Abdrift zum Pol
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Abdrift zum Pol Zu «Reisen zum Nordpol», ALPEN 2/2001

Wer von den am nördlichsten gelegenen Ländern Grönland, Kanada oder Sibirien aus aufbricht, um den Nordpol zu erreichen, hat allein für den Hinweg mindestens 1000 Kilometer Marsch über das Packeis vor sich. Die Frage, ob diese Expeditionen auch ohne GPS, Funkgeräte und Satellitentelefone zur Alarmierung im Notfall oder für den Rückflug vom Pol erfolgreich gewesen wären, wurde bisher in den Medien kaum je aufgeworfen; sie begnügen sich in der Regel damit, das Spektakuläre an den Unternehmungen hervorzustreichen. Wenn ich heute lese, dass man bereits behaupten kann, «den mythischen Punkt» erreicht zu haben, wenn man sich mit dem Flugzeug auf einer Basis auf dem Eis absetzen lässt und dann noch 150 km zum Pol zu Fuss zurücklegt, dann bin ich zutiefst schockiert. Vor 10 Jahren habe ich, einen 60 kg schweren Schlitten hinter mir herziehend, in 14 Tagen im Alleingang Island durchquert (250 km), ohne GPS, ohne Funkgerät, ohne Notraketen – ein grosses Abenteuer, wenn auch sicher nicht mit einem Marsch zum Pol vergleichbar. Dennoch: unter den in den ALPEN Nr. 2/2001 beschriebenen Bedingungen – acht Zehntel der Distanz im Flugzeug, nahe gelegene Basis, Grösse der Gruppe (18 Personen), Funk, GPS, Rückkehr per Helikopter in die Basis, dann per Flugzeug aufs Festland zurück – scheint mir dieser Pol ein relativ leicht zugängliches Reiseziel, genügend Geld vorausgesetzt. Ich finde solche Expeditionen völlig daneben, weil ich denke, dass sie die Grösse des Menschen überhöhen und dafür die ungeheure Ausdehnung der Wildnis ver-niedlichen. Nicht nur das Packeis driftet ab, sondern das echte Abenteuer entfernt sich immer weiter von seinem eigentlichen Sinn; es ist zum kommerziellen Extremtourismus mit viel falschem Schein verkommen. Es scheint mir wichtiger denn je, die Natur wieder auf einfachere, reinere, harmonischere und re-spektvollere Weise zu entdecken oder den Mut zu haben, auf eine Herausforderung zu verzichten, der wir nicht gewachsen sind, als sie durch eine reduzie-rende und trügerische Technologie zu verfälschen. Wenn es normal wird, auf diese Art den Pol zu erreichen, dann muss es auch erlaubt sein, sich mit dem Helikopter im letzten Biwak in der Eigernordwand absetzen zu lassen, unter Einsatz aller Technik das letzte Stück zu erklettern, vom Gipfel mit dem Heli herunterzufliegen und dem Publikum diese Aktion als spannendes Abenteuer zu verkaufen und zu erklären, man habe den Eigergipfel durch die Nordwand erreicht. Das Abenteuer und der Alpinismus der Zukunft haben zweifellos Besseres verdient!

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