Projekt Morteratsch - Gletschermessungen mit einer Gymnasialklasse
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Projekt Morteratsch - Gletschermessungen mit einer Gymnasialklasse

zwei - und erst noch von einem andern Hersteller -ausleihen. Dennoch machen wir uns Mitte Juli 1997 unverdrossen auf den Weg nach Pontresina, das uns als « Basislager » dient. Von dort befördert uns die Rhätische Bahn jeweils in wenigen Minuten zum Ausgangspunkt des Gletscherlehrpfads.

Harte Praxis

Prachtvolles Hochsommerwetter begleitet unsern genussvollen Aufstieg auf dem Boval-Hüttenweg. Nicht zur Gletscherzunge geht es zuallererst, sondern hoch hinauf über die gewaltigen Seitenmoränen « unseres » Gletschers. Das Ziel ist ein Triangulationspunkt, von dem aus wir unsern eigenen Fixpunkt im Gletschervorfeld einzumessen gedenken. Die exakten Koordinaten und die genaue Lagebe-

Schreibung der Felsmarkierungen hat das kantonale Vermessungsamt1 geliefert.

Nach einer Kraxlerei über abschüssige Grashalden und Heidelbeergestrüpp befinden wir uns auf einem exponierten, gletscherüberschliffenen Felsturm. Der herrliche Tiefblick auf Eis und Spalten, Moränen und Gletscherbäche begeistert uns zwar ( vgl. Abb. 2, S. 37 ), aber wir finden vorerst keine Spur des Vermessungspunkts. Erst nach allerhand Grabungsarbeiten werden ein Messingbolzen und Gravuren im Fels entdeckt. Ein erster Erfolg ist verbucht: Wir hoffen, unsern Fixpunkt vor dem Gletscher an das schweizerische Kilometer-Koordina-tensystem « anschliessen » zu können.

Da wir nur über einen Theodoliten verfügen, disloziert eine Gruppe mit dem Reflektor für die In-frarot-Laser-Distanzmessung zur Gletscherzunge ( vgl. Abb. 4, S. 39 ), während eine andere mit dem Distanzmessgerät hierbleibt. Als erstes bestimmen wir die exakte Nordrichtung durch Anpeilen diverser Gipfel ( Piz Albris, Munt Pers, Piz Spinas am Palü ) und haben uns einem weiteren Problem zu stellen: Kurze Berechnungen auf den program-

1 T. Dcflorin, Kartcn/.cnirale, Grahenstrassc 8, 7001 Chur

mierten Taschenrechnern ergeben, dass die abgelesenen Werte nicht stimmen können. Schliesslich merken wir, dass wir auf dem Munt Pers den falschen Steinmann ( Touristen haben dort mehrere gleiche aufgebaut !) und am Piz Palü den falschen Gipfel anvisiert haben. Neue Richtungsmessungen zeigen, dass wir jetzt richtig liegen.

Inzwischen hat die Gruppe im Gletschervorfeld den Fixpunkt ausgewählt und den Laserreflektor installiert. Wir zielen darauf, warten - nichts geschieht! Kein beruhigendes Einpendeln von Zahlenwerten an der roten Digitalanzeige unseres Geräts! Dabei sollte die Distanz durchaus zu bewältigen sein. Liegt es an einer falschen Einstellung am ungewohnten Gerät? Alles Pröbeln und Herum-schrauben ist vorerst erfolglos. Plötzlich geschieht das « Wunder »: Zaghaft tauchen an unserm Gerät Zahlenwerte auf. Unser Fixpunkt am Gletscher ist « gerettet »!

Das Problem haben wir dann später orten können: Die pralle Morgensonne hat die Luft an der vegetationsfreien Seitenmoräne derart aufgeheizt,

Abb. 1 Pers- und Morteratschgletscher, Ftugbild 1984. Sehr gut erkennbar sind die mächtigen Seitenmoränen, die beim letzten Gletscherhochstand in der Mitte des letzten Jahrhunderts entstanden. Ganz am rechten Bildrand sind auf dem Morteratschgletscher die im Text erwähnten Ogiven ( bogenförmige Wülste quer über den Gletscher ) erkennbar.

