Das Kreuz mit dem Kreuz
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Das Kreuz mit dem Kreuz Gipfelkreuze sind weit verbreitet. Ein Streifzug

Sie kommen nicht von selbst hinauf, sind sie aber einmal oben, bleiben sie stehen. Bis sie verwittern, vom Blitz erschlagen – oder abgesägt werden. Sie markieren meist den höchsten Punkt, tragen den Gipfelbuchbehälter und dienen zur Sicherung. Den Weg weisen sie aber selten, auch kaum den zu Gott. Gipfelkreuze sind seit 327 n. Chr. nachgewiesen, die modernen seit 1799. Heute zieren sie viele Gipfel, vor allem in katholischen Regionen.

«Er brach am 5. August bei der ersten Morgendämmerung auf, nahm zwei von seinen Erzknappen und einen erfahrnen Gemsjäger mit, versah sich mit etwas Lebensmitteln, und den nöthigsten, schon oben erwähnten Gerätschaften, sammt einem zerlegten hölzernen Kreuz», hiess es von Johann Niklaus Vincent 1819.

Letzteres nähmen wir heute nicht mehr mit, wozu auch? Häufig steht schon ein Kreuz oben auf dem Gipfel und wenn nicht, dann doch ein Steinmann, ein Vermessungssignal, eine Antenne, ein Wegweiser, ein Gipfelbuch, eine Bank, eine Statue, eine Blechfahne, eine Panoramatafel, ein Zaun, eine Markierung, eine Hütte, eine Bergstation, ein Bunker. Manchmal auch kombiniert. Und selbst wenn kein gewolltes und gesetztes Zeichen früherer menschlicher Anwesenheit auf dem Gipfel zu finden wäre – doch gibt es das überhaupt noch?

Als Johann Niklaus Vincent, Bergbauingenieur aus Gressoney und Besitzer einiger Goldminen im Indren, mit zwei Mineuren, deren Namen nicht festgehalten wurden, und dem Gemsjäger Jacques Castel am 5. August 1819 als Erster auf die Piramide Vincent (4215 m), den achthöchsten Gipfel des Monte Rosa, stieg, waren die allermeisten Gipfel noch jungfräulich. Die Jungfrau allerdings war schon zweimal bestiegen worden, als erster Viertausender der Schweiz. Am 3. August 1811 hatten zwei Städter und zwei Älpler «als Wahrzeichen unsers Hiergewesenseins»1 eine Stange mit einem schwarzen Leinentuch in den Gipfelschnee gesteckt. Das machten Vincent und seine Männer ebenfalls: Sie stiessen das zusammengesetzte Kreuz «einige Schuh tief in den Schnee», wie Joseph Zumstein in der Beschreibung der fünf Reisen auf die Spitzen des Monte-Rosa, ausgeführt in den Jahren 1819 bis 1822 festhielt; diese Beschreibung ist dem Buch von Ludwig Freiherr von Welden über den Monte Rosa von 1924 angehängt.2 Von den Gerätschaften, die Zumstein aufzählt, würden wir für eine Besteigung eines vergletscherten Gipfels nur die «wohlgestählten Fusseisen» und die «Alpstöcke, mit langen Stiften an einem, und krumm zuge-spitzten Haken am andern Ende», mitnehmen, nicht aber Lei-tern, Eisbohrer, Barometer, Thermometer und trigonometrische Instrumente.

Ähnlich ausgerüstet ging es im folgenden Jahr auf die Zumsteinspitze (4563 m), den dritthöchsten Gipfel des Monte Rosa – und der Schweiz. Mit dabei unter anderen Johann Niklaus Vincent, der Gemsjäger Jacques ­Castel sowie Joseph Zumstein. Und diesmal ein eisernes Kreuz, das am 1. August 1820 in die Gipfelfelsen gerammt wurde, «zum Zeichen unseres Hierseyns». Zudem wurden die Namen der Erstbesteiger etwas unter dem höchsten Punkt «ins überhängende Gestein eingemeisselt». Am 3. August 1821 stand Zumstein schon wieder auf «seinem» Gipfel – den Namen erhielt er allerdings vom Freiherr von Welden – und war erfreut, das Kreuz «gut erhalten und unverrückt an seiner Stelle» zu finden: «Kein Rostflecken beschmutzte es. Die gewöhnliche Farbe des Eisens hatte jedoch eine durchaus gleiche glänzende Bronzefarbe angenommen.» Das sind Worte eines Naturwissenschaftlers und nicht die eines Theologen. Wozu ein Gipfelkreuz gut sein kann, demonstrierte Zumstein am 1. August 1822, als er einen Thermometer mit einem Eisendraht am Kreuz festband, «um im folgenden Jahre das Maximum von Kälte und Wärme eines Jahres hindurch, in dieser Höhe zu erhalten».

