Hak mal ein!
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Hak mal ein! Mit Eisgeräten am Fels klettern: Drytooling

Im Oktober 2021 ist mit Drytooling & Mixed Suisse Ouest ein Stück Führerliteratur erschienen, wie es die Schweizer Bergsportwelt bisher nicht gekannt hat: Erstmals wird dem Drytooling ein eigenständiges Führerwerk gewidmet. Dabei ist die Sportart als Mittel zum Zweck entstanden.

«Die Feinheit steckt im Groben», freut sich Simon Chatelan über den Widerspruch. Beim Drytooling bewegt man sich mit Steigeisen und Eisgeräten ohne jeden Eiskontakt fort. Die ersten Versuche wirken oft grob. Das liegt zum einen am Geräusch von Metall auf Fels, das bei unsauberer Arbeit durch Mark und Bein fahren kann. Zum anderen «hat man durch die Eisgeräte, im Vergleich zum Klettern mit blossen Händen, immer die gleichen riesigen Griffe in der Hand und spürt den Fels nicht direkt», sagt Simon Chatelan, Autor des Führers Drytooling & Mixed Suisse Ouest.

Doch darin liegt eine gewisse Würze: «Man legt die Hauen auf feinste Käntchen, die man mit den Fingern nie halten könnte, spürt jedoch nicht unmittelbar, ob das Gerät wirklich hält», sagt er. Denn im Gegensatz zu den Fingern haben wir in den Hauen keine Nerven, und so bleibt stets ein Stück Ungewissheit, ob das Gerät hält oder plötzlich abrutscht.

Daher gilt: auflegen, antesten und danach möglichst keinen Millimeter mehr von der getesteten Position abweichen, auch nicht beim Weitergreifen mit dem anderen Gerät. Dasselbe gilt für die Füsse, schliesslich trennt den Kletterer auch hier ein unbelebter Frontalzacken vom Fels.

Neues Wort, alter Sport

Das Klettern mit Eisgeräten und Steigeisen im Fels war zunächst Mittel zum Zweck. Die Eiskletterpioniere nutzten es bereits in den 1980er-Jahren, um Eiszapfen zu erreichen oder durch Felsabschnitte unterbrochene Eissektionen zu einer Gesamtroute zu verbinden. Wie man den Felsteil überwand, war erst einmal nebensächlich.

Es dauerte einige Zeit, bis man das Potenzial in diesem notwendigen Übel erkannte. Während die Eiskletterskala bei Water Ice 7 (WI7) endete, eröffnete das Klettern am Fels mit Eisausrüstung eine neue Welt in puncto Schwierigkeit bei gleichzeitiger (relativer) Sicherheit.

Zum einen wurde an fragilsten Eiszapfen geklettert, jedoch daneben im Fels abgesichert, wie es bei schwerer Mixedkletterei, also in Routen, die Eis- und Felsanteil haben, heute gang und gäbe ist. Zum anderen entdeckte man, dass der Felsteil zwischen den Eisabschnitten häufig die klettertechnisch viel grössere Herausforderung darstellte als das Eis an sich.

Drytooling, auch wenn es damals nicht viele so nannten, war plötzlich der eigentlichen Eiskletterei ebenbürtiger Teil des Spiels, Teil der Leistung, Selbstzweck. Durch diese Aufwertung und Integration der Felsabschnitte explodierte die Schwierigkeitsskala, denn natürlich entstand der Anspruch, auch die Felsabschnitte frei und ohne Pausieren im Seil zu klettern. Auf WI7 folgten Mixed 8 und 9 (M8, M9). Es dauerte nicht mehr lange, bis die ersten Drytoolingrouten eröffnet wurden, quasi Eisklettereien ohne jeden Eiskontakt. In diesen reinen Felsrouten verwendete man fortan die Drytoolingskala, die heute bis D15 reicht und deren technische und athletische Anforderungen mit klassischer Eiskletterei nur noch wenig zu tun haben.

