Die Erfindung der Vibramsohle
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Die Erfindung der Vibramsohle Kautschuk für Kletterer

Eines der wichtigsten Kapitel in der Geschichte der alpinen Ausrüstung wurde um 1935 zwischen Mailand, dem Bergell und Zürich geschrieben: jenes der Profilsohlen aus Gummi. Mit ihnen gelang den Erfindern am 27. und 28. Juli 1937 die Erstbegehung der Badile-Nordwestwand. Heute ist eine Bergschuhsohle ohne die gelbe Plakette « Vibram » fast undenkbar.

Ein grosser Entwicklungsschritt erfolgte 1912 mit der Einführung neuartiger Metallklammern, die besonders widerstandsfähig waren und sich am Rand der Sohle anbringen liessen, was die Trittsicherheit in steilem Fels oder Firn wesentlich erhöhte. Diese vom Genfer Kletterer Félix Valentin Genecand erfundenen « Tricounis » eröffneten im Alpinismus ganz neue Horizonte – besonders im Bereich des kombinierten Geländes. Dank ihnen erübrigte sich oft der Einsatz von Steigeisen. Auch heute noch werden sie von Bauern und Waldarbeitern in steilem Gelände verwendet.

Für reine Felstouren waren Nagelschuhe allerdings nicht die beste Wahl. Zum Klettern waren sie zu klobig und ungenau auf schmalen Tritten. Etwa ab 1900 gab es eine bessere Alternative: die Kletterschuhe mit Filzsohlen.

Besonders in den damaligen Hochburgen der Kletterei, in den Dolomiten und Ostalpen, waren diese wesentlich beliebter als genagelte Schuhe, denn sie erlaubten jene elegante und « katzen-hafte » Fortbewegung, die damals sehr en vogue war. Zudem galten Kletterfinken grundsätzlich als chic, weil man sich damit vom gemeinen Wandertouristen und Plauschbergsteiger abgrenzen konnte. Die Lebensdauer solcher Kletterschuhe war allerdings beschränkt – derart beschränkt, dass Spitzenkletterer auf schwierigen Touren nicht umhinkamen, ein Ersatzpaar einzupacken. Dabei war nicht der Schaft das Problem, sondern die Besohlung. Guter Griff und ausreichende Reibung liessen sich nur mit weichen Sohlen erzielen. Zu Beginn verwendete man dafür vor allem Filz oder Bastmaterialien, die sich aber rasch ab-nützten und vor allem bei Nässe schnell zerfielen.

Gehversuche mit Gummi

Auf der Suche nach geeigneteren Materialien kamen auch Gummi und Gummi-Krepp zum Einsatz. Fritz Schmitt in seinem Standardlehrbuch Der Bergsteiger von heute aus dem Jahr 1937: « In letzter Zeit verwenden besonders italienische Kletterer Gummisohlen. Diese haben auf trockenem Gestein grösste Saugwirkung, sind aber auf nassem Fels unbrauchbar und gefährlich. » Dass aber im Jahr der Drucklegung seines Buches die eigentliche Sohlenrevolution stattfinden würde, konnte er nicht voraussehen. Anfang der 1930er-Jahre eröffneten Kletterer im sagenumwobenen VI. Grad von Osten her allmählich Routen in den grossen Granitmassiven. Eine zentrale Rolle spielte dabei das Bergell, an dessen Wänden und Kanten zahlreiche schwierige Routen eröffnet wurden. Die für dieses Gestein so typischen Platten und Risse verlangten eine andere Fusstechnik und andere Schuhe als der tritt- und leis-tenreiche Kalk. Die meisten Spitzenkletterer versuchten es zunächst wieder mit Filzsohlen.

Nicht so Hans Frei, einer der damals aktivsten Erschliesser des Bergells, der im Jahr 1935 eine besonders bemerkenswerte Erstbegehung gemacht hat: den Nordgrat der Pizzi Gemelli, im untersten Teil eine durchgehende und kompakte Plattenkletterei, die heute allgemein als Bügeleisen bekannt ist: « Es ist die Grenze des Möglichen, es ist ein Kleben auf glatten Platten, der ganze Körper schmiegt sich an die Felsen, um möglichst viel Adhäsion zu erwirken », beschreibt Frei seine Klettertechnik in der wahrscheinlich ersten grossen Rei-bungsroute der Klettergeschichte. Dabei kletterte Hans Frei zwar mit Gummisohlen; aber nicht mit den weichen und biegsamen, wie sie etwa Emilio Comici in den Dolomiten verwendete, sondern mit steifen und leicht aufgerauten – ein Novum.

