Mit dem Snowboard unterwegs. Chamanna Coaz im Fokus
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Mit dem Snowboard unterwegs. Chamanna Coaz im Fokus

Chamanna Coaz im Fokus

Das Zentrum war die Coazhütte, 2610 m ü. M. Den eigenwilligen Fokus hat der Leiter eines Snowboard-Lagers, das im Februar 2000 dort durchgeführt wurde, auf Lageralltag, Landschaft, Snowboard-Erlebnisse und kulinarische Höhenflüge gerichtet.

Fokus 1: Nebliges, Schnee treibendes und windiges All Im fernen Mexiko unter Palmenstränden und am rauschenden Meer hörte ich die Stimme im Bündner Dialekt: Der neue Hüttenwart der Coazhütte schwärmte von Unmengen von Schnee, die mir in der Hitze Mexikos eindeutig zu fern waren. Trotzdem blieb etwas hängen. Inzwischen sind die Badelatschen und -hosen längst versorgt, und anstelle eines Long Drinks halte ich mit meinen klammen Fingern einen Kompass, der irgendwie die Orientierung verloren hat. Wir befinden uns 3300 Meter höher als der sanfte Wellenschlag der Karibik und einige tausend Kilometer östlich davon. Ein kalterWind bläst uns insGesicht, und auch das Schneegestöber erinnert wenig an die warmen Gefilde Südamerikas. Die Fahrt in der Bahn von Surlej zur Bergstation Corvatsch hat bereits offenbart, dass wir heute nicht den Postkarten-Idealblick vom Engadin haben werden. Die Bergstation ist Vergangenheit und in der undurchdringlichen Dichte des Nebels hinter uns verschwunden. Das Snowboard fest an den Füssen vertäut, treiben acht tief vermummte Gestalten immer schön auf der Höhenkurve Richtung Hütte. Eigenartig, so in einer Unendlichkeit zu driften; nur das Bellen von Astor, dem Hüttenhund, bereitet unserem All wenigstens akustisch ein

Fo to :R olf Ca na l/ Cop yr igh t E ng ad in Pr ess AG Hüttenwart Alois Kunfermann schwärmte nicht vergeblich von den Traumschneemengen auf der Coazhütte.

DIE ALPEN 1/2002

Ende. Zurück auf der Erde und in Sichtweite der Hütte rennt uns der Verursacher des Gebells entgegen, bis er in der Tiefe des Schnees hängen bleibt.

Fokus 2: Ein Hüttenwart gibt Gas Die Türe der Hütte öffnet sich, und Alois, der Hüttenwart, tritt diesmal nicht als telefonische Stimme, sondern in Person vor die Hütte und lädt zum Wo-chenauftakt zu unwiderstehlichen Bündner Spezialitäten ein. Der exquisite Duft von Tatsch ( einer Art Knöpfli aus Teig und dazu Unmengen von Bergkäse ) verführt uns hinein in die Hütte, und der dazugehörende Apéro leitet über zum Nachtessen.

Alois Kunfermann ist der dynamische und freundliche Typ Mensch, bei dem man sich sofort wohl fühlt. Un-kompliziert nimmt er uns auf, freut sich auf seine Gäste und setzt sich nach dem Nachtessen zu uns. Er als begeisterter Jäger und Bergler hätte sofort auf die Ausschreibung für einen Hüttenwart reagiert: lieber 800 Meter höher und eine neue Herausforderung annehmen, als 1000 Meter tiefer und die geliebten Berge des Engadins weit weg wissen. Wir seien seine ersten Gäste in seiner ersten Saison, und zum Wetter und den Verhältnissen könne er etwas beitragen. Und damit überreicht er mir einen perfekten Ausdruck des letzten Lawinenbulletins des SLF. Das Informationszeitalter hat auch in der Coazhütte Einzug gehalten. Mit dem Bewusstsein, dass wir diese Woche auf der Lawinenskala so zwischen mässig und erheblich herumturnen werden, legen wir uns ins Bett.

Fokus 3: Wie im Ferienprospekt mit viel Schnee Die « Traum»-Nacht verbringe ich in Peru, in einem Biwak in der Yerupajá-Westwand auf 6000 m Höhe. Diese nimmt erst ein Ende, als ich merke, dass ich nicht in einer Eishöhle kauere und meine kalten Füsse an einem Gaskocher zu wärmen versuche, sondern völlig abgedeckt bei offenem Fenster auf dem Bett liege. Dabei realisiere ich, dass der Wind keine Schneeflocken mehr zum Fenster hereinträgt. Der Blick nach draussen offenbart mir die Milchstrasse, und beruhigt lege ich mich wieder zur Ruhe.

