Reduktionsmethode - ein neues Werkzeug zur Beurteilung der Lawinengefahr
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Reduktionsmethode - ein neues Werkzeug zur Beurteilung der Lawinengefahr

Das Neue an der Reduktionsmethode ( RM ) von Werner Munter1 ist, dass sich die Einschätzung des Lawinenrisikos aus einer Berechnung mit Hilfe konkreter Zahlen ergibt. W. Munter erhielt diese Zahlen durch Auswertung seiner langjährigen Bergerfahrung, vieler Beobachtungen, Messungen und der Unfallstatistik.

Mit der RM lässt sich keine ganzheitliche Beurteilung erzielen. Sie darf deshalb auch nicht isoliert, sondern soll als Ergän-zungs-Check zur bisherigen klassischen Beurteilung eingesetzt werden.

Wie funktioniert die Reduktionsmethode?

Zur Abschätzung der Lawinenge-fährlichkeit eines bestimmten Schneehangs mittels RM muss man zuerst das Schema in Fig. 1 ausfüllen: Ausgangspunkt für den Einsatz der RM ist die Gefahrenstufe des Lawinenbulletins. Den drei Gefahrenstufen « gering », « mässig » und « erheblich » werden die Zahlenwerte 2, 4 und 8 - entsprechend dem grösser werdenden Risiko - zugeordnet. Diese werden nun durch sogenannte Reduktionsfaktoren dividiert, die den Verzichts- und Verhaltensempfehlun-gen, mit denen das Risiko gesenkt werden kann, entsprechen. Dazu gehören z.B. Steilheit und Exposition der Route oder das Einhalten von Entlastungsabständen ( vgl. Fig. 1, S. 15 ). Ist das Resultat dieser Division 1 oder kleiner, so gilt das Begehen/Be-fahren der Route als verantwortbar.

Verzicht bringt höhere Sicherheit Fig. 2 zeigt deutlich die Einschränkungen bezüglich Steilheit und Exposition, die beim Befolgen der RM in Kauf genommen werden müssen, um das Risiko vernünftig klein zu halten. Der Aktionsradius verkleinert sich merklich, wenn die Bulletinstufe von mässig auf erheblich steigt. Die « erlaubten » Hänge sind dann bei gleich bleibender Exposition um 5° flacher. Fig. 2 zeigt im weiteren, dass sich mit Mit der Reduktionsmethode sollen Erfahrungen quantifiziert und formali-siert werden, um sie so einem breiten Publikum schneller zugänglich zu machen ( unterwegs im Furkagebiet ).

der Einhaltung von Entlastungsab-ständen2 der Spielraum wieder etwas vergrössern lässt.

Unvollständige Beurteilung Die RM erscheint recht einfach und übersichtlich. Genügt es aber, vor dem Aufbruch zu einer Tour anhand der RM die Lawinengefahr abzuschätzen? Auf diese Frage kann nur mit Nein geantwortet werden. Die Einschätzung des Risikos, das beim Befahren eines bestimmten Schneehangs zu erwarten ist, erfordert den Einbezug einer grösseren Anzahl komplexer Faktoren. Die RM berücksichtigt demgegenüber nur wenige - wenn auch zugegebenermassen wichtige - Schätzwerte. Für die Risikobeurteilung sind aber noch andere Grossen wie Geländeform ( Kammlage, Rippen usw. ), Hanggrös-se oder Wetterbedingungen wichtig. Diese Faktoren werden in der RM nicht oder nur ungenügend berück- Fig. 1:

Berechnungsschema der RM Das Gefahrenpotential ( z.. " " .B. 8 für « erheblich » ) wird durch das Produkt der Reduktionsfaktoren dividiert ( z.. " " .B. 2x2x2 für einen 38° steilen Osthang, der mit Entlastungsabständen durchquert wird ). Das Resultat der Rechnung ( in diesem Beispiel = 1 ) muss 1 oder kleiner als 1 sein, und bei « erheblich » muss die steilste Hangpartie unter 40° liegen, damit der Test mit der RM als bestanden gilt.

massig erheblich 8 12 steilste Hangpartie 35-39'steilste Hangpartie 30-34° 2 4

Verzicht auf Sektor NW-NE2 Verzicht auf Sektor WNW-N-ESE3 Verzicht auf die im Lawinenbulletin genann- 4 ten kritischen Hang- und Höhenlagen ständig befahrene Hänge grosse Gruppe mit Entlastungsabständen kleine Gruppe ( 2-4 Personen ) kleine Gruppe mit Abständen Resultat der RM1

000O "

Das Resultat muss 1 oder kleiner sein und bei Gefahrenstufe erheblich die steilste Hangpartie flacher als 40°!

sichtigt, so dass man mit ihr allein die Lawinengefahr nicht oder nur ungenügend bestimmen kann. Es stellt sich sogar die Frage, ob die RM nicht kontraproduktiv wirkt, denn sie vermittelt mit ihrer mathematischen Klarheit eine scheinbare Sicherheit und kann sogar dazu verleiten, aufgrund eines Berechnungsergebnisses zu entscheiden. Dies ist besonders dann gefährlich, wenn sich der Entschluss zur Befahrung eines Einzel-hanges einzig und allein auf die RM abstützt.

Hang ist nicht gleich Hang Ein weiteres Problem ergibt sich bei der Anwendung der RM in der Praxis. Hier stellt sich die Frage, wie gross der Hang ist, dessen « steilste » Hangpartie erfasst und gemessen bzw. geschätzt3 werden soll. Steilheit und Exposition dieser Hangpartie entscheiden über die Grösse der entsprechenden Reduktionsfaktoren und damit über das Resultat. Das Abschätzen der Hanggrösse ist aber gerade in kritischen Situationen nicht einfach. Es ist klar, dass bei Gefahrenstufe « mässig » die zu berücksichtigende Hanggrösse kleiner ist als bei « erheblich ». Als Hilfe dient folgende Faustregel: Bei « mässig » genügt es in der Regel, einen Umkreis von 20 m zu betrachten, bei « erheblich » hingegen ist das ganze potentielle Anrissgebiet entscheidend.