Wissenschaft und Bergwelt c a Ganz oben Ausschnitt aus der Siegfriedkarte ( Gletscherstand 1875 ), oben aus der Landeskarte 1:25000 ( Gletscherstand 1979 ) und rechts Gegenüberstellung verschiedener Gletscherstände.

Aus Blatt 1257 ( St. Moritz ) und Blatt 1277 ( Piz Bernina ). Reproduziert mit Bewilligung des Bundesamtes für Landestopographie vom 14.12. 1998.

1875 500 m

dass sie so stark zu flimmern und zu wallen begonnen hat, dass unser Laserstrahl übermässig gestreut und abgeschwächt worden ist. Der zunehmende Wind hat dann die unruhige Luft ausgeräumt, was eine wenn auch schwierige Messung erlaubt hat.

Zungenveränderungen seit 1875

An den beiden nächsten Tagen erfolgen die Vermessungsarbeiten an der Gletscherzunge. Dort zeigt uns der Kreisförster von Pontresina, wie er und sein Kollege alljährlich die Eisfront mit Messband und Bussole einmessen. Diese « offizielle » Messung wird wegen der saisonalen Eisschmelze jeweils erst im August durchgeführt, weshalb wir zusammen nur einen Probelauf machen ( vgl. Abb. 5, S. 38 ). Dabei erleben wir, dass auch bescheidene Messinstrumente bei sorgfältigem Einsatz durchaus genaue Feldmessungen ermöglichen. Beim Abschrei-ten des Gletscherrandes werden wir vor ein weiteres Problem gestellt: Wo endet der Gletscher über-

: Ein Erratiker ( Findling ) ist ein Felsblock aus orlslremdem Gestein in ehemals vergletschertem Gehiel, der durch den Gletscher vom Ursprungsort an die heutige Fundstätte transportiert wurde. ( Die Red. ) 1997

haupt? Manche Zungenteile liegen unter Schutt begraben, andere sind vom Gletscherbach unterspült oder wegen ihrer unzugänglichen Lage nicht kon-trollierbar. Die in den Jahrbüchern exakt nachzule-sende Zahl des jährlichen Gletscherschwundes muss man ganz offensichtlich mit Vorsicht geniessen ( vgl. Fig. 4, S. 40 )!

Später vermessen wir den Gletscherrand Meter um Meter mit Distanzmessgerät und Laserreflektor. Als Fixpunkt dient uns eine Markierung an einem mächtigen Erratiker2 ( vgl. Abb. 6, S. 38 ), dessen Koordinaten wir auf Bruchteile eines Meters genau bestimmen. Wiederholungsmessungen durch andere Schulklassen in späteren Jahren können hier anschliessen.

Bereits jetzt können wir aber den aktuellen Grundriss der Gletscherzunge älteren und neueren Landeskarten und sogar den wertvollen alten Siegfriedkarten gegenüberstellen ( vgl. Fig. 1, oben ). Vergleicht man die Gletscherstände der Jahre 1875, 1955, 1979 und unsere Messungen von 1997, ist ein Rückzug von Hunderten von Metern festzustel-

Abb. 2 Triangulationspunkt oberhalb des Boval-Hütten-wegs, von hier aus wird unser Fixpunkt im Gletschervorfeld eingemessen.

len. Der drastische Gletscherschwund ist entlang des Fusswegs von der Bahnstation Morteratsch bis zur Zunge mit einer Abfolge von Metalltafeln eindrücklich markiert und im Begleitbuch zum Gletscherlehrpfad ausführlich kommentiert ( Lit. [3] ).

Gemäss der seit 1881 bis 1996 jährlich durchgeführten Messungen zog sich der Gletscher um total 1801 Meter zurück, das heisst, im Durchschnitt um fast 16 Meter pro Jahr. Allerdings verlief der Rückzug nicht gleichmässig: In den vierziger bis sechziger Jahren war er besonders gross, in den achtziger Jahren eher gering ( vgl. Fig. 2, S. 40 ). 1985 gab es sogar einen kleinen Vorstoss um acht Meter.