Am Morgen haben wir den ersehnten Postkartenblick: tief verschneite Landschaft rund um die Coazhütte, in einer Arena von Bergen, in der wir nun eine Woche lang die Regie führen werden. Nicole meint lakonisch: « Das ist Il Capütschin, der Berg auf dem Reiseprospekt, den kenne ich bereits. » Die Landeskarte sagt das Gleiche, und in dieser Gewissheit legen wir die ersten Spuren in den einen Meter tiefen Pulver.

Seit dem Winter 1951/52 hat das Engadin nicht mehr solche Schneemassen gesehen. Auch wenn ich Jahre nicht mehr hier in dieser Region gewesen bin, scheint mir doch, dass die damalige Schneesituation sich zur jetzigen etwa so verhält wie die durchschnittliche Niederschlagsmenge in der nordchileni-schen Atacamawüste zu jener von Süd-westchina in der Monsunzeit. Damals zirkelten wir auf Schneebrücken von Gletscherspalt zu Gletscherspalt. Heute hingegen sehe ich beim Roseggletscher keine Spalten, nur beruhigend viel Schnee, in dem wir knietief stecken.

Dem « Kapuziner » – Il Capütschin – auf dem Kopf herumgestanden Fo to :M is ch u W irt h DIE ALPEN 1/2002

Langsam kriechen wir auf unseren Schneeschuhen Richtung Il Capütschin. Das Snowboard auf dem Rücken nimmt meinen Fortbewegungsrhythmus auf, und 4000 mehr oder weniger steile Schritte später stehen wir auf dem Gipfel. Die Tatsache, dass wir acht die einzigen Personen sind, die dieses glitzernde Meer von Schnee durchkurven werden, lassen meine Emotionen direkt in Richtung Kitsch abgleiten. Fast tausend Meter weiter unten kommen wir zur Besinnung, und das Adrenalin pulsiert unentwegt in den Adern. Eben erst noch auf dem Gipfel des Capütschin, dann Eintauchen in den Pulver und dann die langen Turns, das Tempo, der Rhythmus, die legendäre Leichtigkeit des Schnees. Es folgt die Rast, dann der Abstieg zum Depot und das kribbelige Warten auf den Letzten – wie üblich Fräne, der den Depotplatz mit dem Verpflegungsplatz verwechselt. Astor tanzt schon wieder den Emp-fangstango, und Alois hat uns Getränke und Essen bereitgestellt.. " " .Alles Privilegien, die wir als einzige Gruppe in der Hütte zu schätzen wissen. Für das Nachtessen springt Alois kulinarisch über die Sellagruppe ins Veltlin: Pizzoccheri, ein Gericht mit Nudeln, Kartoffeln, Spinat und Käse. Danach rutschen wir in die ungeahnten Tiefen seines Jägerlateins und zu seinen Storys, spannend wie Krimis.

Die Coazhütte – ganz im Zentrum unserer Snowboard-erlebnisse Eine Region – Coaz, eine Abfahrt – Sellagletscher, ein Berg – Piz Roseg: wie im Prospekt Fo to :R olf Ca na l/ Cop yr igh t E ng ad in Pr ess AG Fo to :M is ch u W irt h DIE ALPEN 1/2002

Fokus 4: Hüttenromantik im Schnell-durchlauf Der Aufstieg zum Glüschaint hat einen Hang auf 3300 Metern, der durchaus als Schlüsselstelle bezeichnet werden kann, weshalb wir ihn nacheinander in grossen Abständen durchsteigen. Trotz des Abstandes redet Fräne auf mich ein wie ein Staubsaugervertreter. Er will das ABC der Lawinenkunde gerade jetzt lernen, und zwar so in einer Art Multiple Choice. Ich zitiere aus Munters Küche: « No risk, no fun, no limit, no life » – und er verstummt.

Auf dem Gipfel empfängt uns ein kühler Wind. Unser Fotograf Röfe hat in den Ferien nicht eigentlich Lust zu fotografieren und murmelt etwas von Schönheit, die man nicht zweidimensional ausdrücken könne. Mein Blick wandert 1000 m nach unten zur tief verschneiten Coazhütte, deren vieleckige Form man nur mit Fantasie erkennen kann. Seit 1964 steht sie an diesem Platz, inmitten eines grossartigen Amphitheaters von Bergen. 1982 gesellte sich zur ursprünglichen Hütte noch ein Anbau, womit sich ihre Kapazität auf 80 Plätze erhöhte.

