100 Jahre Steinbock in den Schweizer Alpen. Eine erfolgreiche Wiederansiedlung
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100 Jahre Steinbock in den Schweizer Alpen. Eine erfolgreiche Wiederansiedlung

Eine erfolgreiche Wiederansiedlung

100 Jahre Steinbock in den Schweizer Alpen

Der Steinbock in den Schweizer Alpen hat eine bewegte Geschichte. Nach der Eiszeit breitete er sich im Alpenraum aus. Ab der Mitte des zweiten Jahrtausends wurde er zurückgedrängt und praktisch überall ausgerottet und vor 100 Jahren wieder angesiedelt. Die Erfolgsgeschichte einer Wiederansiedlung.

Nach dem Rückgang der Gletscher nach der letzten Eiszeit besiedelte der Steinbock weitab von menschlichen Behausungen vor allem die Gebiete über der Waldgrenze. Als ab der ersten Jahrtausendwende unsere Vorfahren ihre Siedlungen bis über die Waldgrenzen hinaufzogen, wurde der Jagddruck auf diese wenig scheuen Tiere, die sich « nur » in die nächsten Felsen flüchteten, immer grösser. Dazu kam eine stetige Entwicklung der Waffen bis hin zu Feuerwaffen. In Notzeiten mit geringer Nahrungspro-duktion, die damals nicht selten waren, griff man gerne auf den Steinbock als Fleischlieferanten zurück, wobei auch Felle, Gehörne, Fett und weitere Organe – auch als Heilmittel – verwendet wurden. Als Folge der Übernutzung der Steinbockbestände war der « König der Alpen » im 18. Jahrhundert nicht nur in der Schweiz, sondern praktisch im ganzen Alpenraum ausgerottet. Einzig im Aostatal blieb ein lokaler Bestand im Jagdrevier der italienischen Könige erhalten.

« Reinblütige » Steinböcke gesucht

Etwa Mitte des 19. Jahrhunderts gab es vor allem bei den damaligen Naturwissenschaftern, Förstern und einzelnen Jägern sowie bei verantwortungsbewussten Politikern einen Gesinnungswandel in Bezug auf den Raubbau an den Wild-tierbeständen. 1 Für die ersten Ausset-zungsversuche griff man auf Wildpark-tiere zurück, bei denen es sich aber fast immer um Bastarde zwischen Steinbock und Hausziege handelte. 1815 wurden bei Interlaken, 1854 am Gotthard, 1879 bei Arosa und 1887 bei Filisur solche Tiere freigelassen. Diese Versuche scheiterten, weil die Tiere den Ansprüchen in der freien Wildbahn nicht gewachsen waren. Unabhängig davon beschäftigte sich in St. Gallen die Tierparkgesellschaft « Peter und Paul » – insbesondere Albert Girtanner, Tierarzt und ausgewiesener Naturforscher, und Robert Mader, ver-mögender Hotelier, Jäger und Naturfreund – mit Fragen von Haltung und Zucht des Steinbocks. Während Girtanner für die wissenschaftlichen Grundlagen sorgte, war Mader der « Beschaffer ». Im königlichen Jagdrevier von Gran Paradiso im Aostatal wurden « reinblütige » Steinböcke wie Augäpfel gehütet, um so dem italienischen König sein exklusives Jagdvergnügen zu ermöglichen. Verschiedene Versuche, solche « reinblütige » Steinböcke zu erhalten, scheiterten – selbst auf höchster politischer Ebene: Der schweizerische Bundespräsident Zemp erhielt 1905 anlässlich der Einweihung Der Steinbock wurde so intensiv genutzt, dass er im 18. Jh. im Alpenraum weitgehend ver- schwand.

Foto: Ernst Zbär en Der wolkenverhüllte Gran Paradiso, 4061 m Im Nationalpark Gran Paradiso. Blick vom Colle dei Nivolet gegen Südosten ins Valle Orco Fotos: eg des Simplontunnels auf eine entspre- chende Frage vom italienischen König Vittorio Emmanuele III. eine Abfuhr.