Veränderungen im Längs- und Querprofil

Der Morteratschgletscher wird nicht nur kürzer, er wird auch dünner. Davon zeugen die mächtigen « 1850er Moränen » ( vgl. Abb. 1, S. 34/35 ). Um die Veränderungen der Dicke des Gletschers dokumentieren zu können, vermessen wir ein Längsprofil ab unserem Fixpunkt gletscheraufwärts, was einigen

Schülerinnen und Schülern die erste Gletscherwanderung ermöglicht. Unsere Profillinie haben wir in Richtung zur Bella Vista gewählt, damit sie von andern Gruppen möglichst leicht rekonstruiert werden kann. Auch hier entnehmen wir anschliessend den Karten von 1875, 1955 und 1979 topographische Vergleichsdaten ( vgl. Fig. 3, S. 41 ).

Querprofil-Messungen führen wir im Feld nicht durch, zeichnen aber solche wiederum aus den Karten ( vgl. Fig. 5, S. 41 ). Seit 1875 ist die Gletscheroberfläche im Bereich des Querprofils um rund 120 Meter eingesunken, an einigen Stellen des Längsprofils sogar gegen 200 m.

Während im Feld die Datenauswertung auf den Taschenrechnern erfolgt und die ersten Profilskizzen entstehen, sinniere ich über den Technologie-sprung der letzten zwei Jahrzehnte: 1976 und 1977 war ich mit Vermessungsinstrumenten auf der kanadischen Arktis-Insel Axel Heiberg ( Lit. [2] ) unterwegs. Absolute Distanzmessungen waren auf unsern Expeditionen noch kein Thema. Mühsam

Wissenschaft und Bergwelt c a 3

mussten Messpunkte auf dem Eis von zwei Fixpunkten aus « vorwärts eingeschnitten » werden. Schlecht markierte Messstangen bewirkten unzählige Verwechslungen, und nach getaner Feldarbeit folgte die stundenlange Rechnerei im Basislager. Erst Tage später wusste man mit Sicherheit, ob die Ergebnisse Hand und Fuss hatten. Schlechte Resultate zwangen zu erneuten Exkursionen ins Gelände. Ganz anders heute: Die Datenreduktion erfolgt bereits unterwegs, und man weiss sofort, ob man vernünftig gemessen hat.

Fliessgeschwindigkeit

Hin und wieder bleiben Bergwanderer bei uns stehen und erkundigen sich nach dem Sinn unseres Treibens. Oft lautet die Frage: Wie schnell fliesst der

Abb. 7 Unser « Theodoliten-Spezia-list » Daniel konzentriert sich auf das Montieren und die Justierung unseres wertvollen Vermessungsin-struments. Während der Projektwoche bilden sich Spezialistinnen und Spezialisten für bestimmte Aufgaben heraus. Heikle Distanzmessungen vertrauen wir immer Daniel an, der die Aufgabe sicher meistert.

Gletscher? Tatsächlich fliesst ja das Eis talwärts, auch wenn sich der Gletscher zurückzieht - ein scheinbares Paradox, das manchen « Laien » nicht einleuchtet. Meine persönliche Überschlagsrechnung im Kopf ergibt, dass direkte Messungen der Fliessgeschwindigkeit des Eises bei einer Genauigkeit im Millimeterbereich innerhalb weniger Tage möglich sein könnten.

Da wir weder über Eisbohrer noch Stangen verfügen, behelfen wir uns mit dem Einmessen von Felsblöcken auf dem Eis ( vgl. Abb. 8, S. 40 ). Zunächst traue ich der Angelegenheit wenig: Kann der Reflektor an den nächsten Tagen auf den Milli-

Abb. 5 Kreisförster Altmann und Silvana nehmen mit Bussole und Messband, nach der jährlich eingesetzten « Standardmethode », den Gletscherrand auf. Die Steine im Vordergrund sind erst vor Tagen durch die zurückweichende Gletscherzunge freigegeben worden.

