Montebelluna: Bergschuhe für die ganze Welt. Zentrum für Sportschuhindustrie in Italien
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Montebelluna: Bergschuhe für die ganze Welt. Zentrum für Sportschuhindustrie in Italien

Das Dreieck Montebelluna, Castel-franco und Asolo in Nordostitalien ist das Silicon Valley der Bergschuhe. Das zeigen die klingenden Namen der hier angesiedelten Marken: Aku, Asolo, Crispi, Dolomite, Garmont, Kayland, Nordica, Salewa, Scarpa, Tecnica, Trezeta … Nirgendwo sonst auf der Welt arbeiten so viele Zuliefe-rer und Hersteller auf so engem Raum zusammen. Ein Augenschein im Herzen der Sportschuhindustrie.

Ein geschäftiger Tag bricht an im Indus-triedistrikt des « Montebelluna Sportsystem », dem Herzen der Sportschuhher-stellung – dem grössten weltweit. Die Fabrikarbeiter müssen spätestens um acht Uhr in den Werkstätten sein, andere haben längst mit der Arbeit begonnen. Viele Lastwagen sind unterwegs, hie und da stauen sich die Fahrzeuge, in den Bars wird eilig ein italienisches Frühstück, « caffè e brioche », verzehrt. Das emsige Treiben kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die globale Wirtschaftskrise auch hier ihre Spuren hinterlässt. « Die Anzeichen und die Verunsicherung sind angekommen », sagt Sandro Parisotto, der CEO von Scarpa, einem der ältesten und auch in der Schweiz mit seinen Berg-, Trekking-, Kletter- und Skischuhen stark vertretenen Unternehmen: « Die Bestellungen gehen noch kurzfristiger oder in kleinere Aufträge gesplittet ein, die Bezahlungen werden spät oder in Raten vorgenommen. » Parisotto ist einer der fünf Vertreter der zweiten Generation der Familie, der die Firma Scarpa seit 1956 gehört. Gegründet worden war sie 1938 von einem irischen Lord. Der Familienbetrieb beschäftigt 135 Angestellte und 40 Zulieferer in externen Werkstätten ( Leisten-, Sohlen-, Ösen- oder Schnürsenkelma-cher usw. ); eine weitere Produktionsstätte steht in Rumänien. 2008 betrug der Umsatz über 35 Millionen Euro, und rund eine halbe Million Bergschuhe mit dem Label Scarpa verliess die Werkstätten. Die zukünftige Entwicklung sei ungewiss, meint Sandro Pari sotto, der eine gewisse Beunruhigung nicht verhehlen kann.

Eine lange Geschichte

Venedig war seit Jahrhunderten für seine Schuhmacherkunst bekannt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begannen auch die Handwerker aus Montebelluna und Umgebung, sich diesen Beruf zu eigen zu machen: Gefragt waren Galoschen und robuste Leder- und Holzschuhe für die Bauern und die Holzfäller, die das riesige Waldgebiet des Montello bewirtschafteten, an dessen Fuss das Städtchen 1969 bringt Nordica mit dem Astral Super den ersten Plas-tikskischuh heraus; durch diese und andere Innovationen wird der Skilauf zum Massensport.

Foto: Archiv Montebelluna Sportsystem Der erste Skischuh aus dem Industriedistrikt Montebelluna von 1937, dem Jahr, in dem die Vibramsohle auf den Markt kommt.

Foto: Archiv Montebelluna Sportsystem Der « Super Comfort » von Nordica aus dem Jahr 1967. Er wurde vom Astral Super abgelöst. Foto: Archiv Nordica Montebelluna liegt. 1808 gab es in Montebelluna bereits zehn Schuhmacher. Alles war Handarbeit, die ersten Nähmaschi-nen hielten um 1860 Einzug. Jeder Schuhmacher hatte seinen Stil, verkauft wurde auf dem Mittwochsmarkt in Montebelluna und am Samstagsmarkt in Asolo – eine Tradition, die noch weit ins 2O. Jahrhundert hineinreichen sollte.

Nach dem Ersten Weltkrieg beginnen die Handwerker erstmals mit der Fertigung eigentlicher Berg- und Kletterschuhe: Die Dolomiten sind nahe, und das Bergsteigen nimmt einen ersten Aufschwung. Anfang der 1930er-Jahre ändern die Schuhmacher rund um Montebelluna den klassischen Lederschuh für das Skifahren ab, eine der entscheidends-ten Diversifi kationen in der Geschichte der lokalen Schuhindustrie. 1937 kommt zudem die vom piemontesischen Industriellen und Alpinisten Vitale Bramani entwickelte Vibramsohle auf den Markt, gefertigt aus einem einzigen Stück vul-kanisiertem Gummi ( frühere Sohlen bestanden aus mehreren Lederschichten ), der auf das Obermaterial geklebt oder genäht wird. Die Sohle ist ein Renner.