Das Wetter wird Nebensache

Da drängt sich die Frage auf, warum man nicht einfach Sportklettern geht, wenn es trocken ist, und Eisklettern, wenn es eisig ist. Silvan Schüpbach, langjähriger Eiskletter-Nationaltrainer des SAC, findet darauf mehrere Antworten: «Drytooling ist eben nicht gleich Eisklettern ohne Eis und ebenso wenig gleich Sportklettern mit Eisgeräten. Das Spektrum der Bewegungen und Griffarten ist viel grösser als beim Eisklettern, und Drytooling ist in manchen Aspekten sogar technisch anspruchsvoller als Sportklettern.»

Hinzu kommt der Aspekt der Unabhängigkeit von den Jahreszeiten und dem Wetter, der Klimawandel verkürzt die Eissaison ohnehin immer mehr. «Etwas überspitzt: Warum soll ich auf Eis warten oder mit kalten Fingern Sportklettern gehen, wenn man vor der Haustüre bei jedem Wetter mit Handschuhen drytoolen kann?», sagt Silvan Schüpbach. Im Film Generation Dry vertritt der französische Alpinist und Drytoolingprofi François Damilano eine sehr ähnliche Haltung: «Genial am Drytooling ist, dass es unkompliziert ist und es kaum äussere Einschränkungen gibt, während Eisklettern quasi nur aus Einschränkungen besteht.»

Ein neuer Sport, eine neue Ethik

Wie die meisten Disziplinen des Bergsports hat das Drytooling frei von Regeln und ethischen Überlegungen begonnen. Weil der Sport aber überwiegend in der Natur stattfindet und immer mehr Drytoolingrouten und -Klettergärten erschlossen werden, ist klar, dass diese den gleichen naturschutzfachlichen Regeln unterliegen wie die anderen Klettersportarten.

Zudem gibt es ein paar ungeschriebene Gesetze: So werden keine bestehenden Kletterrouten mit Eisgeräten und Steigeisen begangen und Drytoolinggebiete nur an für das Sportklettern unattraktiven Felsen eingerichtet. Dafür werden in vielen Drytoolinggebieten die Hooks, also die Griffe, gebohrt. Eine Tatsache, die im modernen Sportklettern verpönt ist. Kontrovers wird die Diskussion um die Drytoolingethik spätestens, wenn es um die Sportausübung per se geht.

Eine weitverbreitete Technik ist die der «Figure of Four» beziehungsweise der «Figure of Nine», bei der das (gegen-)gleiche Bein über den Haltearm geschwungen wird und die Kniekehle sich möglichst nah am Handgelenk um den Unterarm zuschraubt. Diese Technik ermöglicht extreme Reichweiten und den Verzicht auf Tritte, was in Überhängen und Dächern Kraft spart. Eine elegante und schulterschonende Technik, finden die einen – Betrug und obendrein langweilig, finden die anderen.

Den Kern des Alpinismus revolutioniert

Wie Sportklettern, Bouldern und Eisklettern war Drytooling zunächst ein reiner Trainingssport für «echtes Bergsteigen», später dann eine alternative Randsportart. Gemeinsam ist diesen neueren Spielarten, dass sie jeweils – quasi heimlich – den Kern des Alpinismus revolutioniert haben. Ein gewisses Sportkletterniveau macht einen zu einem besseren Alpinkletterer, und ein hohes Niveau im Drytooling verändert auch die Art und Weise, wie man sich in anspruchsvollen Mixedpassagen im Hochgebirge bewegt. Wer technisch und physisch über den Dingen steht, hat Kapazitäten übrig, um sich mit anderen Themen wie Wegfindung oder Absicherung zu beschäftigen.

Eisklettern ist seit den frühen 2000er-Jahren ein etablierter Wettkampfsport im SAC, wobei die entscheidenden Abschnitte der Wettkampfrouten de facto Drytooling sind. Im Moment gibt es zwei Nationaltrainer und 16 Athletinnen und Athleten im Nationalkader. Schüpbach: «Beim SAC betrachten wir das Wettkampfeisklettern und damit auch das Drytooling als den Leistungssport des Bergsteigens.»

Für die Zukunft sehen Silvan Schüpbach und Simon Chatelan eine verhaltene Zunahme beim Drytooling als Breitensport. Für den Leistungssport prophezeit Silvan Schüpbach: «Ein schneller, dynamischer Sport, der an urbanen Anlässen für Spektakel sorgt.» Und parallel dazu draussen ein «Back-to-the-Roots», wo wieder vermehrt im Eis geklettert werde.

Tim Marklowski

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