Flechten – die heimlichen Herrscher im Gebirge
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Flechten – die heimlichen Herrscher im Gebirge Faszinierende Lebensform

Hellgrau, tiefschwarz oder grellgelb: In den Bergen begegnet man den Flechten auf Schritt und Tritt oder von Griff zu Griff. Doch was aussieht wie eine an das harsche Klima besonders angepasste Pflanze, ist das Resultat einer symbiotischen Lebensgemeinschaft von Pilz und Alge: eine Flechte.

Windgepeitschte Grate, starke UV-Strahlung, extreme Temperaturen – unter ungastlichen Bedingungen können Flechten ihre Stärken am besten ausspielen. Mit zunehmender Höhe werden die Lebensbedingungen für Pflanzen schwieriger, und ihr Konkurrenzdruck auf die langsam wachsenden Flechten kleiner. Von einer bestimmten Höhe an vermögen immer weniger Blütenpflanzen oder Gräser den Flechten zu folgen, und im Bereich des ewigen Schnees, auf windigen Gipfeln und Graten dominieren die Flechten schliesslich. In Höhen von über 4000 m wachsen noch mindestens 50 Flechtenarten. Von der Prachtflechte, die auch bei uns vorkommt, sind aus dem Karakorum Fundorte bis in Höhen von 7000 m bekannt. An südexponierten und zeitweise schneefreien Felswänden wären Flechten eigentlich noch in Höhen von über 8000 m zu erwarten – vielleicht sind sie bis jetzt einfach noch nicht entdeckt worden.

Von den weltweit etwa 14 000 Flechtenarten kommen 1700 Arten in der Schweiz vor. Lange waren sich die Biologen nicht einig, was eine Flechte eigentlich sei. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zählte sie zu den Moosen oder Algen. Erst nachdem das Mikroskop erfunden worden war, erkannte man die erstaunliche Zusammensetzung der Flechten. Eine Flechte ist eine Lebensgemeinschaft, die aus einem Pilz und einer oder mehreren Algenarten besteht. In dieser Symbiose profitieren beide Beteiligten voneinander. Der Pilz umgibt die Alge mit einer schützenden Hülle, die sie vor Austrocknung, Hitze und starker Sonnenstrahlung schützt. Er versorgt die Alge auch mit Wasser und Mineralsalzen, die er aus der Luft aufnimmt. Die Alge wiederum kann Fotosynthese betreiben und mit Sonnenlicht lebensnotwendige Energie in Form von Zucker bilden. Mit blossem Auge erkennen wir nur das Pilzge-flecht, die mikroskopisch kleinen Algen sind darin eingebettet.

So ideal die in Millionen von Jahren entwickelte Symbiose zwischen Pilz und Alge auf den ersten Blick aussieht – sie hat nur in schlechten Zeiten Bestand. Würde der Pilz selber genügend Nährstoffe zum Wachsen finden oder die Alge Wasser und Mineralsalze, würde das Gleichgewicht in der Symbiose unwiederbringlich gestört.

Flechten können Extremstandorte besiedeln, an denen weder Pilze noch Algen alleine – und Pflanzen erst recht nicht mehr – überleben können. Wenn sie als Besiedler von Extremstandorten bezeichnet werden, stimmt dies aber nur aus der Sicht anderer Pflanzen. Unter Berücksichtigung der Fähigkeiten von Flechten sind solche Verhältnisse eigentlich nichts Besonderes. Dank speziellen Säuren, die als Frost- oder Hitzeschutz-mittel wirken, ertragen Flechten Temperaturen zwischen –50 °C und 70 °C. In Laborversuchen widerstehen sie noch erstaunlicheren Werten, die aber auf der Erde gar nicht möglich sind. Als zusätzlichen Trumpf haben Flechten auch noch die Fähigkeit, bei grosser Trockenheit ihren Stoffwechsel zu stoppen und in eine Art Trockenstarre zu verfallen. Auch sind sie sehr genügsam: Tau oder Luftfeuchtigkeit reichen bereits, um ihren Flüssigkeitsbedarf zu decken. Die Flüssigkeit ist im Zusammenhang mit der Fotosynthese wichtig.

Obwohl Flechten mit extremen Lebensbedingungen fertig werden, haben sie dennoch eine Schwachstelle: Flechten reagieren sehr empfindlich auf Luftverschmutzung, besonders auf Schwefeldioxid (SO2), das bei Verbrennungsvorgängen aus Verkehr und Industrie anfällt. Zum Verhängnis wird ihnen dabei ihre Lebensweise. Weil Flechten keine Wurzeln haben, nutzen sie Nährstoffe direkt aus der Luft und aus den Niederschlägen. Dabei reichern sie sich auch mit Schadstoffen an, die das empfindliche Gleichgewicht der Symbiose stören. Deshalb können Fachleute je nach Artenvorkommen und Aussehen der Flechten Rückschlüsse auf die Luftqualität ziehen und Flechten als sogenannte Bioindikatoren nutzen.

Flechten geben auch Hinweise über Himmelsrichtungen oder über die durchschnittliche Dauer und Höhe der Schneebedeckung in einem Gebiet. Flechtenkundige merken so, ob ein Ferienort wirklich so nebelarm ist wie im Prospekt versprochen, oder sie können aufgrund der bodenbewohnenden Flechten schon im Sommer erkennen, ob es sich lohnt, im Winter mit Skis in dieses Gebiet zu kommen. Flechten sind aber auch in der Pharmazie begehrt: Einige auch bei uns vorkommende Flechtenarten enthalten antibiotische Stoffe und werden als Heilmittel verwendet. Andere sind in der Parfümindustrie als Duftstofflieferanten oder zum Färben von Textilien begehrt. Aber nicht nur Menschen, auch Tiere wissen Flechten zu schätzen: Rentiere, Karibus, Moschusochsen oder Gämsen ergänzen ihren Speiseplan mit Flechten. Auch die Raupen einiger Schmetterlingsarten wie die der Kleinen Flechten-eule ( Cryphia domestica ) fressen Flechten.

Flechten können sich auf zwei Arten vermehren: Bei der vegetativen ( unge-schlechtlichen ) Vermehrung lösen sich kleine Bruchstücke von der Mutterpflanze ab, die schon Algen und Pilze enthalten. Sie werden von Wind und Wasser verbreitet und vermehren sich durch Zellteilung. Bei der generativen Vermehrung produziert der Pilz in speziellen Fruchtkörpern Sporen. Diese werden zwar vom Wind über grössere Entfernungen verbreitet als die Bruchstücke. Aber sie müssen zuerst auf eine passende Alge treffen, bevor wieder eine Flechte entstehen kann. Erschwerend kommt hinzu, dass dabei nur bestimmte Kombinationen zwischen Algen und Pilzen möglich sind.

Wenn dann aber endlich eine neue Flechte entstehen kann, wächst sie im Vergleich zu Pflanzen extrem langsam. Die schnellsten, z.B. die Bartflechten, wachsen gerade mal 1 bis 2 cm pro Jahr! Sie hängen auch in unseren Bergwäldern zum Teil von den Bäumen. Steinbewachsende Krustenflechten bringen es nochmal bloss auf wenige Millimeter in100 Jahren. Das scheint zunächst extrem wenig, doch die Flechten haben Zeit. Sie werden im Gegensatz zu Pflanzen sehr alt. Die gelbe Landkartenflechte, die oft ganze Felswände verziert, kann fast 9000 Jahre erreichen. Vielleicht stimmt dies etwas versöhnlicher, wenn Kletterrouten – unter anderem auch wegen dieser Landkartenflechte – nach Regen seifig-rutschig werden.

 

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