Blütezeit in den 50ern

In den 1950er-Jahren erlebt der Distrikt eine erste grosse Blütezeit. 1954 gelingt der von Ardito Desio geleiteten italienischen Expedition die Erstbesteigung des K2. Bis auf den Gipfel mit dabei: Schuhe der Firma Dolomite. Dann gewinnt Toni Sailer die Abfahrt der Olympischen Spiele von Cortina 1956 mit Nordica-Schuhen, Zeno Colò doppelt in der Weltmeisterschaft nach – die Berg- und Skischuhe aus Montebelluna werden in der ganzen Welt, besonders auch auf dem amerikanischen Markt, zum Begriff. Erste Unternehmen exportieren ins Ausland, und Ende der 60er-Jahre verlassen 700 000 Skischuhe die Werkstätten rund um Montebelluna. Techniker tüfteln ständig an Verbesserungen: Schnallen treten an die Stelle von Schnürsenkeln, und 1969 bringt Nordica ihren ersten Plastikski-schuh, den Astral Super, auf den Markt. Durch diese und andere Innovationen wird der Skilauf zum Massensport – in Montebelluna kommt man mit dem Produzieren kaum mehr nach. Es wird in Schichten gearbeitet; 1979 verlassen 4,1 Millionen Skischuhe die Fabriken! Andere Unternehmen – allen voran Dia-dora, Lotto und Sidi – glauben nicht an den Erfolg des Plastiks und investieren in Freizeitschuhe oder andere Sportarten: Sie stellen Schuhe her für Fussball, Radfahren, Eiskunstlauf und Eishockey, Tennis oder Tanz.

1969 feiert Tecnica, eine der traditionsreichen hier ansässigen Firmen, einen durchschlagenden Erfolg mit dem Moon Boot. Heute ist die Tecnica-Hol-ding die weltweit grösste Wintersport-gruppe: Zu ihr gehören die Marken Nordica, Moon Boot, Blizzard, Lowa, Dolomite, Think Pink, Nitro, Roller-blade und T-Shoes. Aus einem Hand-werksbetrieb wurde ein weltweit tätiger Konzern, dessen Herz und Kopf – und ein Teil der Produktion – jedoch nach wie vor in der Gegend ansässig sind.

Die Vorteile des Industriedistrikts

Trotz solchen Erfolgen hat es im Sport-schuhdistrikt von Montebelluna auch immer wieder Krisen gegeben. So zum Beispiel in den 1980er-Jahren: Der Boom der 70er war kaum vorbei – Montebel- Bei der Erstbesteigung des K2 1954 verwendete Schuhe aus dem Indus-triedistrikt des « Montebelluna Sportsystem ».

Foto: Christine Kopp luna und Umgebung zählte 511 Betriebe mit 12 000 Mitarbeitern, die in der Sportschuhindustrie arbeiteten –, als die ersten Anzeichen eines Rückgangs spürbar wurden. Gründe gab es mehrere: die Konkurrenz neuer ausländischer Unternehmen, tiefere Produktionskosten in anderen Ländern, schneearme Winter. Der « Trekkingschuh » rettet einige Unternehmen des « Montebelluna Sportsystem »: Hervorgegangen aus dem klassischen Bergschuh, entsteht plötzlich eine ganze Reihe von neuen, leichten und farbigen Wanderschuhen, die für Wiederaufschwung sorgen. Diese Situation zeigte exemplarisch einen der Vorteile von Industriedistrikten mit kleinen und mittelgrossen Unternehmen gegenüber einem einzelnen Grossunternehmen: Das Gesamtsystem, aber auch die einzelnen Anbieter sind flexibler – sowohl was die Qualität als auch was die Quantität angeht. Dazu kommen weitere Merkmale, die in schwierigen Zeiten zu Trümpfen werden können: Die einzelnen Unternehmen stehen zwar in starkem Wettbewerb zueinander, haben aber durch die räumliche Nähe ein gemeinsames soziales Netzwerk. Im einzelnen Unternehmen ist viel Know-how vorhanden. Dieses geht bei einem hier häufigen Arbeitsplatzwechsel zwischen den Firmen nicht verloren. Die Hauptindustrie und die Zulieferer sind eng miteinander verbunden, zudem gibt es eine Anzahl an Institutionen wie etwa Weiter-bildungseinrichtungen, Forschungs-labors, gemeinsame Einkaufsorganisa-tionen und Industrieverbände, die den regionalen Produktionszusammenhang stärken.