Abb. 6 Von unserm Fixpunkt aus wird der Laserreflektor auf dem Gletscher anvisiert ( vgl. Abb. 8, S. 40 ). So ermitteln wir die exakten Koordinaten von Profil-punkten auf dem Eis sowie von Steinen, die sich innerhalb von vier Tagen merklich auf uns zu bewegen. Der eigentliche Fixpunkt ist eine Markierung am grossen Felsblock. Die seitliche Aufstellung des Theodoliten erfordert jeweils eine genaue Messung der Lageveränderung zum Felsblock.

meter genau wieder am gleichen Ort auf den Steinen aufgestellt werden? Rutschen die Steine nicht von ihren eisigen Gletschertischbeinen?

Obwohl die Punkte zwischen 260 und 550 m vom Distanzmessgerät entfernt sind, können wir die Bewegungen bereits nach 24 Stunden erkennen. Und tatsächlich scheinen sie systematisch gegen das gletscherabwärts stationierte Vermessungs-instrument gerichtet zu sein. Und nach vier Tagen ist die Verschiebung etwa viermal so gross wie nach dem ersten. Wir messen an vier verschiedenen Punkten ( VP 1 bis 2, vgl. Fig. 6, S. 42 ) innerhalb von vier Tagen die folgenden Verschiebungen: 7,6 cm, 17,. " " .7 cm, 12,. " " .1 cm und 16,. " " .7 cm. Dies entspricht im Durchschnitt 4,5 cm pro Tag oder 16 m pro Jahr.

Da ich bei der Vorbereitung dieser Projektwoche noch nicht sicher war, ob eine direkte Messung der Fliessgeschwindigkeit möglich sein werde, hatte ich im Vorjahr eine andere Möglichkeit vorbereitet.

Verschiebung von Felsblöcken

Im August 1996 machte ich von verschiedenen genau bekannten Standorten aus Panoramaaufnahmen des Gletschers, und zwar möglichst quer zur Fliessrichtung des Eises. Im Juli 1997 besuchen wir zwei dieser Punkte erneut und wiederholen die Aufnahmen ( vgl. Fig. 7, S. 43 ). Bereits im Feld lässt sich auf den mitgebrachten Bildern die Verschiebung von auffälligen Steinen feststellen und

Abb. 4 Vermessungsarbeiten an unserm Fixpunkt im Gletschervorfeld. Peilungen auf bekannte Berggipfel ermöglichen das Einstellen der exakten Nordrichtung Abb. 3 Theodolit und Distanzmessgerät im Einsatz, die orange Schachtel am Sta-tivbein enthält die Batterien zur Stromversorgung des Laser-Distanzmess-geräts.

am Instrument. Gut erkennbar ist im Hintergrund die flache, « eingesunkene » Gletscherzunge, die auf einen Rückzug hinweist.

Fig. 2 Kumulative Längen-veränderungen des Morteratschgletschers aufgrund der seit 1882 durchgeführten jährlichen Messungen. Vom Stand 1882 zog sich die Zunge bis 1997 um mehr als 1800 Meter zurück. Nur in einem einzigen Jahr ( 1984-85 ) gab es einen minimen Vorstoss um 8 Meter.

Jahr ( 1996 bedeutet Veränderung 1955-96 ) Abb. 8 Glaziologisch nicht ganz stubenrein, dafür spektakulär wird der Laserreflek-tor von Marc auf einem Gletschertisch aufgebaut, dessen Verschiebung uns Auskunft über die Geschwindigkeit der Eisbewegung gibt. Die Befürch- tung, der Steinblock könnte auf der Eisunterlage gleiten und die Messungen verfälschen, erwies sich als unbegründet. Andreas betätigt sich als Funker und hält die Verbindung zu den Vermessern am Fixpunkt.

eintragen. Aus den Fotos werden die Richtungen zu den Steinen 1996 und 1997 anhand von Geländepunkten im Hintergrund abgelesen. Die ganze Angelegenheit erfordert einige geometrische Überlegungen und Kenntnisse in Trigonometrie.

