«Intensive Lebensschule»
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«Intensive Lebensschule» Evelyne Binsack über ihre Antarctica-Expedition

Sie stand als erste Schweizerin auf dem Mount Everest, doch das genügte ihr nicht. Auf der Expedition « Antarctica » machte die Bernerin Evelyne Binsack 2006/07 eine Extrem-velotour und eine Polarfahrt an den Südpol, sie legte dabei mehr als 28 000 Kilometer aus eigener Kraft zurück. Ein Gespräch über Grenzerfahrungen beim Projekt und die Motivation dafür.

Evelyne Binsack: Zwischen Innertkirchen und dem Südpol liegen mehr als 25 000 Kilometer Strasse, rund 1200 Kilometer Eiswüste und Temperaturen zwischen +40 und –40 Grad Celsius. Ich habe das « Dazwischen » gesucht und intensive Erlebnisse und wertvolle Erfahrungen gefunden. Eine sehr intensive Lebensschule, wenn man so will. Sie haben sich vier Jahre lang auf dieses Abenteuer vorbereitet. Was war besonders wichtig? Zuerst stand ein Sologang zum Nordpol auf dem Plan. Bei einem meiner Kältetrainings in der kanadischen Arktis besuchte ich die nördlichste Wettersta tion. Der Klimatologe Wayne Davidson zeigte mir, wie sich eine Spalte im Eis innerhalb von 24 Stunden 16 Kilometer breit und 200 Kilometer lang öffnen kann. Er fragte mich, was ich tun würde, wenn ich ausgerechnet in dieser Zone unterwegs wäre – und beantwortete die Frage gleich selber: « Du wirst sterben. » Da wusste ich, dass ich anstatt zum Nordpol zum Südpol gehen werde, dort hat man garantiert festes Eis unter den Füssen.

Sehr wichtig. Dieses Projekt hat mich mit Haut und Haaren gefordert. Ich ging fünfeinhalb Jahre lang mit dem Gedanken daran ins Bett und stand am Morgen danach wieder damit auf.

Gesunde Ernährung und spezielle Nahrungsergänzungen sind zwingende Voraussetzung und gehören zu meiner Lebensphilosophie. Für die zwölf Kilogramm Gewichtszunahme vor der Antarktis ass ich fetten Fisch und Fleisch, Teigwaren, Butter, Rahm, aber auch weniger gesunde Köstlichkeiten wie fette Süssigkeiten. Dazu auch Früchte und Gemüse in rauen Mengen. Die Tour führte auch am Parinacotta-Vulkan in Chile vorbei. Ausgebreitet erkennt man, wie viel Material Evelyne Binsack auf dem Fahrrad dabeihatte. Fotos:Expedition « Antar ctica » Während der Velotour quer durch ganz Nord- und Südamerika waren Sie allein. Die Polarfahrt unternahmen Sie aber als einzige Frau zusammen mit vier Männern. Gab es eine spezielle Rollenverteilung? Die Männer haben mehr Gewicht im Schlitten übernommen. Ich habe im Gegenzug 30 bis 40 Prozent der Navigation und die Mehrarbeit in den Camps am Abend und am Morgen auf mich genommen. Bis auf die letzten fünf Tage. Es hiess einmal, Sie hätten kurz vor dem Ziel auch daran gedacht, aufzugeben. Wie haben Sie sich noch einmal aufgerichtet, motiviert? Es stimmt nicht, dass ich kurz vor dem Ziel daran war, aufzugeben. Ich war bereit, bis zum Umfallen weiterzumachen. Das ist ein grosser Unterschied. Der positive Umgang im Team sowie meine mentalen Fähigkeiten und Tricks ermöglichten mir das Durchhalten ganz am Schluss.

Angst ist nicht die richtige Voraussetzung, um ein Ziel erreichen zu können. Ich bin aber sehr dankbar, dass mich mein Körper durch dieses Projekt getragen hat. Als Alpinistin habe ich auch gelernt, mit Angst umzugehen. Angst kann man mit einem bewussten Umgang kanalisieren und in verantwortungsvollen Mut umwandeln. Was war am schwierigsten auszuhalten: die Kälte, die Einsamkeit, die Erschöpfung oder der innere Zwang, dieses Abenteuer zu bestehen? Das hängt vom eigenen Zustand ab: Wenn man friert, ist es die Kälte. Wenn man erschöpft ist, die Schwäche. Wenn man hungrig ist, der Hunger. Wenn man sich in Unsicherheit wiegt, der Zweifel.

