Erstbesteigung des «Peak Balkonia»
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Erstbesteigung des «Peak Balkonia» Bergsteigen zu Zeiten des Coronavirus

Die Skitourenwoche gestrichen, der Kletterwettkampf abgesagt und die Hütte geschlossen. Trotz den einschneidenden Auswirkungen auf Beruf und Hobby sind Betroffene rund um den Bergsport nicht frustriert. Sie haben die Zeit genutzt, waren kreativ und sind um einige Erfahrungen reicher.

Reto Affentranger ist Bergführer aus Leidenschaft. Die Corona-Krise hat ihn mitten in der Skitourensaison getroffen. Sämtliche Buchungen musste er absagen. Nichts mit der Walliser Haute Route, mit Tourenwochen im Val S-charl oder Tagesausflügen aufs Wetterhorn. Stattdessen hatte er plötzlich ganz viel freie Zeit. «Es war paradox», sagt der 50-Jährige. «Einerseits war es schwierig, mit Tagen ohne Verpflichtungen umzugehen, andererseits lief mir aber trotzdem die Zeit davon.» Einen Teil der Zeit hat er genutzt, um Social-Media-Erfahrungen zu sammeln – und konnte auch gleich einen Erfolg verbuchen. Das Video über die Erstbesteigung des «Peak Balkonia» sahen sich auf Facebook 24 000 Personen an. Zusammen mit seinem Bergführerkollegen und Nachbarn Michael Imhof kletterte Reto Affentranger ein paar Mikroseillängen an der Fassade seines Wohnhauses in Matten bei Interlaken. «Es hat unglaublich Spass gemacht, brauchte aber viel mehr Zeit, bis das Video fertig war, als wir erwartet haben», erzählt der Bergführer. Finanziell kommt er dank etwas Reserven und Erwerbsausfallentschädigung momentan über die Runden, und in die Zukunft blickt er gar mit etwas Optimismus: «Während der Corona-Krise haben viele Leute die Schönheit ihrer näheren Umgebung entdeckt. Wenn das nachhaltig wirkt und sie wieder mehr Touren in den Alpen statt im fernen Ausland unternehmen, ist das auch für uns Schweizer Bergführer eine Chance.»

Züri Oberland statt Walliser Alpen

Zum ersten Mal in ihrem Leben hat Françoise Funk-Salamí dieses Jahr Ostern in Zürich statt im Wallis verbracht. Die 48-Jährige lebt zwar seit bald 25 Jahren in der Limmatstadt, über die Feiertage zieht es sie mit ihrer Familie aber immer wieder in die alte Heimat. «Anstatt auf Ski in den Walliser Alpen waren wir halt mit Wanderschuhen in den Hügeln des Zürcher Oberlandes unterwegs», erzählt die Glaziologin, Fotojournalistin und regelmässige Autorin von Tourentipps in der Zeitschrift «Die Alpen». So schwierig sei das gar nicht gewesen: «Wesentlich war für uns, dass wir überhaupt rausgehen konnten», sagt die vierfache Mutter. Françoise Funk-Salamí war sehr erleichtert, als der Bundesrat auf Eigenverantwortung setzte und nicht eine strikte Ausgangssperre wie in Italien oder Frankreich verhängte. Vor allem mit den Kindern wäre dies schier unvorstellbar gewesen. Die mittleren beiden verbrachten während des Fernunterrichts viel Zeit vor dem Computer. «Fast zu viel wurde es uns, als die Schulen auch während der Ferien noch Onlineangebote empfohlen haben.» Familie Funk-Salamí war dann schon lieber zu Fuss oder mit dem Velo in der näheren Umgebung unterwegs oder hat an den Wochenenden die Zürcher «Gipfel» Pfannenstil, Hörnli oder Schnebelhorn bestiegen.

Spitzentraining im Estrich

Während Monaten hatte sich Sascha Lehmann auf die Europameisterschaft in Moskau vorbereitet. Ende März hätte sich der aktuell stärkste Schweizer Sportkletterer dort für Olympia qualifizieren können. Doch dann kam der Corona-Lockdown, und sämtliche Wettkämpfe wurden abgesagt oder verschoben. «Am Anfang kam die grosse Leere», erzählt Sascha Lehmann, «die ganze Spannung war weg und die Motivation im Keller.» Unterdessen versucht der 21-Jährige das Beste aus der Situation zu machen. Da sämtliche Kletterhallen und auch das Nationale Leistungszentrum des SAC in Biel bis mindestens Mitte Mai geschlossen blieben, verlegte er sein Training ins Haus seiner Eltern in Burgdorf. Im Estrich hat er eine kleine Kletterwand eingerichtet – 55 Grad überhängend –, und aus dem Kraftraum konnte er ein paar Gewichte borgen. «Im Spitzensport sind wir uns gewöhnt, mit Störfaktoren umzugehen, zu improvisieren und flexibel zu bleiben», sagt der Profisportler. Finanzielle Sorgen plagen ihn keine. Er hat wenig Ausgaben und darf weiterhin auf die Fördergelder der Schweizer Sporthilfe hoffen. Unterdessen kann er auch schon wieder auf ein Ziel hinarbeiten: Die EM soll im Oktober nachgeholt werden, und vielleicht klappt es dann tatsächlich noch mit Olympia. Die Krise hat Sascha Lehmann aber auch bescheiden gemacht: «Mir wurde bewusst, wie gut wir es hier in der Schweiz haben und wie toll die Infrastruktur gerade für Sportkletterer ist. Wenn der Alltag zurückkehrt, werde ich das sicher wieder mehr zu schätzen wissen.»

