Lawinen schaffen Lebensraum. Grössere Artenvielfalt in Lawinenzügen
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Lawinen schaffen Lebensraum. Grössere Artenvielfalt in Lawinenzügen

Lawinen schaffen Lebensraum

Mit Lawinen wird Zerstörung assoziiert. Lawinen schaffen aber auch neue Lebensräume und tragen durch ihr zerstörerisches Potenzial zur Vielfalt des Lebensraumes Alpen bei: Je häufiger die Lawinen an einem Ort niedergehen, umso artenreicher wird das Gebiet. Dies belegen Untersuchungen, die im Rahmen einer Diplomarbeit im Dischmatal bei Davos durchgeführt wurden. 1

Seit der Mensch die Alpen besiedelt, werden Lawinen als Naturgefahr betrachtet. Jährlich zerstören herunterdonnernde Schneemassen Wald, Gebäude, Strassen und andere Infrastruktureinrichtungen. Auch beim Wintersportvergnügen abseits der Pisten kann es zu Lawinenunfällen kommen. Doch was für Mensch und Tier eine Gefahr ist, bildet für andere Organismen die eigentliche Lebensgrundlage. Denn Lawinenzüge sind Refugien, die vielen Pflanzen erst ein Überleben ermöglichen. Durch die periodische Störung werden Bedingungen geschaffen, von denen verschiedene Pflan-zengesellschaften profitieren können. Dieses Phänomen ist bereits aus dem Umfeld anderer Naturgefahren bekannt: Beispielsweise können Auenvegetationen oder an Feuer angepasste Arten nur existieren, wenn sie periodisch überschwemmt bzw. abgebrannt werden. Dass auch die Störung durch Lawinen für die Vegetation vergleichbare positive Aspekte aufweist, wurde durch eine Studie am Eidg. Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF bestätigt.

Lawinen verändern Schneeverteilung Winter. Nach starkem Schneefall donnern Lawinen zu Tale. Mit ihrer unheimlichen Kraft brechen sie Bäume wie Streichhölzer, und was im Weg steht, wird mitgerissen. Einige Monate später schmelzen die letzten Schneereste, Blumen und Gräser blühen in der Lawinenbahn. Da drängt sich die Frage auf: Wie wirken Lawinen auf die Natur?

Lawinen verändern ihre Umwelt in zweierlei Hinsicht. Einerseits wirken sie durch die mechanische Kraft der bewegten Schneemassen, andererseits verändern sie die Umweltbedingungen im Lawinenzug. Da die Lawinenhäufigkeit im Zentrum eines Zuges am grössten ist und gegen den Rand hin abnimmt, bilden sich verschiedene Vegetationsgürtel aus. Die mechanische Kraft der Lawinen wirkt sich vor allem auf die Bäume aus. Ab einem Stammdurchmesser von

1 « Auswirkungen von Lawinen auf die Vegetation: Eine Studie im Dischmatal. » Diplomarbeit von Sibyl Brugger am Eidg. Institut für Schnee-und Lawinenforschung SLF Blick auf Lawinenzug im Winter, St. Antönien in Österreich Fo to :P et er Be bi DIE ALPEN 1/2004

ca. 10 cm können sich diese dem Druck der durchfliessenden Schneemassen nicht mehr beugen und werden gebrochen. Somit erreicht viel mehr Licht den Boden, womit ein Lebensraum für licht-bedürftige Pflanzen entsteht.. " " .Die Lawinenniedergänge führen aber auch zu einer Umverteilung der Schneedecke, wodurch das Feuchtigkeits- und Nährstoff-angebot innerhalb eines Lawinenzuges verändert wird. Eine durchfliessende Lawine reisst Schnee mit, was zu einem Feuchtigkeitsverlust führt. Durch das Fehlen der isolierenden Schneedecke kühlt zudem der Boden aus, wodurch Frost eindringen kann.

Kommt die Lawine zum Stillstand, wird der mitgeführte Schnee abgelagert. Deshalb ist die Vegetation zwar während des Winters vor Frost und mechanischen Belastungen geschützt, dafür verzögert sich im Frühjahr die Ausaperung. Diese zusätzliche Verkürzung der Vegetationsperiode kann für die Pflanzen der subalpinen Stufe den Tod bedeuten. Im Gegenzug trägt der abgelagerte Schnee zu einem erhöhten Eintrag an Feuchtigkeit und Nährstoffen bei, was sich durchaus positiv auf das Pflanzenwachs-tum auswirken kann.

