten und den wir wohl in einer halben Stunde hinter uns gebracht hätten, bereitet uns jetzt stundenlange Mühsal. … Müde, durchfroren und mit einem Loch im Magen träumen wir während des Marsches von der Wohltat eines ausgiebigen Nachtessens und eines guten Betts. … Es ist fast Mitternacht, als wir Zermatt erreichen. Die grossen Hotels sind alle geschlossen, und wir sehen keine offene Unterkunft. » Sie machen sich mit Rufen bemerkbar, müssen sich aber von einem verärgerten Bewohner als « Trunkenbolde und Ruhestörer » beschimpfen lassen. Schliesslich bitten sie den Pfarrer um Hilfe, der ihnen den Weg zum einzigen geöffneten Hotel weist.

Michel Payot schliesst diese erste Alpendurchquerung auf der Haute Route mit den Worten: « Was haben wir von dieser langen, aber schönen Traversierung mitgenommen? Viele werden sagen: nichts ausser Mühsal und Leiden aller Art. Aber die Meinung interessiert uns nicht; die Leute haben ja keine Ahnung. Wir alle behalten das brennende Verlangen, diese wunderbaren Wintertouren fortzusetzen. Wir schätzen jetzt die Bedeutung der Ski als Fortbewegungsmittel: Wir wissen, dass die Aufstiege so schnell gemacht werden können wie im Sommer und dass die Abfahrt vom Gipfel, die im Sommer ebenso anstrengend ist wie der Aufstieg, im Winter auf den Ski ein einziges Vergnügen darstellt … »

100 Jahre Schönheit und Vergnügen

In den folgenden Monaten und Jahren wird die Linie dieser ersten Haute Route abgeändert. Im Januar 1908 gelingt Ravanel dem Roten die erste Überschreitung Chanrion–Zermatt in 18 1 ⁄ 2 Stunden. Marcel Kurz, Professor Roget und die Führer Maurice Crettex und Louis Theytaz versuchen zwischen dem 9. und 14. Januar neue Varianten. Sie sind die Ersten, die von der Cabane de Valsorey über den Col de Sonadon, 3489 m, zur Chanrionhütte gehen und die Schlüssel-etappe von der Cabane de Chanrion zur Cabane de Bertol über den Col de l' Evêque entdecken, wobei ihnen im Vorübergehen auch noch die erste Winterbesteigung der Dent Blanche gelingt. Dies ist denn auch die Route, die der aktuellen Haute Route am nächsten kommt. Der Weg über Verbier und die Cabane de Montfort, vor 1950 nur selten begangen, ist zum grossen Klassiker der Alpen geworden. Über 3000 Skitouristen absolvieren jährlich die Tour in fünf oder sechs Tagen. 100 Jahre sind seit der Erstbegehung vergangen, 100 Jahre Glücksgefühle und Naturschönheiten für alle, die die Haute Route schon einmal erlebt haben.

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