Mit Flexibilität den Krisen trotzen

Das « Montebelluna Sportsystem » ist einer der dynamischsten Industriedistrikte in Nordostitalien. Dies ist möglich, weil die Unternehmen ihre Produktpalette ständig überarbeiteten und erweiterten und sich früh der Auslagerung der ganzen oder eines Teils der Produktion ins Ausland öffneten. Ein gutes Beispiel für den Bergsportbereich ist die Firma Salewa: Ihre noch junge Schuhproduk-tion wird in Montebelluna erdacht und entworfen, aber im fernen Ausland produziert. Oder dann – im Freizeitschuh-bereich – die Marke Geox: Sie produziert zwar nicht in Montebelluna, aber die kreative und logistische Führung, die Die « Signori » der alten Generation Parisotto – von links nach rechts Antonio, Francesco und Luigi –, der Familie, der Scarpa auch heute noch gehört.

Das « Calzaturifico S.C.A.R.P.A » und seine Belegschaft in einer über 50 Jahre alten Aufnahme – heute ist Scarpa eine weltweit tätige und bekannte Firma.

hinter dem Weltunternehmen mit um die 30 000 Mitarbeitern steht, ist hier in der Region angesiedelt.

Natürlich haben die kleinen und mittleren Unternehmen des Industrie-distrikts auch ihre Probleme: Oft handelt es sich um Familienbetriebe, die eher konservativ geführt werden, mit Schwächen im organisatorischen und kommerziellen Bereich.

Die Verbindung von Tradition und Technologie

2006 gehörten zum « Montebelluna Sportsystem » 368 Firmen mit knapp 8000 Angestellten. Vater und Sohn Parisotto von Scarpa betonen zwei grundlegende Probleme, die von der internationalen Finanzkrise unabhängig sind: Zum einen werde es immer schwieriger, die Ausgaben im Griff zu behalten, zum anderen gebe es Nachwuchsprobleme: « Heute findest du keine Jungen mehr, die eine handwerkliche Arbeit erlernen und verrichten wollen. » Sandro Parisotto findet, es sollte diesbezüglich ein Umdenken stattfinden, sonst müsse die Produktion noch stärker ins Ausland verlagert werden.

Doch noch steht das Herz des Unternehmens Scarpa in Montebelluna. In der Lager- und in der Produktionshalle riecht es nach Leder und Leim, es ertönt Ein Blick in die Produktions halle von Scarpa im norditalienischen Asolo; die Firma ist eine von vielen mit klingenden Namen – wie Aku, Asolo, Crispi, Dolomite, Fotos: zvg ein ständiges Stampfen und Klopfen. Überall laufen Förderbänder, an denen Hochtouren-, Kletter- und Skischuhe hängen, die in Produktion sind. « Ein Bergschuh verlangt 60 bis 70 Arbeits-schritte, einzelne Modelle bis 110 », erläutert Sandro Parisotto. Und am Schluss der Kette stehen die drei Herren der alten Generation Parisotto, einer nach dem anderen: Francesco, Luigi und Antonio. Sie nehmen jeden einzelnen Schuh ein letztes Mal in die Hand für ihre ganz persönliche Endkontrolle, bevor er von fleissigen Frauenhänden verpackt wird und seinen Weg in die weite Welt antritt. Das ist das wahre Geheimnis des « Montebelluna Sportsystem », das stellvertretend für viele andere Industriedist-rikte Italiens steht, wo wichtige Güter des täglichen Konsums hergestellt werden: Die Identifikation mit dem Produkt, die Liebe zum Beruf, der auf einem uralten Handwerk beruht und im Verbund mit heutiger Technologie zu einer einzigartigen Mischung aus Tradition und Moderne wird. Wenn solche Handwerks-kunst weitergepflegt wird, darf in den Werkstätten des « Montebelluna Sportsystem » weiterhin genäht und genietet, geschnitten und gestanzt werden. a Christine Kopp, Muri ( BE ) und Pasturo ( I ) Garmont, Kayland, Nordica, Salewa, Tecnica und Trezeta –, die das « Montebel luna Sportsystem » weltberühmt gemacht haben.

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