Ein Mann zweier Welten
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Ein Mann zweier Welten Von den Bergen auf die Fabrikkamine

In seiner Freizeit klettert er aus Lust an der Freiheit und an der Natur. Während der Arbeit setzt er sein Können mit ­industrieller Präzision ein: Thomas Hofmann ist Spezialist für Höhenarbeit und tauscht die Felswand unter der Woche gegen Industriesilos und baufällige Schornsteine ein.

Einen Fuss über den andern setzt Thomas «Tom» Hofmann auf der rostigen Leiter, die schnurstracks in den Himmel über Bern führt. Ohne Hast klettert er und ohne Zögern. Tom ist ein Kletterer ohne Gipfeldrang, ein Städter, der die Welt mit den Augen des Berglers sieht, und ein Pionier, der das Risiko scheut wie der Teufel das Weihwasser. Tom, der Industriekletterer, verbindet unterschiedliche Welten: die Berge und die Stadt, Abenteuer und Nullrisiko. Sein Ziel ist an diesem Frühsommertag ein schwarzes Loch, 80 Meter tief und tückisch. Es ist der «Kamin Kehricht», einer von drei Schornsteinen der ehemaligen Berner Kehrichtverbrennungsanlage (KVA).

Tom steht im Eingangshof der alten KVA. Der Geschäftsführer des Thuner Industriekletterunternehmens Toprope trägt eine Leuchtweste, verstärkte Hosen mit Firmenlogo und Bergschuhe. Das Gesicht unter dem gelben Kletterhelm wirkt frisch und ein wenig angespannt. Toms Linke balanciert ein Tablet, der freie Zeigfinger huscht über den Bildschirm, füttert flink ein SUVA-Protokoll: Windgeschwindigkeit? Teilnehmerkompetenz? Für Höhenarbeit gelten seit einigen Jahren strenge Vorschriften. Nachdem 2005 ein tragischer Unfall auf einer Baustelle in Bern einen Toten gefordert hatte, wurde die SUVA hellhörig und erarbeitete mit Branchenvertretern Regeln. Tom kennt sie gut, er war in den Prozess involviert.

Während Tom instruiert, macht sich im Hof der KVA ein Bagger ruckelnd ans Werk. Das Ende des massigen Betonbaus naht sichtbar. Bereits klaffen dunkle Löcher in der Fassade, und aus einer halb eingerissenen Mauer winden sich Armierungseisen wie verbogene Speere. Bis 2015 soll der Bau dem Erdboden gleich sein, ein Wohnquartier an seiner statt entstehen. Eine Herausforderung stellt der Rückbau der drei 80 Meter hohen Kamine: Asbesthaltige Fugen müssen saniert werden, ehe man sie einreissen kann. Tom glaubt, dass seine Industriekletterer dies am schnellsten und sichersten erledigen. Heute wollen er und Partner «Chrigu» sich einen der Kamine genauer besehen. Die Männer verstauen ihr Mate­rial im Rucksack: ­Karabiner, Taschen­lampen, Abseil- und Sicherungsgeräte, Bohrmaschine und Bolts. Je ein 100-Meter-Seil werfen sie sich über die Schultern. «Wenn du am Abend aus dem Gschtältli schlüpfst, weisst du, was du gemacht hast», mahnt Tom mit einem grimmigen Lächeln.

Der Charme der Vergänglichkeit

Ein dunkles Treppenhaus führt uns fünf Stockwerke nach oben. Was wir hier an Höhe gewinnen, brauchen wir später nicht zu klettern. In einem Nebenraum entdecken wir das Skelett eines Schaltpultes, einst wohl das Gehirn der Anlage. Das Deckglas liegt in Tausende Splitter zerborsten am Boden, der Anblick gebietet Ehrfurcht. Vielleicht, weil Technik in unserer Vorstellung stets zu funktionieren hat? Tom lächelt unvermittelt. «Das liebe ich an diesem Job.» Dem Charme stillgelegter Fabriken sei er schon als Kind erlegen. Wir treten aufs Dach der KVA. Hier schaut es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen: Der Boden ist aufgerissen, Gesteinsbrocken türmen sich. An der Leiter, die zum Kamin führt, fehlen die ersten beiden Stiegen – abgerissen, wie von Riesenhand.

Helden sind nicht gefragt

Als wir den Kamin erreichen, verschlucken Schleierwolken das letzte Blau über unsern Köpfen, die Gipfel des Oberlands aber glitzern noch immer am Horizont. Unvermittelt wähnt man sich in der Bergwelt. Dazu passt der Name des Kamins, den wir auf einer Eisenplakette entdecken: «K2». Die Männer zwinkern sich fröhlich zu. Seit einem Vierteljahrhundert klettert der 41-jährige Tom am Fels – am liebsten Routen, die er selber eingebohrt hat. Wilde, alpine Sportklettereien oder sonnige Klettergärten rund um den Thunersee. Für Tom wäre es wohl ein Leichtes, die 40 Meter zum Kamin ungesichert zurückzulegen. Aber der Vater zweier kleiner Kinder denkt nicht daran: «Ich will mein Leben nicht mehr riskieren», sagt er freimütig. Helden sind beim Industrieklettern ohnehin nicht gefragt. Industriekletterer verkaufen Sicherheit; die Risikotoleranz liegt bei null. Gerade darin liegt eine Herausforderung: Abstand zu nehmen von all den «krassen Sachen», die man beim Bergsteigen mache, so sagt Tom.