Biologische Vielfalt in Lawinenzügen Die Lawinenhäufigkeit und -intensität in einem Lawinenzug hängt von den Schneebedingungen und den Witterungsverhältnissen ab und variiert von Jahr zu Jahr. Da bei grossen Lawinen der mechanische Einfluss und die Auswirkungen des Schneedeckenverlustes überwiegen, die Vegetation bei kleineren Lawinen jedoch mit dem abgelagerten Schnee und den daraus resultierenden Folgen umgehen muss, herrschen auf engem Raum und von Jahr zu Jahr die unterschiedlichsten Umweltbedingungen vor. Dies führt zu einer grossen biologischen Vielfalt. Die Biodiversität in den Lawinenzügen ist gegenüber dem umgebenden Wald stark erhöht. Je häufiger die Lawinen auftreten, desto deutlicher ist der Unterschied. Lawinenzüge mit jährlichen Lawinenniedergängen sind artenreicher und diverser als Lawinenzüge, die seltener von Lawinen heimgesucht werden.

Das Ausmass der Schäden wird erst nach der Schneeschmelze ersichtlich. Im Lawinenzug Chisgrube. Die offenen Flächen entstehen als Folge von niedergehenden Lawinen und ermöglichen Licht liebenden Pflanzen das Überleben.

Lawinenzug Wildi im Dischmatal. Gut zu erkennen sind die verschiedenen Vegetationsgürtel Wald – Übergangszone mit kleinen Bäumen – baumfreie Kernzone. In einem Lawinenzug mit seltenen Lawinenniedergängen. Hier können die Bäume wieder langsam Fuss fassen und die Licht liebenden Pflanzen verdrängen.

Foto: Peter Bebi Fo to :P et er Be bi Foto: Peter Bebi DIE ALPEN 1/2004

Eine typische « Lawinenpflanze » gibt es nicht. Über 80% der 141 beobachteten Arten kommen in weniger als 5% der Untersuchungsflächen vor, obwohl die ungestörte Vegetation ausserhalb der Lawinenzüge im ganzen Untersuchungsgebiet ( Dischmatal bei Davos ) Lärchen-Fichten-Wald ist. Das heisst, dass viele mehrjährige Pflanzen, die verschiedenen Familien und Lebensformen angehören, einen Platz zum Überleben finden. Ge-birgspflanzen können von höher gelegenen Standorten, Waldpflanzen aus dem angrenzenden Wald in die Lawinenzüge einwandern. Auf Grund der kleinräumig grossen Standortunterschiede finden auch Pflanzen feuchter und trockener sowie nährstoffreicher und nährstoff-armer Standorte eine Nische. Trotz häufiger Störungen relativ stabil Dass in Lawinenzügen trotz häufiger Störungen relativ stabile Verhältnisse vorherrschen, lässt sich anhand einjähriger Arten, der so genannten Therophyten, erkennen. Dabei handelt es sich um Pionierpflanzen, die sehr schnell gestörte Lebensräume besiedeln können, langfristig jedoch nicht konkurrenzstark sind. Diese sind aber nur dann vertreten, wenn in den letzten Jahren Wald zerstört wurde. Ansonsten setzen sich konkur-renzstarke, ausdauernde Pflanzen im Lebensraum Lawinenzug durch. Durch Lawinen wird also einerseits genügend Stress ausgelöst, um eine Ausbreitung einzelner, dominanter Pflanzenarten zu verhindern. Andererseits ist selbst bei jährlichen Lawinenniedergängen die Störungsintensität zu klein, als dass sich nur noch einzelne Spezialisten durchsetzen können. Dadurch erhöhen Lawinen die Biodiversität und tragen zur Vielfalt des Lebens bei. Sie sind ein wichtiger Bestandteil der Gebirgsökosysteme und erhöhen dadurch die Qualität des Lebensraums Alpen. a

Sibyl Brugger, Abteilung Lebensraum Alpen, SLF Davos In Lawinenzügen wie hier im Dischmatal erkennt man die kleinräumig grossen Stand-ortunterschiede.. " " .Vegetationsaufnahmen in einem Lawinenzug im Dischmatal In Lawinenzügen bilden sich verschiedene Vegetationsge-sellschaften aus. Im Bild das Nebeneinander von Baum-, Strauch- und Krautvegetation Foto: Cornelia Gansner Fo to :S ib yl Bru gge r Fo to :C or neli a Ga ns ne r Fo to :B irgi t O ttme r DIE ALPEN 1/2004

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