Vor 124 Jahren stand sie weiter unten, auf 2385 m ü. M., nur 40 Meter über dem Gletscher. Seither hat sich viel verändert, der Gletscher hat sich dünn gemacht, und wenn man heute an der Randmoräne steht, ist eben dieser Gletscher ca.100 m weiter unten. Sein Abschmelzen hat der alten Hütte den Todesstoss versetzt: Sie wurde buchstäblich auseinander gerissen, weil das Moränengestein keinen Halt mehr bot. Aus Lawinensicherheits-gründen und wegen der günstigen Ausgangslage für Touren wurde sie dann auf 2610 Metern gebaut.

Einige Meter unter dem Gipfel werden die Bretter angeschnallt, und die « Sinfonie in Schnee-Tour » wird durch einen weiteren Satz ergänzt. Der Gletscher mag ja abgeschmolzen sein, aber was er uns an Freeride-Gelände diesen Winter bietet, ist lobenswert. Überall Sprünge und Wechten. Ab und zu nehmen wir einen kleinen Aufstieg gerne in Kauf für einen weiteren Sprung. Röfe lockt sogar einige Sujets in seine Kamera. Wir ziehen direkt vor der Hütte auf dem Roseggletscher steile Kurven ins Tal und hören erst auf, als der Gletschersee uns Einhalt gebietet.

Fokus 5: Milchbüchleinrechnung Die Tage folgen sich, schön und unwiderstehlich. Auf La Sella und auf La Muongia haben wir unter uns das glitzernde Meer aus Schnee, über uns einige Wolken. Bereits sind wir unterwegs zum « Grande Finale ». Die Abfahrt vom Dschimels über den Sellagletscher – mit einem Crescendo in die Weiten des Schnees. Beim Hotel Roseg holt uns der Neckermanntourismus ein. Wer da nicht mindestens dreimal am Dessertbuffet vorbeischaut und sich dann auf der Sonnenterrasse die Ray-Ban-Brille lasziv überstülpt, gehört nicht dazu. Also schauen wir viermal vorbei, geniessen die Vorzüge der Zivilisation und rasen dann mit einem Seil hinten an der Kut-

Sinfonie in Schnee-«tour », unterlegt von viel Schweiss Lieber 800 Meter höher als tausend tiefer: ein Hüttenwart hebt ab.

DIE ALPEN 1/2002

sche angebunden auf unseren Brettern durchs Rosegtal Richtung Pontresina. Zurück bleiben die grossartige Arena der Berge, unsere Spuren und viele Erinnerungen. « La pura vida !» würde es in Mexiko heissen – « was für ein abgefahre-nes Leben ». Ja wir sind wirklich viel gefahren. Mein Fazit dieser Woche gleicht einer Milchbüchleinrechnung mit Posten 1 bis 6:

1. Die inmitten eines Amphitheaters von Bergen gelegene Hütte ist ein idealer Ausgangspunkt für eine Vielzahl von Touren sowohl für Hobby- als auch Profi-Freerider.

2. Alois ist definitiv der Hüttenwart mit etwas mehr als nur einem Ein-Grad-Blickwinkel.

3. Seine kulinarischen Reisen durchs Bündnerland und ins nahe Veltlin sind unvergesslich.

4. Das Gebiet mit seinen schönen Gipfeln, vielen Varianten in jeder Exposition, den offenen Hängen und seinen Abfahrten bis zu 1000 Höhenmetern ist geradezu ideal für den etwas lauffreudi-gen Freerider. Warum hat wohl Vital Eggenberger in seinem SAC-Führer Skitouren Graubünden – Auf 500 lohnende Gipfelziele nicht den Vermerk « gut für Snowboarder » angebracht?

5. Die Hütte ist von der Bergstation Corvatsch schnell erreichbar, und in den Monaten Januar, Februar und März herrscht kein inflationärer Touren-Tourismus. 6. Wer sich gerne nachziehen lässt, sollte die Kutschenfahrt durchs Rosegtal machen. Der Spass ist grösser, wenn noch nicht allzu viele Pferdeäpfel die verschneite Strasse zieren. Kombiniert mit dem Blick zurück in die grossartige Arena von Bergen bildet dieses Erlebnis den idealen Abschluss.

Zusammengezählt ergibt das unter dem Strich: Da muss man mal hin. Um auch den Berg auf der rechten Seite des Prospekts kennen zu lernen. a

Mischu Wirth, Bern Abfahrt vom Il Capütschin: Tiefschneeabenteuer gewürzt mit einer Spur « Superman » Fräne springt die Wechte souverän – nicht zuletzt up side down.

Warten auf das O.K. oder Herumturnen zwischen mässig und erheblich Fo to s:

M is ch u W irt h DIE ALPEN 1/2002

Alpine Geschichte, Kultur, Erzählungen

Storia, cultura, letteratura alpina

Histoire, culture et littérature alpines

Feedback