Ein Jahr zuvor hatte Hans Frei von Aldo Bonacossa in Zürich Besuch erhalten. Bonacossa liess sich dabei das Prinzip der Gummisohlen erläutern – um es anschliessend Vitale Bramani zu erzählen, der in Mailand einen Kletterladen betrieb. Daraufhin arbeiteten Bramani und sein Kletterkollege Ettore Castiglioni – zwei so begnadete wie bescheidene Kletterer – an einer neuartigen Sohle. Sie sollte ebenfalls aus Gummi bestehen und steif sein, aber schwerer als jene von Frei und zudem ein Profil aus aufgummier-ten Stollen erhalten. Unerfahren in Sachen Kautschukverarbeitung, beauftragten sie Bonacossa, ein Paar Frei-Schuhe aufzutreiben. Damit gingen sie zum Pneuhaus Pirelli. Nach intensiver Untersuchung der Sohlen aus Zürich fanden die dortigen Ingenieure ein Verfahren, die gewünschten Profile herzustellen.

Der Ehefrau Bramanis kam die Ehre zu, anlässlich einer Gletscherwanderung von der Capanna Sciora zum Passo di Bondo die ersten Profilsohlen zu testen. Die Tour wurde für die arme Frau allerdings zum Leidensweg, denn die Stollen erwiesen sich als zu weich und boten nicht den geringsten Halt auf dem Eis. Es bedurfte noch einiger Tüftelei, ehe die vulkanisierten « Gumminägel » die gewünschte Festigkeit erreichten.

Tricounis waren bis zum Durchbruch der Vibramsohlen in aller Welt gefragt. Anzeige im britischen « Alpine Journal » ( 1935 ) « Schuhwechsel », Illustration aus dem Lehrbuch Der Bergsteiger von heute von 1937: Im gleichen Jahr führten Bramani und Castiglioni ihre Sohle ein, die solche Schuhwechsel fortan überflüssig machen sollte. Bergschuh mit Vibramsohle aus dem Jahr 1948: Noch war das typische, achteckige Markenzeichen schwarz statt gelb.

Im Jahr 1937 war es endlich so weit. Bramani belieferte rechtzeitig auf die Sommersaison hin mehrere Kletterkollegen mit seiner Erfindung. Cassin nahm sie bereits im gleichen Juli mit zur Erstbegehung der Badile-Nordostwand, Gervasutti und Devies kletterten durch die Nordwand des Petit Dru. Derweil liessen es sich die beiden Erfinder Bramani und Castiglioni nicht nehmen, ebenfalls im Juli 1937 die Badile-Nord-westwand als Erste zu durchsteigen. Und zwar durchgehend auf ihren Profilgummisohlen.

Die Vorzüge der neuen Vibramsohlen – abgekürzt aus Vitale Bramani – sprachen sich rasch herum. Sie waren weich wie Manchon, ein viel verwendeter Spezialfilz, aber wasserfest und robust. Sie waren vielleicht nicht ganz so griffig im steilen Eis wie gute Tricounis, aber dafür gab es ja Steigeisen. Die Sohlen eigneten sich somit ebenso für Firnfelder wie für Kletterpassagen, weshalb man die grossen Touren endlich mit einem einzigen Paar Schuhen angehen konnte – statt wie früher mit Kletterfinken und Nagelschuhen, zwischen denen man immer wechseln musste. Und ein weiterer Pluspunkt: Die Gummisohlen isolierten im Gegenzug zu reinen Ledersohlen vorzüglich vor der Kälte, weshalb sie sich rasch auch auf Hochtouren und Expeditionen durchsetzten. Der Erfolg war derart durchschlagend, dass auch reine Felskletterer in den Dolomiten und Ostalpen auf die Profilsohlen umstiegen. Selbst in Klettergärten prägten die klobigen Bergschuhe bis weit in die 1970er-Jahre das Bild, ehe im Zuge des Freeclimbings die leichten, profillosen Kletterfinken « erfunden » wurden – ähnlich jenen, mit denen bereits Hans Frei, Emilio Comici und andere in den 1930er-Jahren unterwegs waren.

Quellen

– A. Bonacossa, « Vibrams », Alpine Journal 1970, S. 274–275

– M. Volken, Badile – Kathedrale aus Granit, AS-Verlag, 2006

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