 

Geweihtes Holzkreuz auf dem Olympos

War das Gipfelkreuz von Zumstein auf der Zumsteinspitze das höchste in den Alpen und das erste moderne, alpinistische in der Schweiz? Vielleicht. Sicher aber nicht das erste auf einem Gipfel. Wie einem Artikel des Historikers Peter Danner zu entnehmen ist3, stand «das früheste Kreuz auf einem höheren Berggipfel in christlichem Zusammenhang» auf dem Olympos (1951 m) auf Zypern. Es soll sich um das Kreuz des guten Mörders gehandelt haben, der zusammen mit Jesus gekreuzigt worden war; Helena, die Mutter des Kaisers Konstantin, fand das Kreuz anno 327 in Jerusalem, brachte es nach Zypern, wo es angeblich auf dem Gipfel des Olympos aufgestellt wurde; heute befindet sich dort oben eine Überwachungsstation der Nato und ein Besucherzentrum. Das Konzil von Ephesos legte im Jahre 431 das Kreuz als offizielles christliches Symbol fest.

Kurz vor 1100 errichteten die Kreuzfahrer entlang ihrer Route hölzerne und eiserne Kreuze, um den Nachreisenden den Weg zu weisen – und auch, um der bereisten Bevölkerung zu zeigen, wo der wahre Gott hockt. Aus der gleichen Zeit ist auf dem Cisapass in den Pyrenäen ein Kreuz nachgewiesen, vor dem die St.-Jakob-Pilger niedergekniet sind. Kreuze oben auf Pässen wurden auch in den Alpen aufgestellt; dort baten die Passgänger um weiteren göttlichen Schutz – und waren wohl gleichzeitig froh, dass es nur mehr bergab ging.

 

Blitze ins Bockshorn jagen

Eine etwas andere Funktion als Rast-, Kult- und Gebetsplatz, als Ort des Dankes, der Erinnerung an überstandene oder noch zu erwartende Gefahren sowie auch ganz profan als Wegmarkierung hatten und haben die Wetterkreuze, die, meist mit zwei oder drei Querbalken versehen, auf Anhöhen aufgestellt wurden, um Unwetter abzuwehren. Beim Kreuz auf dem Bockshorn (1252 m) ob Escholzmatt dürfte es sich um ein Wetterkreuz handeln – die häufigen Gewitter im Napfgebiet sollen damit wohl ins Bockshorn gejagt werden.

Welche Funktion die drei Kreuze hatten, die Antoine de Ville, Kammerdiener Königs Karl VIII., am 26. Juni 1492 auf der flachen Gipfelweide des Mont Aiguille (2087 m) im Vercors bei Grenoble errichten liess, nachdem er mit seinen mindestens zehn Männern und einigen Leitern einen Durchstieg durch die senkrechte, 300 Meter hohe Wand geschafft hatte, ist nicht ganz eindeutig. Einerseits waren zwei Priester mit von der Partie, die während des sechstägigen Aufenthalts auf dem Gipfel einen Gottesdienst feierten. Andererseits manifestierten die drei Kreuze auch die Inbesitznahme eines für absolut unersteiglich gehaltenen Gipfels (durch eine königliche Truppe). Nicht ganz zufällig gilt ja die Erstbesteigung des Mont Aiguille als Geburtsstunde des eigentlichen Bergsteigens: Da wurde ein Gipfel erklettert und erobert. Im gleichen Jahr entdeckte Kolumbus Amerika – was für eine geschichtsträchtige Koinzidenz! Dass der Entdecker und Eroberer der Neuen Welt auf sichtbaren Anhöhen Kreuze errichtete, ist ja nur folgerichtig. Doch Gipfelkreuze im modernen Sinne waren diese nicht.

 

Kaiserkreuz am Grossglockner

Martin Scharfe, ehemals Professor für Europäische Ethnologie an den Universitäten von Marburg und Innsbruck, hat unter dem Titel Berg-Sucht ein ganz kluges Buch zur «Kulturgeschichte des frühen Alpinismus» verfasst.4 Die Erfindung des modernen Gipfelkreuzes legt er auf das Jahr 1799 fest, als am 25. August Ferdinand Joseph Georg Sigismund von Hohenwart und fünf Leute seiner Glocknerexpedition den Kleinglockner (3770 m) erreichten und ein vom Fürstbischof Franz II. Xaver von Salm-Reifferscheidt-Krautheim gestiftetes, knapp zwei Meter hohes Kreuz errichteten. Am 28. Juli 1800 schaffte man dann auch den äusserst luftigen Übergang zum Grossglockner (3798 m). Und schon am 29. Juli krönte man den heute höchsten Gipfel Österreichs mit einem fast doppelt so hohen Kreuz, das allerdings den extremen Wetterverhältnissen nicht standhielt und 1880 durch ein drei Meter hohes und 300 Kilogramm schweres, eisernes Kaiserkreuz ersetzt wurde. Es ziert noch immer den Gipfel; die Gipfelbuchkassette, ein Onlinegipfelbuch sowie die Gedenktafel für Jörg Haider wurden wieder entfernt. Damit wird auch klar: Gipfelkreuze haben seit über 200 Jahren eine andere Funktion.