Erfolgreich, aber nicht ganz legal

Aufgrund dieser Erfahrungen wandte sich Mader bezeichnenderweise nicht an den König, sondern an Wilderer im Aostatal. Das Wildern von Steinböcken hatte in dieser Gegend bereits eine gewisse Tradition als « lukrativen Nebenerwerb ». Giuseppe Bérard, Sohn eines hinlänglich bekannten Wilderers, erklärte sich bereit, Maders Wunsch nach lebenden Steinkit-zen zu erfüllen. Gleichzeitig liefen im Wildpark « Peter und Paul » die Vorbereitungen auf Hochtouren. Mit grossem finanziellem Aufwand und unter Mitwirkung eines namhaften Bildhauers wurde ein noch heute existierender Steinbockfelsen errichtet. Am 2O. Juni 1906 war es so weit: Die ersten zwei Kitze wurden beim Grossen St. Bernhard über die Grenze nach Martigny gebracht, wo sie Mader in Empfang nahm und umgehend nach St. Gallen transportieren liess. Dort trafen sie am 22. Juni 1906 wohlbehalten ein – und markierten damit den Ausgangspunkt für die erfolgreiche Wiederansiedlung des Steinbocks in den Alpen. Dieses Unterfangen kostete die St. Galler 2001 Franken, was einem heutigen Gegenwert von ca. 60 000 bis 70 000 Franken entspricht! Inbegriffen war übrigens eine saftige Busse von 401 Franken für die unbewil-ligte Einfuhr von lebenden Tieren in den Kanton Wallis – die Gruppe war von der Gendarmerie des Kantons Wallis nach dem Grenzübergang ohne die entsprechenden Dokumente erwischt worden. Ab diesem Zeitpunkt wurden bis 1939 an die 100 weitere junge Steinböcke über die Schweizer Grenze geschmuggelt.

Aufzucht und erste Aussetzungen

Neben dem Wildpark « Peter und Paul » war auch der « Alpenwildpark Interlaken-Harder » in der Aufzucht von Steinböcken aktiv. Unterstützt wurde er vom eidgenössischen Oberforstinspektor Johann Coaz, dem Schöpfer des Jagdgesetzes von 1875. Darin stand bereits rund 30 Jahre vor der Aktion in St. Gallen in einem Gesetzesartikel: « Der Bund wird die Besiedlung der Freiberge 2 mit Stein- böcken anstreben. » Für Johann Coaz, der bereits im 19. Jahrhundert mit der Wiederansiedlung von Steinböcken Erfahrungen gesammelt hatte, war klar, dass diese nur in den neu ausgeschiedenen Banngebieten, also geschützt vor Wilderei, erfolgreich sein würde. Er versprach den Verantwortlichen des Wildparks « Peter und Paul » breite Unterstützung des Bundes, die der damals bereits 83-jährige ehemalige Adjutant von General Dufour dank seines Einflusses in Bern auch durchsetzte. Für die erste Aussetzung steuerte das Oberforstinspektorat den hohen Betrag von 7000 Franken bei. Coaz erlebte die erste Aussetzung von Steinböcken aus dem Wildpark « Peter und Paul » im Freiberg « Graue Hörner » im St. Galler Oberland 1911 noch als Oberforstinspektor, trat er doch erst 1914 im Alter von 92 Jahrenvon seinem Amt zurück.

Weniger optimale Lebensräume

Mit dem Verschwinden der Steinböcke waren auch die Kenntnisse über ihre Lebensweise, vor allem über geeignete Lebensräume, verloren gegangen. So spielten für die ersten Aussetzungsorte vor allem lokale Aspekte eine wichtige Rolle. Die Verantwortlichen des Wild-parks « Peter und Paul » bestanden darauf, 1 Vgl. ALPEN 9/1999 und 10/1999 zur « Jagd im Kanton Wallis » 2 « Freiberge » entsprechen heute den eidgenös- sischen Jagdbanngebieten.

Piano del Nivolet mit der Grivola, 3969 m Blick gegen Westen auf den Grenzkamm zu Frankreich mit Cima di Vacca, 3183 m, und Grande Aiguille Rousse, 3482 m ( l. ) ihre ersten Tiere im St. Galler Oberland – im Freiberg « Graue Hörner » – auszusetzen, der Heimat von Robert Mader. Und für das Banngebiet « Ela » im Oberhalbstein setzte sich wohl Coaz ein, um das Bündner Wappentier in seiner Heimat anzusiedeln. Die Kolonie « Graue Hörner » serbelte trotz zusätzlicher Aussetzungen über Jahrzehnte dahin, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstand dann im Calfeisental der heute bekannte und mehrere hundert Tiere umfassende Bestand. Die Kolonie am Piz Ela verschwand nach wenigen Jahren völlig.

