Der Fehler liegt im Kopf
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Der Fehler liegt im Kopf Wie man falsche Entscheide trifft

Gut ausgebildet – mit den Verhältnissen vertraut – verschüttet. Wie kommt es dazu? Mit GPS-Tracks und sozialwissenschaftlichen Methoden versuchen Forscher in Amerika, das unbekannte Wesen Mensch zu vermessen.

Wumm! Erneut schiesst ein Riss vor mir durch den Schnee, ich spüre, wie das Schneebrett unter meinen Füssen abreisst und in den Bach rutscht. Obwohl es viel zu klein ist, um eine Gefahr darzustellen, zittern meine Finger ein wenig, als ich mit dem Handy ein Foto vom Abriss mache. Seit Tagen schneit es ununterbrochen, und das Lawinenbulletin zeigt seit unserer Ankunft auf allen Höhenlagen und Expositionen ein tiefrotes Bild, Gefahrenstufe 4. Trotzdem stehen wir hier draussen. Ob das wohl eine vernünftige Entscheidung war?

Sechs Fehler, die wir immer wieder machen

Einer, der sich bereits Mitte der 1990er-Jahre mit der Problematik der Entscheidungsfindung auf Skitouren befasst hat, ist der Amerikaner Ian McCammon. Er hat fast 600 Lawinenunfälle untersucht, um herauszufinden, wieso wir immer wieder in dieselben Entscheidungsfallen tappen. «Entscheidungen sind nicht immer vernünftig», erklärt er, «und können dazu führen, dass wir uns plötzlich in einer Lage befinden, in die wir eigentlich nie hineingeraten wollten. Im Alltag ist das verkraftbar, im Lawinengelände kann es hingegen tödlich sein.»

Vor allem drei Muster waren in vielen Unfällen entscheidend. «Wenn wir die Ersten sein wollen, die einen Hang fahren, wenn wir schon weit gekommen sind oder wenn schon andere einen Hang gefahren sind, dann laufen wir möglicherweise Gefahr, ein viel höheres Risiko einzugehen, als wir eigentlich wollen», zeigt er auf. McCammon hat sechs Fallen entdeckt, die sich mit dem Akronym FACETS abkürzen lassen (siehe Kasten 1). «Selbst ich bin vor solchen Fehlern nicht sicher», sagt McCammon, «aber ein kurzer Check dieser Fallen kann mich auf meine eigenen Schwächen aufmerksam machen. Diese sollte man kennen.»

Den Tourengängern auf der Spur

Wumm! Wieder ein Schneebrett, noch ein Foto. Wir sind nur für ein paar Tage hier, und ein bisschen frische Luft wollten wir unbedingt, auch wenn die Bedingungen nicht ideal sind. Zudem nehmen wir an einem neuartigen Forschungsprojekt teil und tracken unsere Bewegungen im Gelände. Geleitet wird das Projekt von Jordy Hendrikx, einem gutmütigen Neuseeländer mit holländischen Wurzeln, der sich seine Sporen unter anderem am SLF in Davos verdient hat. ­Heute ist er Leiter des Schnee- und Lawinenlabors der Universität Montana im Nordwesten der USA. «Bislang wurden Entscheidungsprozesse im Zusammenhang mit Lawinenunglücken mit Unfalldaten untersucht», erklärt er, «doch diese können uns nur bedingt erklären, was zum Fehlentscheid geführt hat, weil meistens eine Reihe falscher Entscheide getroffen wurden. Wir schauen das Problem nun an, wie es ein Marketingfachmann tun würde: Sag mir, wer du bist, und ich sag dir, wie du dich verhältst. Nach diesem Muster werden uns täglich Produkte verkauft.»

Hendrikx, ein Naturwissenschaftler, und sein Kollege Jerry Johnson, seines Zeichens Politikwissenschaftler, werten GPS-Tracks von Tourengängern aus, um zu verstehen, wie sich unterschiedliche Gruppen im Gelände bewegen. Bislang haben sie rund 2500 verschiedene Tracks von 400 bis 500 verschiedenen Personen erhalten.