 

Von der Wallfahrt zur Bergfahrt

«Das ‹alte Kreuz›, das wir an Wegen und als Wetterkreuz über den Almen, als Zeichen der Hoffnung und Hilfe an Jochübergängen und zuweilen – etwa aufgrund eines frommen Gelübdes – auch auf Berggipfeln aufgestellt finden, ist ein Zeichen christlicher Religionsausübung, kurz: Es steht fürs Gebet. Das ‹neue Kreuz› aber ist das Zeichen der Eroberung und Unterwerfung des Berges, es dient einem völlig anderen Ziel: es steht da statt eines Gebetes.» Und dann wird Kulturwissenschaftler Scharfe noch deutlicher: «Einst war das Kreuz das Motiv der Besteigung – nun wird es schmückende Zutat. Einst zeigte der Weg zum Bergkreuz eine christliche Wallfahrt an – nun aber ist er säkulare Bergfahrt.» Dies äusserte sich beispielsweise nicht zuletzt, indem einige neue Gipfelkreuze einen Blitzableiter erhielten. Was nichts anderes heisst, als «dass der Mensch nun das Gewitter, das von jeher als Strafzorn Gottes gegolten hatte, unschädlich zu machen verstand»5.

Metallkreuze haben eine solch technische Einrichtung kaum nötig. Die vielleicht berühmteste derartige Gipfelinstallation ist seit dem 24. September 1902 fest auf dem italienischen Gipfel des Matterhorns verankert; der Bergführer und Priester Auguste Carrel zelebrierte die Messe auf dem schmalen Gipfelfirst und schrieb einen mehrseitigen Bericht, der noch im gleichen Jahr in der Imprimerie Catholique in Aosta erschien.6 Noch lieber hätte die geistliche Führerschaft Italiens gewiss ein Monument für Gesù Cristo Redentore aufgestellt, wie es der 14. Congresso Cattolico Italiano 1896 bestimmt hatte; 18 leicht erreichbare Gipfel in Italien wurden für die Errichtung einer solchen Statue auserwählt, wie zum Beispiel der Monte Saccarello (2200 m) – das kolossale Monument steht freilich nicht ganz auf dem höchsten Punkt von Ligurien.7 Die wahrscheinlich berühmteste Statue von Christus, dem Erlöser, trohnt seit 1931 auf dem Berg Corcovado oberhalb von Rio de Janeiro; 30 Meter hoch allein die Figur, die von Weitem wie ein Kreuz aussieht.

 

Gross, grösser, am grössten

Mit solchen Dimensionen kann das leise an den Eiffelturm erinnernde Gipfelkreuz auf dem Reculet (1719 m), dem zweithöchsten Gipfel des Jurabogens, nicht aufwarten. Nicht einmal zehn Meter hoch ist es. 3000 Personen nahmen an der Segnung am 7. August 1892 teil – sicher nicht zur Freude der Calvinisten in Genf, die sich über diesen katholischen Machtanspruch über einen der besten Skiberge am Stadtrand ärgern mussten.

Le Reculet und das Matterhorn stehen am Beginn einer noch immer boomenden Gipfelkreuzbautätigkeit. In Tirol wurden laut einer Studie von 1957 95,3% aller datierbaren Gipfelkreuze zwischen 1900 und 1955 aufgestellt.8 Seither sind noch einige dazugekommen, wobei man sich mit immer höheren Anlagen zu übertreffen sucht. Europas höchstes Gipfelkreuz stand 1969 – nomen est omen – auf dem Vorderen Kreuzjoch (2845 m) im österreichischen Teil der Samnaungruppe, 17,3 Meter hoch und 10,3 Meter breit9. Ob es immer noch diesen Rekord hält, konnte nicht eruiert werden; die Verankerungsdrahtseile jedenfalls sind auffälliger als viele tibetische Gebetsfahnen, und den Schatten sieht man gar auf Google Earth.