Steinböcke und ihre Revieransprüche

Auf Druck der eidgenössischen National-parkkommission wurden dann im Schweizerischen Nationalpark auf der linken Spöltalseite oberhalb von Zernez Tiere ausgesetzt. Damit wollte man verhindern, dass die Tiere auf italienisches Gebiet gerieten und sofort gewildert würden. Der Versuch scheiterte. Zwei Steingeissen hatten sich « trotzdem » über italienisches Gebiet in die Gegend oberhalb von Berninahäuser verschoben. Dort entdeckte sie Wildhüter Andrea Rauch senior, der sich für weiteren Nachwuchs einsetzte und so die Kolonie « Albris » förderte. Dieser von den Steinböcken sozusagen selber ausgewählte Ort wurde in der Folge zu einer der wichtigsten Kolonien neben jener vom Augstmatthorn in der Nähe des Wild-parks Harder und der Walliser Kolonie « Mont Pleureur ». Von den bis 1938 gegründeten zwölf Kolonien bildeten die damals bereits über 500 Tiere das Fundament für das endgültige Gelingen der Steinbockwieder-einbürgerung in der Schweiz. Vonseiten des Bundes kümmerte sich in der schwierigen Anfangsphase der erste eidgenössische Jagdinspektor, Nathanael G. Zim- Erste Tiere in die Freiheit ausgesetzt: Bock und Geiss im Rappenloch im Jahr 1911 Foto: Wildparkarchiv Peter und Paul St. Gallen Le Plan da Nivolet. Königliche Jagd im Gran Paradiso Foto: W ildparkar chiv Peter und Paul St. G allen Auch im « Alpenwildpark Interlaken-Harder » wurden Steinböcke gezüchtet. 1914 wurde dazu diese Felspyramide errichtet. Aufnahme ca. 1918 Foto: Priv atsammlung Mar grit Bodmer -Jenny, Därligen Der Steinbockfelsen im Wildpark Peter und Paul St. Gallen wurde vor 100 Jahren extra für die Aufzucht der jungen, aus dem Gran Paradiso eingeführten Tiere errichtet.

merli, in beharrlicher Knochenarbeit zusammen mit den Wildhütern in den Banngebieten um die Wiederansiedlung. 1935 begann sich auch der Schweizerische Bund für Naturschutz, SNB, heute Pro Natura, unter dem damaligen Präsidenten F. Tenger für dieses Anliegen zu engagieren. Ein grosser Teil der späteren und sehr grossen Kolonien im Oberwallis, vor allem im Aletschgebiet, ist auf seine Initiative und die finanzielle Unterstützung durch den SBN zurückzuführen.

Schnell wachsende Steinbockbestände

Schon 13 Jahre nach der ersten Aussetzung am Augstmatthorn, im Jahr 1934, klagten Bauern in der Region über Schäden auf den Alpweiden und in den Aufforstungen. Die Verwaltung plante Abschüsse, doch Kreise aus Jagd, Naturschutz und lokaler Bevölkerung oppo-nierten dagegen – verständlicherweise, lagen doch die Bemühungen um die Wiederansiedlung nur wenige Jahre zurück. Auf Vorschlag des kantonalbernischen Jagdinspektors wurden Tiere eingefangen und zur Gründung von neuen Kolonien verwendet. Dazu perfektionier-ten Wildhüter Amacher und Parkwächter Schindelholz vom Wildpark Harder so genannte Kastenfallen zum Lebendfang. Damit begann 1938 eine weitere dynamische Phase zum erfolgreichen Stein-bock-Wiedereinbürgerungsexperiment.

Aussetzung von « Wildfängen »

Standen bislang vier bis sechs Tiere jährlich aus den Parks für Aussetzungen zur Verfügung, erhöhte sich diese Zahl bald einmal um den Faktor zehn. Zu den besten Zeiten wurden allein am « Albris » weit über 100 Tiere eingefangen. Vorübergehende Verluste beispielsweise durch strenge Winter konnten rasch wieder ausgeglichen werden, was den Auf- und Ausbau von neuen Kolonien ermöglichte. Zudem hatten auch die Kenntnisse über die Bedürfnisse der Steinböcke, insbesondere über die Wintereinstände, zugenommen. Eine weitere Steigerung beim Einfang ergab sich durch die Entwicklung der Distanzimmobilisation, der so genannten fliegenden Spritze. In Kasten-fallen und mit der Spritze wurden bis ins Jahr 2000 weit über 2500 Steinböcke eingefangen und umplatziert. Gleichzeitig nahm die Bedeutung des Bundes als Motor für die Wiedereinbürgerung immer mehr ab, ohne allerdings ganz zu verschwinden. An seine Stelle traten vor allem die Kantone Graubünden, Wallis und Bern mit ihren Jagdinspektoraten. 3 Mitte der Siebzigerjahre waren auf diese Weise quasi alle geeigneten Lebensräume mit Steinböcken besetzt, und die Bestände nahmen sprunghaft zu. Die Lösung der Wildschadenprobleme mit 3 Eine besonders wichtige Rolle spielte dabei der Bündner Jagd- und Fischereiinspektor Dr. Peider Ratti, dem viele neue Kolonien in seinem eigenen Kanton, aber auch in anderen Kantonen sowie in Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien und sogar auf dem Balkan ihre Existenz verdanken.