Entscheidet das Kollektiv oder ein einzelner?

«Wir wollen herausfinden, welche Bevölkerungsgruppe ihr Risiko durch ihr Verhalten unverhältnismässig stark erhöht – um genau diese Gruppen in der Lawinenausbildung stärker mit den Tücken der Entscheidungsfindung zu konfrontieren», sagt Hendrikx und führt aus: «Nehmen wir einen Tag mit erheblicher Lawinengefahr, dann sehen wir, dass sich junge Männer durchwegs in viel steilerem Gelände bewegen als beispielsweise verheiratete Paare. Uns interessiert vor allem: Wie treffen sie ihre Entscheidungen? Haben sie einen einzelnen Leiter, oder entscheiden sie im Kollektiv?»

Wumm! Wieder kollabiert die Schneedecke unter unseren Füssen, und es zieht auch noch schlechtes Wetter auf. Wir entscheiden uns, noch ein Schneeprofil zu graben und dann den Rückzug anzutreten. Gerade berauschend ist der Track, den wir heute aufgezeichnet haben, ja nicht, aber sich mit den eigenen Bewegungen und Entscheidungen im Gelände auseinanderzusetzen, regt zum Nachdenken an. Hoffentlich ist dies ein erster Schritt zu besserer Entscheidungsfindung!

Entscheiden lernen

Die Projektteilnehmer füllen zuerst einen Fragebogen zur eigenen Person und zu den eigenen Fähigkeiten aus. Draus­sen im Gelände tracken sie dann ihre Bewegungen mit einer beliebigen Tracking-App (z.B. SkiTracks) und schicken den GPS-Track am Ende des Tages als GPX-File an die angegebene E-Mail-Adresse (siehe Kasten 2). Zurück kommen ­automa­tisch ein paar Fragen zu den Zielen des Tages, zur Gruppe, zu den Bedingungen etc. Hendrix ist sich sicher: «Wer sich da draussen bewegt, muss sich mit Schnee auskennen, das ist keine Frage. Aber viele haben dieses Wissen, und machen doch plötzlich den entscheidenden Fehler. Wenn wir mehr Leben retten wollen, müssen wir besser verstehen, wie wir unsere Entscheidungen treffen.»

Während wir unser Schneeloch wieder auffüllen, schauen wir etwas verdutzt auf eine einsame Skifahrerin, die sich uns nähert. Auf unsere Frage, ob sie allein unterwegs sei, meint sie ruhig, sie habe sich gesagt, dass sie nur losgehe, wenn schon Spuren im Schnee seien …

 Mitmachen beim Tracks-Projekt

Mitmachen beim Tracks-Projekt

Alle Skitourengänger, unabhängig von ihrem Können und ihrem Wohnort, sind eingeladen, sich an der Studie zu beteiligen.

Infos und Fragebogen zur Studie: www.montana.edu/snowscience/tracks

GPX-Files senden an: tracks(at)montana.edu

Empfohlene Tracking-App: SkiTracks (0.99 Fr.), SkiTracks light (gratis)

Weitere Literatur

Lesenswert und lehrreich zum Thema sind die Multimediageschichten des Magazins Powder:

http://features.powder.com/human-factor-2.0/

http://www.powder.com/the-human-factor-1.0/

Artikel in «Die Alpen»:

Der Faktor «Mensch» im Lawinengelände, 02/2010

Infos zur Lawinenkunde:

www.whiterisk.ch

Sechs Fallen der Wahrnehmung

Familiarity

Ich kenne mich hier aus, diese Linie war noch immer sicher.

Acceptance

Ich will nicht die Spielverderberin sein, die sich nicht traut.

Commitment

Jetzt sind wir schon so weit gekommen, jetzt können wir nicht zurück.

Expert Halo

Der da vorne, der weiss schon, was er tut!

Tracks

Lass uns die Linie fahren, bevor die hinter uns da sind.

Social Facilitation

Die anderen fahren das auch. Das ist bestimmt sicher.

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