Handwerkersohn auf dem Matterhorn
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Handwerkersohn auf dem Matterhorn Edward Whymper wurde Alpinist wider Erwarten

Als Edward Whymper vor 150 Jahren als Erster das Matterhorn bestieg, war die Schweiz ein Entwicklungsland. Und Whymper ein einfacher Zeichner.

Wie sich Edward Whymper, Sohn eines Kunsthandwerkers und eines von elf Kindern, fühlte, als er am 14. Juli 1865 um 13.40 Uhr als Erster auf dem Gipfel des Matterhorns stand, wissen wir nicht. Er, den man anfangs nur als Zeichner in die Alpen mitgenommen hatte, der aber bald schon so viel besser klettern konnte als alle anderen, stand ganz oben.

Zermatt 1865: ein Dorf, das eigentlich nur «zu der Matte» heisst. Ein Berg, den man eigentlich nur «das Horn» nennt. Wo man arm ist und arbeitet und wo all die Bergungetüme ringsum nur eines sind: eine Anderswelt, ein sichtbares Jenseits. Da hausen die armen Seelen, die ihr Fegefeuer in Fels und Eis verbüssen, von da schicken schlimme Geister Steinschlag, Lawinen und böse Lüfte herunter.

Einzig über den vergletscherten Theodulpass geht man, für den Handel mit den Nachbarn, die im Aostatal näher sind als im fernen Brig. Die Welschen nannten diesen Pass lange Mont Selvin, den wilden Berg. Ein Skribent machte daraus Cervin. Es wurde auch der Name für den Berg daneben. Ihn zu besteigen: nutzlos, gefährlich. Gott versucht.

Wenn da nicht die Fremden wären. Sie kommen aus Grossbritannien, jedes Jahr ein paar mehr. Sie haben die Ansammlung von Holzhäusern zum inoffiziellen Hauptquartier eines sehr exklusiven Clubs gemacht: The Alpine Club, 1863 in London gegründet. Männer mit Rang und Namen. Und Geld. Viel Geld.

Leute aus den besten Kreisen

Unter ihnen auch Edward Whymper. Doch er ist der einzige ohne Rang, Namen oder Geld. In London blieben für ihn die Türen der noblen Clubs verschlossen. Dort war er ein Niemand. In Zermatt gehört er fast schon dazu. Weil er inzwischen der beste Kletterer weit und breit ist: Ein Jahr zuvor stand er als Erster auf den Gipfeln von Barre des Ecrins und Aiguille d’­Argentière, vor zwei Wochen bestieg er die Ai­guille Verte durch das 50 Grad steile Couloir auf der Südostseite – das seither nach ihm benannt ist.

1865 sind es nur Leute aus den besten Kreisen, die mit Nagelschuhen und Lodenmantel die Walliser Viertausender besteigen. Oder arme Bergbauern, als Führer. In diesem Sommer prallen am Matterhorn Welten aufeinander: hier die englischen Alpinisten, jung, ehrgeizig, durchtrainiert und gewohnt, für die Arbeit anderer zu bezahlen.

Da die Bergler. Gewohnt, mit wenig zu leben und hart zu arbeiten, Lasten zu tragen, bis es den Buckel krumm drückt. Sie wissen sich sicher über Schrofen und Firnfelder zu bewegen.

Die Sieger als Verlierer

Der Rest ist Geschichte. Am frühen Morgen des 14. Juli steigen die Engländer Edward Whymper, Charles Hudson, Francis Douglas, Douglas Hadow, der französische Bergführer Michel Croz und der Zermatter Bergführer Peter Taugwalder und sein gleichnamiger Sohn ein. Nach rund zehn Stunden erreichen sie den Gipfel, hinterlassen einen Zettel in einer leeren Flasche und steigen ab. Dann rutscht Hadow aus, bringt Croz aus dem Gleichgewicht, die Seilschaft stürzt, das Seil reisst, zurück bleiben Whymper und der Walliser Bergführer Taugwalder und sein Sohn. Alle anderen sind tot.

Es folgen Verdächtigungen, polizieiliche Untersuchungen. Whympers Rechtfertigungen werfen ein zunehmend schlechtes Licht auf Taugwalder. Bald ist die Rede von einem durchgeschnittenen Seil, von Mord und Totschlag am Berg. Es ist eine Kriminalgeschichte, man schreibt sie in Paris, London und New York, und man schreibt sie für die Auflage. Whymper sieht sich um seinen Erfolg betrogen. In die noble Gesellschaft schafft er es nicht mehr. Auch wenn er von den Tantiemen seiner Bücher lebenslang gut leben kann. Schlimmer kommt es für Taugwalder: Der Vorwurf, er sei ein schlechter Bergführer, hält Kunden fern. Taugwalder verliert seine Existenz und muss auswandern.

Was für die Geschichtsbücher aber zählt: Die Engländer haben den Berg erstbestiegen. Und damit das goldene Zeitalter des Alpinismus beendet. Dass der italienische Bergführer Jean-Antoine Carrel mit seiner Seilschaft drei Tage später über den viel schwierigeren Lion-Grat den Gipfel erreicht – das interessiert nur noch eingefleischte Alpinisten. (→ S.40)

Was um die Welt geht, ist die perfekte Geschichte am perfekten Berg: «Matterhorn – from Triumph to Tragedy». Das Matterhorn wird zum Berg der Berge. Ab da wollen alle nach Zermatt. Und weil den Zermatter Bauern das Land gehört, werden sie reich.

150 Jahre später wird in der Schweiz eine andere Geschichte erzählt. Das Schicksal der Walliser Führer ist in den Vordergrund gerückt. Whymper, der Erstbesteiger? Ein Ehrgeizling. Kein Held. Selbst der Alpine Club widmet ihm 2015 keine Ehrung: Man übergeht das Datum mit britischem Understatement.

Zu Recht? Alpinhistoriker Daniel Anker, Autor des Buchs Matterhorn – Berg der Berge, widerspricht: «Whymper war ein hervorragender Alpinist», sagt er und erinnert an dessen Versuch am Liongrat am 19. Juli 1862,als er eine Höhe von etwa 4080 Metern erreichte. «Der Liongrat ist auch heute nicht ohne, trotz der Fixseile und Strickleitern.»

Bestimmt habe es sich aber auch bei Peter Taugwalder dem Älteren um einen sehr guten Bergführer gehandelt, sagt Anker: «Im Sommer 1865 hat er mit Francis Douglas neben dem Matterhorn ein paar schöne Premieren gemacht, nämlich Untergabelhorn, Wellenkuppe und Trifthorn sowie Ober-Gabelhorn-Nordwestgrat.»

Feedback