Die Distanzen vom Beobachtungsstandort bis zu den Steinen schätzen wir aus der Landeskarte. Da sie meist auf markanten Mittelmoränen liegen, ist dies mit vernünftiger Genauigkeit möglich. Wir erhalten folgende Ergebnisse ( siehe Tabelle rechts ). P4 ist am nächsten bei der Gletschermitte und bewegt sich deutlich schneller als der randnahe P5.

Der von uns 1997 vermessene Eisrand verglichen mit der Situation von 1979. Die Gletscherfront zieht sich ungleichmässig zurück, und zwar einerseits wegen der variablen Lage des Gletschertors ( ablati-onsfördernde Wirkung des Gletscherbachs ) und andererseits wegen der ablati-onshemmenden Moränenbedeckung vor allem im orographisch rechten Teil.

1979 Position Theodolit 1997 Abb. 9 Sogenannte « Kryokonit-löcher » auf dem Eis: Dunkler Staub absorbiert mehr Sonneneinstrahlung als sauberes Eis. Dadurch erwärmt sich der Staub und schmilzt Löcher in die Gletscheroberfläche. Bei grösseren Staub- und Gesteins-ansammlungen oder bei grossen Felsblöcken kehrt sich die Situation um: Sie schützen das Eis vor der Sonne, und die Umgebung erleidet eine stärkere Ablation als das darunterliegende Eis. So entstehen Gletschertische ( vgl. Abb. 8. links, und Abb. 13, S. 42 ).

3 1 UUI t 1 J£.:

« eweguns/ i ( vgl. Fig. 6 ) ( vgl. 6 ) Fotostandort- Jahr* Punkt Pl A 295 ni 45 m P2 A 329 m 39 m P3 A 452 m 46 m P4 A 269 m 49 m "

P5 A 133 m 28 m P6 B 354 m 39 m P7 B 270 m 17 m * Umgerechnet auf ein Jahr ( Zeitspanne zwischen den Aufnahme-daten ist 11 Monate ) Wissenschaft und Bergwelt Fig. 3 Längsprofile durch die Gletscherzunge 1875, 1955, 1979 ( Daten aus Siegfriedkarte und Landeskarten der Schweiz ) und 1997 ( eigene Messungen ) 2400 m 2000 m 2200 m 1800 m 1000 m 400 m 600 m 800 m 200 m 1200 m 1400 m1600 m x-Koordinate 146.0 km Höhe m ü. M.

2300 2250 2200 2150 2100 2050.

791200791400791600791800 5000 Kilometerkoordinate ( WE )

Bei den Standorten A und B bewegt sich das Eis offensichtlich deutlich schneller als an der Gletscherzunge ( direkte Bewegungsmessungen ). Da das Gefälle des Gletschers zumindest bei Standort A ähnlich ist wie an der Zunge, muss die Gletscherdicke Ursache für diesen Unterschied sein. Erfreulich scheint mir, dass bereits mit denkbar einfachen Messungen glaziologisch wichtige Beobachtungen gemacht werden können.

Gletscherwanderung

Nach zwei Arbeitstagen im Zungenbereich ist eine ordentliche Gletscherwanderung fällig. Der ausgeaperte Gletscher erlaubt bei genügender Kenntnis der lokalen Verhältnisse ( Spaltenzonen !) auch ohne Steigeisen eine Begehung des unteren Teils. Seit einigen Jahren ist der Aufstieg auf die Gletscherzunge im orographisch linken Teil ( Westen ) dadurch erleichtert, dass - wie bei einem sich zurückziehenden Gletscher typisch - die Zunge stark abgeflacht und eingesunken ist. Im Gegensatz dazu haben vorstossende Gletscher manchmal eine steil aufgewölbte Front.

Am frühen Morgen finden wir noch etwas glitschiges Eis vor, doch kommen wir auf den eher schuttbedeckten Zonen gut voran. Später schmilzt

2200 m ü. M.