Foto: Archiv W. Signer, St. Gallen Aussetzung von Steinböcken im Alpstein 1954 Foto: Wildparkarchiv Peter und Paul St. Gallen/Karl Moser, Appenzell Im Bild Steingeiss mit Jungtier. Junge Steinböcke klettern schon kurz nach der Geburt durch steile Felsen.

Foto: Ernst Zbär en Aussetzung von Steinböcken an den Engelhörnern/BE im Jahr 1926 Foto: W ildparkar chiv Peter und Paul St. G allen/Carl Moser, Appenz ell Robert Mader, Hotelier « Walhalla », Jäger und Naturfreund aus St. Gallen, war der eigentliche « Beschaffer » jener Steinböcke, die vor 100 Jahren in die Schweiz gebracht wurden.

Foto: W ildparkar chiv Peter und Paul St. G allen dem Einfang und der Umsiedlung der Tiere hatte ausgedient. Die Frage nach der Regulierung der Steinbockbestände stellte sich erneut, nur auf einer anderen Ebene.

Durch Jagd Bestände regulieren

Im Kanton Graubünden mit seinen schon damals grössten Beständen wurden die Klagen über untragbare Schäden an Alpweiden und Schutzwäldern immer häufiger, der Druck vonseiten der Land- und Forstwirtschaft stieg. Aufgrund von intensiven Abklärungen des kantonalen Jagdinspektorats in Zusammenarbeit mit einem Wildbiologen legte man dem eidgenössischen Jagdinspektor ein modernes Jagdplanungsmodell für die Bündner Steinbockbestände vor. Ziel sollte sein, den jährlichen Zuwachs durch die Jagd so zu begrenzen, dass die sozialen Strukturen des Bestandes, die Der « König der Alpen » im Morgenlicht Foto: Ernst Zbär en Steinbock am Gorner- grat, im Hintergrund die Dufourspitze ( r. ) bei einem Herdentier wie dem Steinbock von grösster Bedeutung sind, erhalten bleiben und dass die Bestände nicht übernutzt werden. Dazu sollten in jeder Steinbockkolonie die Alters- und Ge-schlechtsklassen erfasst und die Bejagung im nächsten Jahr überwacht werden. Die erlegten Steinböcke wollte man wissenschaftlich genau vermessen, um den Eingriff durch die Jagd dokumentieren zu können. Es sollten zunächst nur 300 Steinböcke, verteilt auf je 150 Böcke und 150 Geissen und auf die verschiedenen Altersklassen, geschossen werden, die unter den Jägern, die bereits über einige Erfahrung auf der Jagd verfügten, verlost wurden. Das bahnbrechende Modell wurde nicht nur bewilligt, sondern bei der in den Achtzigerjahren anstehenden Revision des Bundesgesetzes über die « Jagd und den Schutz wild lebender Säugetiere und Vögel » fast unverändert übernommen. Heute werden jährlich in der ganzen Schweiz an die 1000 Steinböcke aus einem Gesamtbestand von über 13 000 erlegt, ohne dass in den Kolonien in den letzten 20 Jahren negative Effekte festgestellt worden wären. Hingegen hat sich die Schadenssituation gegenüber den Siebzigerjahren erheblich entspannt. Mit der Einführung dieser nachhaltigen Jagdnutzung, die ohne gesicherte Bestände gar nicht denkbar wäre, ist aber auch der letzte Beweis für das Gelingen des grossen Werkes Steinbockwiederein-bürgerung erbracht. Diese zeigt den grossen Aufwand, um eine in einem Gebiet ausgerottete Tierart wieder heimisch werden zu lassen. 4 a Dr. H. J. Blankenhorn, Säriswil 4 Vgl. auch www.steinbock.ch Foto: Jost Schneider Vor 100 Jahren ausgestorben, gibt es heute über 13 000 Steinböcke in den Schweizer Alpen.

Foto: Ernst Zbären

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