100 Jahre Schweizerisches Alpines Museum in Bern. Von Agassiz' Eisbohrer über Kümmerlys Karte zu Hesses Ski und Becks Fotos
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100 Jahre Schweizerisches Alpines Museum in Bern. Von Agassiz' Eisbohrer über Kümmerlys Karte zu Hesses Ski und Becks Fotos

100 Jahre Schweizerisches Alpines Museum in Bern

1902 wurde das Schweizerische Alpine Museum durch die Sektion Bern des Schweizer Alpen-Clubs gegründet und 1905 im « Rathaus des Aeusseren Standes » an der Zeughausgasse in Bern eröffnet. Seit 1934 ist es am Helvetiaplatz beheimatet. In den 100 Jahren seines Bestehens ist es zu einer Institution weit über den helvetischen Alpenstaat hinaus geworden. Ein kurzer Rundgang durch die Ausstellung und das Archiv mit seinem Direktor Urs Kneubühl.

Am grossen Bietschhorn schreiten wir zielstrebig vorbei zum Matterhorn in der linken Ecke im Saal des Erdgeschosses. Da erhebt sich fast einen Meter hoch der berühmteste Berg der Schweiz – und vielleicht der Welt –, markant moduliert von Xaver Imfeld im Massstab 1:5000. Imfeld habe das Relief für die Landesausstellung von 1896 in Genf, an der sich der Schweizer Alpen-Club gross beteiligt habe, geschaffen, erzählt Urs Kneubühl. « Damals hat man erstmals über eine permanente Ausstellung alpiner Objekte nachgedacht. » Zur gleichen Zeit sei Imfeld im Besitz einer Konzession für eine Bahn aufs Matterhorn gewesen, erzählt der Museumsdirektor weiter. Zum Glück hat er nur das Relief gebaut. Wir stehen davor, können drum herumgehen, suchen vergeblich die Hütten, entdecken bloss die Kapelle am Schwarzsee und staunen über die Grösse und Dicke der Gletscher.

Berge aus Gips

Imfelds Matterhorn ist eines von 250 Reliefs im Schweizerischen Alpinen Museum in Bern, womit das SAM die weltweit grösste Sammlung besitzt: von den ersten dreidimensionalen Abbildungen der Berge bis zum digital erstellten Relief des Eigers. Prunkstücke der Sammlung sind die Reliefs des Bietschhorns und der Grossen Windgälle, die Eduard Imhof für die Landesausstellung in Zürich von 1939 im Massstab 1:2000 schuf. « Die Picassos der Reliefs » wie Urs Kneubühl stolz bemerkt.

Berge mit Eis

Ebenso stolz ist er auf den Eisbohrer aus Eisen, den Louis Agassiz, Edouard Desor und ihre Neuenburger Gefährten von 1837 bis 1840 bei ihren Forschungsarbeiten auf dem Unteraargletscher verwendeten. Bis zu siebeneinhalb Meter tiefe Löcher hätten sie damit gebohrt, obwohl der Bohrer immer zu vereisen drohte. Erstmals sei die Temperatur im Eis gemessen worden. Und neben dem Bohrer liegen zwei Bruchstücke des legendären « Hôtel des Neuchâtelois », worin die Forscher wochenlang hausten. 1 Wir können die Inschriften « L. AGASSIZ » und « C. VOGT » entziffern. Vor solchen Reliquien der Forschung wird Vergangenheit lebendig, und wir schlagen den Bogen zu den modernen Eisbohrungen, die dem Klimawandel auf die Spur kommen. So sollen die neuesten Geräte und Erkenntnisse dereinst auch ausgestellt werden.

Berge von Knochen

Gestern – heute: Auf Schritt und Tritt pendeln wir zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her. Da stürzt sich ein Bartgeier auf ein paar Knochen – ein gewaltiges Exemplar, um 1850 in der Gegend von Frutigen abgeschossen. Seit gut zehn Jahren fliegt der grösste Alpenvogel in den Schweizer Bergen wieder frei herum – am Helvetiaplatz kommen wir seinem Schnabel und seinen Krallen ganz nah. Daneben zeigen Videos spielende Gämsen- und Murmeltierkinder. Kindergerechte Ausstellungen will das Museum noch stärker verwirklichen.