792000 792200 Querprofile durch die Zunge des Morteratschgletschers 1875, 1955 und 1979 ungefähr auf der Höhe des Fixpunktes, wo heute kein Eis mehr zu finden ist

die intensive Sonneneinstrahlung Poren und Löcher ins Eis ( vgl. Abb. 9, S. 40 ), und das Marschieren wird immer leichter. Die Schülerinnen und Schüler begegnen der für sie völlig neuen, fremden Welt des Eises und der Spalten teils mit Begeisterung, teils mit einer gewissen Besorgnis, insbesondere dem beeindruckenden Schlund mit einer gewaltigen Gletschermühle, in die ein tosender Schmelzwasserbach hinunterstürzt. Hier hin-unterzufallen - nicht auszudenken!

Ziel ist der prächtige Moränensee beim Zusammenfluss von Pers- und Morteratschgletscher ( bei Punkt 2473 m; vgl. Abb. 10, S. 42 ), der in dieser Jahreszeit ( Juli ) noch zur Hälfte eisbedeckt ist.

Gletscherschwund im Hochgebirge

Unser Umfeld zeigt, dass sich der Gletscherschwund dieses Jahrhunderts keineswegs nur auf die Zun-genpartien beschränkt. Auch in hohen Lagen ist der Eisverlust spürbar, mancherorts geradezu dramatisch.

Der Moränensee selber ist erst durch den Rückzug des kleinen Gebirgsgletschers Vadret da la Fortezza in diesem Jahrhundert entstanden. Hier floss vor weniger als einem Jahrhundert zwischen

Wissenschaft und Bergwelt

Pers- und Morteratschgletscher ein dritter Eisstrom in einen gemeinsamen Zungenbereich. Er ist sowohl auf den alten Siegfriedkarten ( vgl. Fig. 1, S. 36 ) als auch auf alten Fotografien gut erkennbar. Alte Fotos illustrieren auch die spektakuläre Ausaperung an den Flanken des Piz Bernina ( vgl. Abb. 11 und 12, S. 44 ). Ganze Hängegletscher sind verlorengegangen, und kleine Gebirgsgletscher haben den Anschluss an den Morteratschgletscher verloren.

Abb. 10 Dieser See beim Zusammenfluss der beiden Gletscher wird von einer rechten Seitenmoräne des Mor-teratsch- und einer linken des Persgletschers gestaut. Im letzten Jahrhundert lag dieses Gebiet noch unter dem Eis, das aus Richtung der Fortezza hier herunter-strömte. Das Freiwerden des Geländes in dieser Zone wird durch den Karten-vergleich ( Fig. 1, S. 36, rechts unten in den Ausschnitten ) deutlich.

Abb. 13 Ein gewaltiger Granitblock auf dem Persgletscher zeigt eindrücklich die Eis-ablation im Hochsommer, im Hintergrund links Piz Cambrenas und rechts Piz Palü.

Immer wieder vernehmen wir das Geräusch von Steinschlag, der durch das Auftauen von Permafrost in steilen Partien begünstigt wird.

Vom Moränensee gletscheraufwärts lässt sich der breite, flache Eisstrom bequem überqueren. Gleichzeitig erhalten wir einen prachtvollen Eindruck des Labyrinths: Die variable Eisbewegung in diesem Eisfall führt ungefähr zwischen den Höhenlinien von 2500 und 2600 m zu recht gut ausgebildeten

Direkte Geschwindigkeitsmessungen: VP 1-VP 4 Lage der Felsblöcke PI bis P7 auf dem Gletscher, anhand deren Verschiebung von August 1996 bis Juli 1997 die Eisgeschwindigkeit gemessen werden konnte ( vgl. Fig. 7, S. 43 ). Innerhalb des roten Rechtecks ( oben ) befinden sich die Objekte, deren Verschiebung mit Laserdistanz-messung direkt gemessen wurde.

Ausschnitt aus der LK 1:25 000, Blatt 1277 Piz Bernina. Reproduziert mit Bewilligung des Bundesamtes für Landestopographie vom 14. 12. 1998.

