Eine Frau mit sieben Berufen
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Eine Frau mit sieben Berufen Erste Präsidentin desSchweizer Bergführerverbands

Rita Christen ist in der über 100-jährigen Geschichte des Schweizer Bergführerverbands die erste Präsidentin. Die 53-Jährige aus Disentis ist Bergführerin, Juristin und noch sehr viel mehr.

Als Kind fuhr Rita Christen oft in Skischuhen auf dem Velo zur Schule, die Ski am Velorahmen aufgebunden. «Ich wollte keine Zeit verlieren», sagt sie. Ohne Umwege wollte sie nach der Schule auf die Ski. Sie habe im Winter die ganze Freizeit am Skilift im Dorf verbracht, in Urnäsch im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Ihr Vater war Direktor der Säntisbahn, und zusammen mit ihm machte sie als etwa 10-Jährige ihre ersten Skiabfahrten vom Säntis herunter, die durch alpines Gelände führen und weder präpariert noch markiert sind. «Das war mein erster Bezug zum Bergsport, ich habe diese Abfahrten geliebt», sagt sie. Wenn der Vater keine Zeit hatte, durfte sie manchmal mit der Rettungskolonne fahren, die nach der letzten Fahrt der Bergbahn eine Kontrollfahrt machte.

Doch dass sie 1998 die Ausbildung zur zwölften Bergführerin in der Schweiz abschliessen würde und ab 2021 als erste Präsidentin den Schweizer Bergführerverband (SBV) führen würde, zeichnete sich damals nicht ab. Rita Christen war schon immer sportlich, doch weder der Skiclub noch ein gezieltes Leichtathletiktraining reizte sie. Sie machte zwar im Turnverein mit, und an den Wettkämpfen zeigte sie auffällig gute Leistungen im Sprint und im Weitsprung. Man wollte sie fördern, aber sie wollte nicht. «Ich hatte die Tendenz, alles abzulehnen, was für mich nach Mainstream tönte», sagt sie.

Sie ging gerne zur Schule und besuchte als eine der wenigen aus ihrem Dorf die Mittelschule in Appenzell. Ihre Interessen waren breit, und ihre beruflichen Vorstellungen wechselten dauernd, die Favoriten waren Sportlehrerin, Physikerin oder Ethnologin. Sie entschied sich für ein Jurastudium. «Gute Formen des Zusammenlebens und faire Gesellschaften, in denen es Chancen für alle gibt, waren für mich übergeordnete Interessen», sagt sie. Doch der Studienalltag gab ihr zu wenig. Den Stoff von zwei Jahren lernte sie in einem, im anderen Jahr ging sie reisen. «Ich war auf der Suche nach mir selber und einer unkonventionellen Lebensart», sagt sie. Diese Suche mündete in eine Doktorarbeit in Rechtsphilosophie, für die sie in Nordamerika einen Sommer lang nach der Tradition der Cherokee-Indianer lebte.

Dass ihr zukünftiger Mann sich in Disentis, einem Dorf im Bündner Oberland, ein forstökologisches Büro aufgebaut hatte und unbedingt in Disentis leben wollte, passte nicht zu ihrem Plan, irgendwo im Ausland in der Entwicklungszusammenarbeit tätig zu sein. Dennoch zog sie nach Graubünden und fragte sich: «O.k., aber was mache ich da?» Die Ausbildung zur Bergführerin, war ihre Antwort. «Es war ein etwas verrückter Entscheid, ich hatte damals recht wenig Bergerfahrung.» In zwei intensiven Jahren bereitete sie sich auf die Bergführerausbildung vor. «Ich bin froh, habe ich diesen Weg gewählt, ich bin auch nach über 20 Jahren mit Begeisterung als Bergführerin unterwegs.»

Ein berufliches Mosaik gebastelt

Im letzten November wurde sie an die Spitze des Bergführerverbands gewählt, dem 42 Bergführerinnen und 1492 Bergführer angehören. Der Frauenanteil beträgt damit knapp 3%. Es sei erstaunlich, dass mit ihr nun eine Frau den Verband präsidiere. «Das ist ein gutes Zeichen für die Aufgeschlossenheit des SBV», sagt sie augenzwinkernd. Nachdem sie seit dem Herbst 2019 im Zentralvorstand des SBV mitgearbeitet hat, tritt sie ihr Amt gut vorbereitet an: «Es gefällt mir, mich für gute Arbeitsbedingungen für meine Kolleginnen und Kollegen einzusetzen und dafür, dass sich die verschiedenen SBV-Ausbildungen möglichst gut entwickeln.»

Sie könne einen gut aufgestellten Verband übernehmen. Ihr Vorgänger Marco Mehli habe zusammen mit dem Team auf der Geschäftsstelle und mit dem Ausbildungsteam gute Arbeit geleistet. Der Schuh drückt allerdings beim Nachwuchs der Bergführerinnen und Bergführer. «Unser Berufsstand läuft Gefahr, zu überaltern», sagt Rita Christen. Mit gezielter Nachwuchsförderung versuche der Verband, die Ausbildung und den Beruf für junge Einsteigerinnen und Einsteiger attraktiv zu erhalten. Massnahmen zur Frauenförderung plant sie hingegen nicht: «Frauen sind in der Bergführerausbildung schon lange willkommen. Und die jungen Frauen von heute sind zum Glück damit aufgewachsen, dass sie ihren Weg ganz nach ihren Wünschen und Neigungen gestalten können.»

Rita Christen zeigt, dass vieles möglich ist. Seit vielen Jahren arbeitet sie Teilzeit als Gerichtsschreiberin am kantonalen Verwaltungsgericht in Chur, führt daneben Gäste in die Berge, sie ist Bergretterin, zog zwei Buben gross und bildete sich zur Yogalehrerin aus. «Ich habe mir ein passendes berufliches Mosaik gebastelt», sagt sie. Im Schnittbereich ihrer Berufe nahm sie weitere Tätigkeiten an. Sie lehrt Alpinrecht, ist Präsidentin der Fachgruppe Expertisen bei Bergunfällen und wirkte im Vorstand der UIAA, der weltweiten Vereinigung der Alpinistenverbände. Als Präsidentin des SBV kann sie nun all diese Erfahrungen einbringen. «Es ist eine spannende neue Herausforderung für mich», sagt Rita Christen. Nur gut, ist es ein Teilzeitpensum. So hat sie Zeit für anderes. «Ich könnte mir vorstellen, mir noch einmal ein ganz neues Feld zu erschliessen. Zum Beispiel Philosophie.»

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