Einfachheit und Solidarität

Nach einem eher trockenen Winter war in den Walliser Alpen im Februar nochmal richtig Schnee gefallen. Für Skitouren rund um die 3256 Meter über Meer gelegene Cabane de Tracuit kündigten sich hervorragende Bedingungen an. Anne-Lise Bourgeois war jedenfalls bereit und freute sich auf die Eröffnung ihrer Hütte am 19. März. Der Helikopter war reserviert, die Taschen gepackt, die Freunde im Tal verabschiedet. Doch der Corona-Lockdown stellte alles auf den Kopf. Innerhalb kürzester Zeit mussten die angemeldeten Gäste informiert und alle Warenbestellungen storniert werden. Anne-Lise Bourgeois kehrte ins Tal zurück, beantragte Erwerbsersatzentschädigung und kam ins Grübeln: «Es ist für mich zwar ein unerwartetes Zwischenspiel, aber ich begrüsse es wie einen Überraschungsgast», sagt die 59-Jährige, «ich bin offen, neugierig und sage mir, dass er nicht zufällig gekommen ist.» Als Hüttenwartin fühlte sie sich persönlich gut auf die Corona-Einschränkungen vorbereitet: «Drei Monate, ohne in einem Restaurant zu essen, ohne meine Enkelkinder zu umarmen, ohne in einen Laden zu gehen oder fernzusehen», das kennt sie bereits. Auch ohne Corona gelte in einer Hütte: «Das Wesentliche ist Einfachheit und Solidarität.» Nun bereitet sich Anne-Lise Bourgeois auf die Sommersaison vor. Am 20. Juni soll sie starten. Mit wie vielen Gästen, welchen Hygienemassnahmen und ob überhaupt, wusste sie zum Zeitpunkt unseres Gesprächs noch nicht.

Die grosse Leere

Daniel Rebetez hingegen überkam ein komisches Gefühl, als er in den Wochen des Lockdowns vor den riesigen Wänden des grössten Kletterzentrums der Westschweiz stand: 4500 Quadratmeter Kletterfläche, 16 Meter hohe Wände, 35 000 Klettergriffe – und niemand, der sie nutzt. «Die Zeit schien stillzustehen. Alles war bereit für die Kletterer. Es fühlte sich an, als könnten wir gleich die Scheinwerfer einschalten und die ersten Kaffees servieren … Aber nein, niemand wird kommen.» So beschreibt der 36-Jährige seine Stimmung, nachdem Mitte März alle Sporteinrichtungen geschlossen worden waren. In den letzten zehn Jahren hatte Daniel Rebetez zusammen mit seinem Bruder Martin die Firma Grimper.ch mit unterdessen vier Kletterhallen aufgebaut – die fünfte soll demnächst in der Region Genf entstehen. Die Kunden hätten verständnisvoll auf die Schliessung reagiert, nun hofft Rebetez, dass sie dies auch bei der Wiedereröffnung tun werden. Eins stehe fest: gleich wie vor der Krise werde es nicht mehr sein. Um die Hygienevorschriften einhalten zu können, müssten sich die Kletterer an neue Regeln gewöhnen. Die Zwangspause will Daniel Rebetez rückblickend keinesfalls mit Frustration gleichsetzen. Er hat sie genutzt, um wieder mehr Ausdauersport zu betreiben und sich mit anderen Hallenbetreibern auszutauschen. Aber natürlich freut er sich unheimlich darauf, wieder in die Wände zu steigen.

Die neue Freiheit der Birkhühner

Dass sich sehr wenige Menschen in den Bergen tummelten, hatte auch Auswirkungen auf die Wildtiere. Anstatt Skifahrer waren in diesem Frühling Birkhühner und Birkhähne auf den Skipisten von Savognin zu sehen. Der Wildhüter und Bergführer Geni Ballat, der im nahen Parsonz wohnt, konnte ihr ungestümes Balzverhalten schon wenige Tage nach der Schliessung der Anlagen im März beobachten. «Das war schon ungewöhnlich», sagt der 60-Jährige. Er ist nicht der Einzige, der solche Geschichten zu erzählen weiss. Weil Schneesportler zu Hause bleiben mussten, hat das Birkwild offenbar die neu gewonnene Freiheit ausgenutzt. Doch so ruhig, wie man vielleicht annehmen könnte, war es in den Bergen dann doch nicht. Laut Geni Ballat waren zahlreiche Tourengänger unterwegs, auffallend viele auf ungewohnten Routen. «Wahrscheinlich wollten sie möglichst Distanz zu den anderen halten», vermutet er. Für die Wildruhe sei dies nicht gerade förderlich gewesen. Insgesamt glaubt der Wildhüter nicht, dass die Corona-Krise einen Einfluss auf den Wildtierbestand haben wird, weder positiv noch negativ. Gerade für die Birkhühner sei viel bedeutender, wie sich das Wetter im Juni entwickle. Dann entscheidet sich, wie viele Jungvögel überleben.

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