Mit flinken Händen wickelt der Berner ein Halbstatikseil auf. Sichern wird er sich an der Schiene der Steigschutzanlage, die am Kamin fix installiert ist. Oben will er Stand machen und das zweite Seil nachziehen. Am einen Seil wird er die Nachsteigenden hochsichern, am zweiten sichern diese sich selbst per Steigklemme. Redundanz ist eines der grundlegenden Sicherheitsprinzipien der Industriekletterer. Chrigu prüft nochmals Toms Gurt und dessen Ausrüstung. «Tom, hörst du mich?», schnarrt das Funkgerät beim Check. Sollte Tom etwas zustossen, wird Chrigu ihn übersteigen und von oben ablassen. Der Rettungsplan ist stets im Hinterkopf. Tom steigt los.

Kletterer und Städter

Hoch über Bern, die senkrechte Flucht des Kamins zu Füssen und von Schwalben umkreist, ist das Klettererherz dann kaum mehr zu unterdrücken. Toms Blick wandert in die Tiefe, er streckt den Arm aus: Dort, in dem kleinen Haus habe er lange gewohnt – und hin und wieder einen Blick auf die KVA-Türme geworfen. «Ich war immer Kletterer, und ich war immer Städter», sinniert er. Er liebe die Natur, brauche aber auch die Stadt und ihre Menschen. Als junger Mann machte sich Tom einen Spass draus, die beiden Welten zu verbinden: Seiner Feder entstammt jener berühmte, von der Stadt inzwischen geächtete Boulderführer, der Berns Brücken und Sandsteinmauern zum Spielplatz machte. Brücken und Fabriken seien zwar von Menschenhand geschaffen – aber mit einer gewissen Zufälligkeit, findet Tom. Wer wisse schon, wozu sie letztlich verwendet würden.

Als Tom dann über dem Kaminloch steht, kriegt die Euphorie einen Dämpfer: «Uhh», tönt es besorgt von oben. Rotbraune, steinartige Schlacke klebt zentimeterdick an der Innenwand des Kamins. Die Männer sind sich einig: Solange die Schlacke dort hängt, wird im Kamin nicht gearbeitet. Zu gross die Gefahr, dass sie wegbrechen und einen der Arbeiter treffen könnte. «Zum Glück haben wir reingeschaut», sagt Tom. Dann mahnt Chrigu zum Aufbruch. Sein Gipfel­erlebnis hat der Industriekletterer erst auf dem Parkplatz: wenn die Arbeit getan und jedermann heil unten ist. Ein wenig wie beim Bergsteigen eigentlich.

Sicherheit und Ausbildung

Wo es runtergeht, kann man stürzen – das weiss jeder Bergsteiger. Dass dies im Arbeitsalltag vieler Schweizer genauso gilt, zeigen die 9000 Berufsun­fälle, die sich laut SUVA jährlich wegen Absturzes ereignen. Im Schnitt haben 25 dieser Abstürze tödliche Folgen.

Ab einer bestimmten Absturzhöhe auf Baustellen sind Sicherungsmassnahmen daher Pflicht.

Persönliche Schutzausrüstung zur Sicherung gegen Abstürze (PSAgA), wie beispielsweise Klettergurt und Seil, darf indes erst dann eingesetzt werden, wenn kollektive Schutzmassnahmen wie etwa Gerüste nicht ausreichen oder wenn das Zeitfenster kurz ist. Wird die PSAgA eingesetzt, darf diese zudem nur von ausgebildetem Personal verwendet werden. Die minimale Ausbildungsdauer beträgt dabei einen Tag.

 …

Eine einheitliche Ausbildung für Höhenarbeiter und Industriekletterer existiert in der Schweiz allerdings nicht. Es gibt weder Zulassungsbedingungen für Ausbildner noch Gesetze, die deren Verantwortlichkeiten spezifisch regeln. Bei Unfällen wird jeder Fall individuell beurteilt – auch hinsichtlich der Aus­bildung der Involvierten. So kommt es, dass in der Schweiz eine Vielzahl von Ausbildnern unterschiedliche Standards und Systematiken vermitteln.

… aber anerkannte Ausbildungen

gearbeitet wird, schränkt sich der Kreis der Ausbildner weiter ein: Anerkannt sind die Ausbildungen einiger internationaler Verbände wie etwa ­IRATA sowie die von nationalen Verbänden wie dem Schweizerischen Höhenarbeiten und Rigging Verband. Sein Ausbildungskonzept entspricht internatio­nalen Standards und umfasst drei Stufen. Mit jeder Stufe erweitern sich die Kompetenzen des Arbeiters. Ein ­Arbeiter mit Level 1 darf kaum mehr, als sich am hängenden Seil bewegen und eine simple Rettung vornehmen.

Level 2 befähigt bereits, Verankerungen

zu setzen und Teams zu führen. Ein ­Arbeiter mit Level 3 kann die Sicherheitskonzepte für Baustellen individuell erstellen. Jede Stufe umfasst ­einen fünftägigen Kurs und wird mit einer Prüfung abgeschlossen.

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