Für mich war « Antarctica » keine schräge Idee. Ich schaue nicht nach aus- Nicht unbedingt das Wetter für Fahrradtouren. Schneesturm auf einer argentinischen Strasse.

Tiere waren oft die einzigen Augenzeugen: Begegnung mit einem Vikunja in Ecuador. Bereits in Argentinien musste Evelyne Binsack mit dem Schnee kämpfen. sen, was erwartet werden könnte, sondern nach innen. Ich frage mich, was ich gerne lernen und erleben möchte. Trotzdem: Sie müssen auch die Sponsoren überzeugen. Wie haben die auf das Ansinnen, mit dem Velo und zu Fuss von zu Hause aus an den Südpol zu gelangen, reagiert?

Mein grösster « Sponsor » bin ich selber, und ich war begeistert! Meinem « anderen » Sponsor und den Ausrüstern bin ich aber dankbar, dass sie mir ihr uneingeschränktes Vertrauen schenkten.

Wenn sich die Idee einmal durchsetzt, dass auch Frauen mittels Aben teuer Werte wie Freude, Faszination, Durch-haltekraft, Willen und Kreativität vermitteln können, dann wird es vermutlich einfacher. Wie haben die Bergsteigerkollegen reagiert, Sie haben ja quasi das Lager gewechselt? Ich habe das Lager nicht gewechselt, ich bin und bleibe Alpinistin. Mut gemacht hat mir die Reaktion der Höhenbergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner. Als ich ihr im Frühjahr 2006 von meinen Plänen erzählt habe, munterte sie mich auf, mich von Erwartungen loszusagen, um neue Erfahrungen zu sammeln.

Wie wichtig ist Ihnen die Anerkennung der anderen? Anerkennung hat noch niemandem geschadet. Da mache ich auch keine Ausnahme. Wurde Ihre Leistung zu Hause rückblickend genügend gewürdigt? Die grosse Zahl der Anfragen für Vorträge hat mir gezeigt, dass viele Menschen mit mir unterwegs waren. Einige Menschen haben mitgekämpft und mich mit guten Gedanken unterstützt, und es ist an der Zeit, ihnen auf diesem Weg zu danken. Wenn ich aber wegen der Öffentlichkeit einen Coup starten würde, dann sicher nicht ein 484-tägiges Abenteuer mit unsicherem Ausgang. Weshalb suchen Sie derartige Grenzerfahrungen? Weil ich mich für diesen Lebensstil entschieden habe und weil mir bis heute noch niemand eine bessere Alternative bieten konnte. Ist der Blick auf die Expedition « Antarctica » heute ein anderer als bei ihrer Rückkehr vor sieben Monaten?

Nein, das Fazit ist das gleiche geblieben. Ich bin nach wie vor dankbar, dass mein Körper und meine Psyche diese Strapazen ausgehalten haben. Ich denke trotz den harten Erfahrungen gerne daran zurück. In wenigen Wochen starten Sie Ihre Vor-tragstour über die Expedition « Antarctica ». Was wollen Sie den Besuchern mitgeben?

Ein Vortrag ist erst dann gelungen, wenn ich durch die Geschichten die Herzen der Zuhörerinnen und Zuhörer berühren kann. Und für diejenigen, die noch mehr mit mir in die Geschichten und in die Denk- und Handlungspro-zesse eintauchen möchten, für die gibt es auch das Buch, das im Herbst erscheint. « Expedition Antarctica – 484 Tage bis ans Ende der Welt». a Inter view: Tommy Dätwyler Infos zur Expedition und den Vorträgen: www.binsack.ch Endlich! Nach 48 Tagen Wandern in der Antarktis erreicht Evelyne Binsack mit ihren Kollegen den Südpol. Auf dem langen Weg zum Südpol. Gefrorener Lunch: In der Antarktis bestand kaum die Gefahr von verdorbenem Essen. Fotos: © Expedition « Antarctica »

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