Ogiven ( vgl. Abb. 1, S. 34/35 ). Diese bogenförmigen Eiswülste entstehen, wenn das im Sommer schneller fliessende Eis den tieferliegenden flacheren Gletscherteil zusammenstaucht. Aus der Breite der Ogiven lässt sich deshalb ebenfalls die Fliessgeschwindigkeit des Gletschers abschätzen.

Auf dem messerscharfen Moränengrat wandern wir bei prächtigem Sonnenschein talwärts. Es ist schwer vorstellbar, dass noch im letzten Jahrhundert das Eis bis hier hinauf gereicht haben soll. Um so deutlieher wird, wie massiv sich die Klimaveränderung der letzten Jahrzehnte ausgewirkt hat.

Panoramakamera-Aufnah-men von August 1996 ( oben ) und Juli 1997 ( unten ) ab Standort A in Fig. 6, S. 42. Die seitliche Verschiebung von 4 markanten Felsblöcken ist markiert. Unter Berücksichtigung der Perspektive und mit Hilfe von Distanzen, die aus der Landeskarte geschätzt wurden, konnten die Fliessgeschwindigkeiten an den betreffenden Stellen ermittelt werden. Die ersten Eindrücke täuschen: Der hinterste Felsblock ( zweite Markierung von links ) ist nur etwa in

Projekt Morteratsch auf dem Internet

Nach der erfolgreich beendeten Projektwoche werten die Schülerinnen und Schüler im Rahmen eines Geografiepraktikums an der Kantonsschule Zürcher Unterland die im Feld gewonnenen Daten aus und präsentieren sie in Form einer Ausstellung. Um das Material einer breiteren Öffentlichkeit ebenfalls zugänglich zu machen, bereiten wir unsere Ergebnisse

der Mitte des Gletschers und nicht etwa am andern Rand, zudem bewegt er sich von allen am schnellsten. Deutlich zu erkennen ist, wie im August 96 der Gletscher und seine Umgebung stärker ausgeapert sind als im Juli 1997.

Abb. 11 Blick um 1900 von der damaligen Diavolezzahütte zum Piz Bernina und Piz Morteratsch. Die roten Zahlen weisen auf bedeutende Unterschiede gegenüber 1996 ( Abb. 12, unten ) hin.

Abb. 12 Moderne Vergleichsaufnahme zu Abb. 11 von der Diavolezza ( August 1996 )

und das Bildmaterial auch für das Internet auf. Personen mit dem entsprechenden Zugang erreichen die Startseite unter

http://www.kzu.ch/fach/gg/feld/morteratsch/ morteratsch.html;

Besucher dieser Seiten finden als besonderen Leckerbissen auch eine Sammlung von stereoskopischen Bildern ( 3 D ).

1. Eiswand, die heute ausgeapert ist; 2. kleiner Hängegletscher, heute verschwunden; 3. Gebirgsgletscher, der heute den Morteratschgletscher nicht mehr erreicht; 4. starker Rückgang der Zunge; 5. starker Rückgang der Zunge; 6. ein Teil des Vadret da la Fortezza fliesst auf breiter Front in den Persgletscher hinein; heute ist der Zufluss auf ein schmales Stück zurückgeschmolzen; 7. dieser Teil des Vadret da la Fortezza geht zu dem im Text erwähnten Moränensee hinunter; er ist heute völlig verschwunden; 8. der Schwund des Persgletschers hat mächtige Seitenmoränen freigegeben.

Literatur

[1] Alean, J.: Mit einer Gymnasialklasse im Alp-stein- Das Säntisgebiet als « Klassenzimmer ». ALPEN 3/1996, S. 41-51 [2] Alean, J.: Berge der kanadischen Arktisinsel Axel Heiberg. ALPEN 2/1988, S. 80-92 [3] Maisch, M., Burga, C. A., und Fitze, P.: Lebendiges Gletschervorfeld - Führer und Begleitbuch zum Gletscherlehrpfad Morteratsch. Geographisches Institut der Universität Zürich, 1993

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