1 Vgl. ALPEN 10/2000 « Bergfahrten der Alpenpioniere im 19. Jahrhundert » Vor 100 Jahren wurde das Schweizerische Alpine Museum im « Rathaus des Aeusseren Standes » in Bern eröffnet. Blick in den Ausstellungssaal an der Zeughausgasse Foto: Archiv SAM

Berge auf Papier

Wir stehen – einen Stock höher – vor der Schulwandkarte. Nicht vor der gedruckten, sondern vor der gemalten. Dem Original von Hermann Kümmerly aus dem Jahre 1896. Sie verhalf der Reliefdarstellung in der Kartografie zum Durchbruch – und der Schweiz zum Bewusstsein ihrer Geografie. Und auch zu einem guten Stück Identität. « Die Schulwandkarte hing im Klassenzimmer, als ich in Burgdorf zur Schule ging », erinnert sich Urs Kneubühl, Jahrgang 1948. Der Rundgang durchs Museum ist mehr als Information und Unterhaltung, mehr als Wissensvermittlung und Erkenntnisge-winn; plötzlich werden persönliche Schichten und Schicksale freigelegt.

Berge dank Holz

« Bei Museumsführungen frage ich die Leute jeweils, ob sie etwas auf dem Kerbholz hätten », lacht Kneubühl. Wir befinden uns vor der Wand mit schön geschnitzten Hölzern. « Die Bergbauern regelten viele ihrer Rechte und Pflichten mit einfachen, aber genialen Holzurkunden, den Tesseln. Deren wichtigste Bestandteile waren das Familien- oder Hauszeichen und die Mengeneinheiten », heisst es auf der viersprachigen Erklärung. « Die Mengen wurden meist in Form von verschiedenartigen Kerben oder in einem eigenen System von Bauernzahlen festgehalten. » Kerbholz war also einst ein durchaus positiver Begriff. Auf Holz wurde vor 100 Jahren geregelt, wann wie viele Kühe auf welcher Alp weiden durften und musstenAlp-)Wirtschaft buchstäblich im Einklang mit der Natur. Heute wird eher geregelt, wie viel Wasser zu Kunstschnee verpulvert werden kann.

Berge im Schnee

Die wichtigste Ausrüstung des Vorläufers von Bernard Russi, Pirmin Zurbriggen und Didier Cuche hängt am berühmtem Nagel: Es sind die Ski von Fritz Steuri, dem Grindelwaldner Pösteler und Bergführer, der überlegen die drei ersten Skirennen von 1905 bis 1907 gewann. Darauf bat man ihn, nicht mehr teilzunehmen, um noch andere Läufer gewinnen zu lassen. Daneben befindet sich das Modell eines kombinierten Ski-Schneeschuhs des Norwegers Thorleif Björnstadt, der in Bern zu Geschäft und Ehren kam. « Schon immer hat man verschiedenste Gleitgeräte ausprobiert », weiss der Museumsleiter. Und erwähnt den Prototyp des Snowboardes, das « leider im Keller unten aufbewahrt wird ». Die Ski von Hermann Hesse leisten ihm dort Gesellschaft.

Berge auf Leinwand

Ein Museum kann nie alles zeigen. Die Sammlung des SAM umfasst rund 20 000 Objekte und 160 000 Fotos. « Wir möchten in die Dauerausstellung noch mehr Aktualität bringen », umreisst der Direktor die zukünftigen Aktivitäten. Um als schweizerisches Bergweltzent- Ein gewaltiges Exemplar eines Bartgeiers, der um 1850 in der Gegend von Frutigen abgeschossen wurde Historisch gesehene Topmodelle für Skifahrer aus der Jahrhundertwende Ob da jemand etwas auf dem Kerbholz hat? Die schön geschnitzten Hölzer sind Holzurkunden, Tesseln, mit denen die Bergbauern ihre Rechte und Pflichten organisierten. Fotos: Daniel Anker Eine « Forschungsreliquie »: Louis Agassiz'Eisbohrer aus Eisen, der zwischen 1837 und 1840 auf dem Unteraargletscher zum Einsatz kam Das Matterhorn, fast einen Meter hoch, moduliert von Xaver Imfeld im Massstab 1:5000 für die Landesausstellung von 1896 rum noch besser wahrgenommen zu werden, müssten grundlegende Phänomene noch vermehrt mit aktuellen Bezügen vermischt werden. « Ein Museum ist da, um in die Zukunft zu wirken. » Zugleich sollten aber die berühmten Objekte für die Besucher immer zugänglich sein. Zum Beispiel die Gemälde « Aufstieg » und « Absturz » von Ferdinand Hodler. Für die Weltausstellung in Antwerpen schuf der Künstler 1894 zwei riesige Dioramen, die an den Triumph und die Tragödie bei der Erstbesteigung des Matterhorns im Jahre 1865 erinnern. Unter Anleitung Hodlers wurden 1916 die beiden Leinwände in die sieben Ausschnitte zerlegt, die seit 1993 in einem zweistöckigen Saal bewundert werden können – einen besseren Platz hätten sie nicht finden können.