 

Gegner von Madonna und Kreuz

Einer hätte sich über solch auffällige Gipfelmarkierungen ziemlich geärgert: der Wiener Alpinist und Gymnasiallehrer Eugen Guido Lammer, Hohepriester der Führerlosen und des Soloberg-steigens, Erstbesteiger des Hinteren Fiescherhorns in den Berner Alpen; sein Buch Jungborn. Bergfahrten und Höhengedanken eines einsamen Pfadsuchers,1922 erstmals erschienen, wurde zum Kultbuch. 1928 publizierte er den Aufsatz «Naturfreunde und Naturschutz», worin er sich vehement für das alpine Ödland und gegen Kreuze und Madonnenstatuen auf Gipfeln einsetzte.10 «Was hat das Kreuz in der Gebirgsöde zu sagen? Dieses Denkmal des scheusslichsten Justizmordes aller Zeiten! Lasset doch die Sprache der Elemente rein erklingen, lasst die Natur unverfälscht zu eurer Seele sprechen!», forderte Lammer. «Auf den Géant, den Kleinen Dru und noch so manche Spitze hat Unkultur ähnliche Kitschdenkmäler hingepflanzt. Soll es Gottesdienst sein, diese gott-atmende Einöde, diese uralte reine Gottnatur zu verfälschen mit aufdringlicher, kleinmenschlicher Sentimentalität? Wollt ihr auf den Bergen beten, so betet nicht zu euren süss-kitschigen Bildern, sondern verehrt eure Gottheit in der furchbaren Erhabenheit der Naturelemente.»

Der 1962 geborene Greyerzer Bergführer Patrick Bussard würde diese Forderungen sofort unterschreiben. Im Oktober 2009 beschädigte er das Gipfelkreuz auf dem Vanil Noir (2389 m), dem höchsten Gipfel der Freiburger Alpen. Im Februar 2010 sägte er das Gipfelkreuz auf dem Nachbarsberg Les Merlas (1907 m) um, und zwar bei Nacht und Nebel. «Das Holz war weich, das Kreuz fiel in wenigen Minuten», erzählte er der Zeitung «24heures». Gipfelkreuze sind laut Bussard «Symbole des Todes, der Gewalt und der Macht». «Die Natur gehört keiner Religion», sagte er gegenüber «Le Matin». «Sie soll ein freier Raum sein.» Im Oktober 2010 startete er eine Unterschriftensammlung gegen religiöse Symbole in der Natur und im öffentlichen Raum. Bussard muss voraussichtlich eine Geldstrafe wegen Sachbeschädigung und Verletzung der Religionsfreiheit bezahlen. Der Prozess war 2011 vertagt worden; ein neues Datum war bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt. Der SAC hat Bussard aus dem Verein ausgeschlossen. Das Gipfelkreuz von Les Merlas ist inzwischen wieder an seinem Platz, jenes auf dem Vanil Noir wurde repariert.11

 

Das Kreuz auf dem Weisshorn

Wofür steht das Gipfelkreuz heute? Die Antwort auf die Frage ist einfach und kompliziert zugleich. Setzt es (noch immer) ein religiöses Zeichen? Zementiert es einen Glauben? Spricht es einen Dank aus? Erinnert es an einen in den Bergen Verunglückten? Trägt es bloss den Gipfelbuchbehälter? Wehrt es das Unwetter ab? Sühnt es eine Tat? Markiert es eine Grenze? Definiert es den Kulminationspunkt? Dient es als Beweis, dass man oben gewesen ist, wenn man die entsprechende Foto zurück ins Tal bringt – ja schon von oben verschickt? Hat es vorab einen touristischen Zweck? Wollen sich Einzelpersonen und Firmen verewigen? Ist es eine verkappte Litfasssäule? Oder nur ein halb kaputtes Triangulationssignal? Ist es schlicht schön? Gehört es nicht einfach auf einen Gipfel? Und wenn es nicht zu hoch geraten ist, kann man doch daran ganz bequem die verschwitzten Kleider trocknen lassen, nicht wahr?

Der Schweizer Schriftsteller, Kabarettist und Musiker Franz Hohler erlebte am 11. August 1999 auf dem Walliser Weisshorn (4506 m) zusammen mit seinem Bergführer Adolf Schlunegger noch eine ganz praktische Funktion des Gipfelkreuzes. Das Kreuz auf dem zweithöchsten ganz in der Schweiz liegenden Gipfel war am 23./24. September 1978 eingeweiht worden, anlässlich des 100. Geburtstages von Franz Lochmatter, der 1933 am Weisshorn-Ostgrat verunglückte.12 Im letzten Text des Buches Zur Mündung, das «37 Geschichten von Leben und Tod» enthält13, schreibt Hohler: «Ein grosses Kreuz ist im Fels verankert, daran hängt ein echter Jesus, aus rostfreiem Eisen, und er tut mir leid, wenn ich daran denke, wie er hier lange Nächte durchfriert, von Gott und den Menschen verlassen. Mein Bergführer hat gleich nach unserer Ankunft das Seil um einen Balken des Gipfelkreuzes geschlungen, um uns zu sichern – so werden wir, während wir hier sind, durch Jesus gehalten.»

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