Berge von Objekten

Platz finden – Platz haben – Platz machen. Dies sind Aspekte der Museumsarbeit, die immer wieder neu angegangen werden müssen. Derweil stapeln sich im Archivraum am Helvetiaplatz sowie in einem Aussenlager die Objekte. Schein-bare Nebensächlichkeiten wie die plü-schige Lilakuh, persönliche Ausrüstungsgegenstände wie der Hut des Solothurners Franz Josef Hugi, den dieser 1827 bei der versuchten Besteigung der Jungfrau aus dem Rottal trug. Martin Distelis Zeichnung dieses Versuchs gilt als eine der ersten Darstellungen des Bergsteigens überhaupt. Dann hält man diesen fast wieder modern anmutenden Hut in der Hand, ganz vorsichtig und ehrfürchtig. Mehr spielerisch der Umgang mit dem Modell der Cabane de Chanrion, das im Archivgestell überwintert. Die eine Dachhälfte ist offen und gibt den Blick frei ins Innere der Hütte, die Finger können nach der Pfanne greifen. Die Bergwelt – 70% der Schweiz sind alpin – in ihrer ganzen Breite und Tiefe begreifbar machen, das ist seit 100 Jahren eine der Hauptaufgaben des SAM.

Berge auf Glas

Und schon zieht Urs Kneubühl einen weiteren Schatz ans Licht des Archivrau-mes: ein 69 cm messendes Glasdia aus der Schachtel T 252 der alpinen Projektionsbilder. Es zeigt den Transport eines Toten über den Lötschengletscher. Ob das traurige Foto bisher wohl je gedruckt wurde? Kein Postkartenmotiv, gewiss. Die Plakate übrigens und die Stiche lagern gleich gegenüber, schön geordnet, oft schon digital abrufbar.

Seit 1934 befindet sich das Schweizerische Alpine Museum am Helvetiaplatz in Bern.

Aus dem Glasdia-Archiv: Transport eines Toten über den Lötschengletscher Mit dem Direktor des Schweizerischen Alpinen Museums, Urs Kneubühl, im Archivraum: Diesen Hut trug Franz Josef Hugi 1827 beim Versuch, die Jungfrau vom Rottal aus zu besteigen.

Das SAM ist reich an « Bergen auf Glas »: 69 cm messende Glasdias mit alpinen Projektionsbildern.

Foto: Archiv SAM 100 Jahre SAM – und noch viele mehr 1901: Mitglieder der SAC-Sektion Bern erwägen die Gründung eines alpinen Museums. 1902: Im März wird in Genf die Gründung eines « Musée alpestre » debattiert. Am 2. April beschliesst die Sektion Bern, « ein Schweizerisches Alpines Museum in Bern ins Leben zu rufen », wie Rudolf Zeller in der « Alpina » vom 15. Mai 1902 schreibt. 1905: Am 9. Juli wird das Schweizerische Alpine Museum als Provisorium im Rathaus des Äussern Standes an der Zeughausgasse in Bern, im grossen Saal des 1. Stocks, eingerichtet. Dort war 1874 der Weltpostverein gegründet worden. Ehrenamtlicher Leiter bis 1940 ist Prof. Dr. Rudolf Zeller, Hauptförderer des SAM. 1933: Das SAM wird eine öffentlich-rechtli-che Stiftung. Zur Trägerschaft gehören die Eidgenossenschaft, der Kanton Bern, die Einwohnergemeinde Bern, der SAC und die Sektion Bern. 1934: Am 7. Februar wird das neue Museum am Helvetiaplatz in einem im Stil des Neuen Bauens erstellten Haus eröffnet. Um die Kosten zu reduzieren, ist das PTT-Museum eingemietet. 1940: Prof. Dr. Walther Rytz wird ehrenamtlicher Leiter ( bis 1957 ). 1958: Prof. Dr. Georges Grosjean wird nebenamtlicher Direktor ( bis 1969 ). 1960: Die Dauerausstellung wird neu gestaltet. 1969: Dr. Georg Budmiger wird nebenamtli-cher und ab 1978 vollamtlicher Direktor. 1990–1993: Grosse Erweiterung und Erneuerung. Für die beiden grössten Exponate, die sieben Hodler-Bilder « Aufstieg » und « Absturz » sowie das 5,254,. " " .80 m grosse Berner-Alpen-Relief von Simon Simon, wird ein zweigeschossiger Raum geschaffen. Das PTT-Museum zieht weg. Aus finanziellen Gründen werden trotz Platzknappheit 300 m 2 dauervermietet. 1996: Dr. Urs Kneubühl wird neuer Direktor. 2003: Seit 1996 haben die Eintritte um 54% zugenommen. 2004: Das SAM erhält den goldenen King-Mountain-Award der King Albert I. Memorial Foundation und den mit 100 000 Franken dotierten Kulturpreis 2005 des Kleinen Burgerrates der Burgergemeinde Bern. Die Ausstellung « Achtung Klimawandel !» erzielt mit 31 097 Eintritten die grösste Besucherzahl seit Bestehen des Museums, darunter 400 Schulklassen. 178 Gruppen nutzen das Angebot für Führungen. Positive Signale für die Basisfinanzierung: Der SAC erhöht ab 2005 seinen Betriebsbeitrag um 25%. Berner Stadträte haben eine Initiative zur Überbrückungsfinanzie-rung für das Jahr 2005 ergriffen. Damit wird die ursprünglich vollständige Streichung des städtischen Betriebsbeitrags um ca. 40% reduziert. 2005: Am 3. März öffnet die Jubiläumsausstellung « Der ewige Augenblick. Berg- und Reisefotografie von 1860 bis heute » ihre Tore. 2 Info: Schweizerisches Alpines Museum, Helvetiaplatz 4, 3005 Bern, Tel. 031 350 04 40, www.alpinesmuseum.ch. Offen Mo 14–17 Uhr, Di bis So 10–17 Uhr 2 Vgl. Beitrag S. 56 in dieser Ausgabe Noch nicht erfasst, ja noch nicht einmal geputzt und gesichert sind hingegen die über 1000 grossformatigen Glasplatten in elf meterlangen Holzkisten, das fotografische Vermächtnis des Strassburger Fotopioniers aus der Frühzeit des Alpinismus, Jules Beck. Er schleppte seine Ausrüstung als einer der Ersten bis auf die Gipfel hinauf, zeigte den Leuten unten erstmals die Welt von oben in ungeahnt objektiver Art. Die Restaurierung dieser Glasplatten wäre möglich, sagt Urs Kneubühl, Kostenpunkt rund 40 000 Franken. « So viel Geld haben wir zurzeit nicht greifbar. » Und klappt die Kiste zu.

Um gleich eine neue zu öffnen. « J. BECK PHOTOGRAPHIES des hautes régions Alpines » verkünden goldene Lettern auf dem Deckel. Eine 856718 cm grosse Holzkiste zum senkrechten Aufstellen und Aufklappen. Darin befinden sich zwölf schwenkbare Tafeln, die auf der Vorder- und Rückseite schön und genau beschriftete Bergfotos aus den Jahren 1868 bis 1888 enthalten, vor allem aus den Westalpen, aber auch vom Grossglockner und vom Ortler sowie aus den Pyrenäen und zuletzt noch vom Ätna. Ein riesiges Fotoalbum, wunderbar erhalten, von unschätzbarem Wert. Jules Beck schuf es für die Weltausstellung 1889 in Paris. Im Schweizerischen Alpinen Museum in Bern wird es einen permanenten Platz in der Ausstellung finden. a Daniel Anker, Bern Das Modell der Cabane de Chanrion: fast wie bei einer Puppenstube. Die offene Dachhälfte gibt den Blick ins Hütteninnere frei. Aus dem Vermächtnis des Strassburger Fotopioniers Jules Beck. Er schleppte als einer der Ersten seine Fotoausrüstung bis auf die Gipfel.

Das Schilthorn, fotografiert von Jules Beck im vorletzten Jahrhundert Fotos: Daniel Anker Foto: Ar chiv SA M

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