.'Bergführer und Lawinenexperte, wohnhaft in Vernamiège ( VS ), Mitarbeiter des SLF, Autor von 3x3 Lawinen, Entscheiden in kritischen Situationen, Deutsch Bibliothek 97 2 Das sind Abstände von 10 m zwischen den Skifahrern im Aufstieg, in der Abfahrt entsprechend der höheren Belastung mehr.

1 Die Steilheit einer Hangpartie misst man aus der Karte 1:25000 oder schätzt sie mit etwas Übung im Gelände ab.

D

erlaubt

nur mit Abständen oder wenn viel befahren nur mit Abständen und wenn viel befahren verboten Fig. 2:

Analyse der Gefahrensitua-tion bei gegebener Bulle-tinstufe In Abhängigkeit von Exposition und Steilheit wird dargestellt, was mit der RM erlaubt ist. Bei Gefahrenstufe « mässig » sind beispielsweise im Nordsektor flachere Hänge als 35° oh- ne zusätzliche Massnahmen erlaubt, 35 bis 39° steile Hänge nur mit Abständen oder wenn sie nach jedem Neuschneefall immer wieder befahren werden. Mit dem RM-Sche-ma ( Fig. 1 ) sind differen-ziertere Aussagen als hier dargestellt möglich.

Klassische Beurteilung bleibt zentral Besonders bei Gefahrenstufe « erheblich » erfordern Skitouren weiterhin viel Erfahrung. Dabei bleibt die klassische Lawinenbeurteilung von zentraler Bedeutung. Auf keinen Fall soll die RM als einziges Entschei-dungskriterium eingesetzt und dadurch missbraucht werden. Sie kann aber auf eine Fehleinschätzung aufmerksam machen, wenn sie als Ergänzung bzw. Kurz-Check bei der bisherigen klassischen Beurteilung der Lawinengefahr eingesetzt wird. Am besten wird die klassische Lawinenbeurteilung nach der Formel 3x3 von W. Munter aufgegliedert, d.h., die Lawinengefahr wird während der Tourenplanung eingeschätzt. Dann wird diese Einschätzung aufgrund der unterwegs im Gebiet anfallenden zusätzlichen Informationen ergänzt. Eine letzte Beurteilung erfolgt vor dem Einzelhang. Wenn auf jeder dieser 3 Stufen die 3 Kriterien Verhältnisse ( Wetter und Schnee ), Gelände und Mensch möglichst umfassend beurteilt und mit der persönlichen Erfahrung verknüpft werden, ergibt sich daraus eine immer feinere und ganzheitlichere Beurteilung.

Sicherheit, Medizin, Rettungswesen Gelangt man aufgrund der klassischen Beurteilung zum Schluss, dass das Lawinenrisiko zu gross ist, sollte eine andere, sicherere Variante gesucht werden. Wird aber das Lawinenrisiko als vertretbar abgeschätzt, kann dieser subjektive Entscheid mit der weitgehend objektiven RM überprüft werden.

Fazit Die RM als neues Werkzeug in der Beurteilung der Lawinengefahr beruht auf einem neuen Denkansatz. Ihre Logik ist bestechend einfach. In der Anwendung sind ihr jedoch klare Grenzen gesetzt. Die RM ersetzt keinesfalls die klassische Beurteilung, sondern dient zur Überprüfung der gemäss der klassischen Beurteilung getroffenen Entscheidung. Dank ihrer Anwendung, besonders im Rahmen der Tourenplanung, wird die Aufmerksamkeit auf die Schlüsselstellen einer Tour fokussiert, und die wichtigsten Risikoüberlegungen müssen zwingend gemacht werden.

Michael Wicky, Luven ( GR ). " " .4 Zur Anwendung der Reduktionsmethode Vom 23. bis 25. November 1998 fand am Institut für Schnee- und Lawinenforschung ( SLF ) in Davos ein Zentraler Kaderkurs unter der technischen Leitung von Werner Munter und Emanuel Wassermann statt. Teilnehmer waren die Kursleiter der wichtigsten Organisationen, die Lawinenausbildung betreiben ( u.a. Bergführerausbildung, J+S, Armee und SAC ). Das zentrale Thema dieses Kurses war die Auseinandersetzung mit der Reduktionsmethode.

Die beteiligten Praktiker stimmten mehrheitlich in folgenden Punkten überein:

- Die Reduktionsmethode darf nur als Check der klassischen Beurteilung ( Formel 3x3 ) eingesetzt werden und diese keinesfalls ersetzen.

- Die Reduktionsmethode darf nicht auf Anfängerniveau unterrichtet werden.

4 Bergführer und Kursleiter von SAC-Lawinen kursen Entlastungsabstände in den steilsten Hängen einer Tour reduzieren das Risiko wesentlich, nach der Reduktionsmethode um den Faktor 2!

- Die Reduktionsmethode als Check, eingebettet in die vorgängig unterrichtete klassische Beurteilung soll nur an Fortgeschrittene ( Leiter, Bergführer ) vermittelt werden.

Dank der Auseinandersetzung mit der Reduktionsmethode bringt Munter eine alte Weisheit - in seinem Lehrbuch als « elementare Reduktionsmethode » bezeichnet -klar und deutlich auf den Punkt: Be-gehe und befahre bei Bulletinstufe « erheblich » keine Hänge steiler als 35° und bei « mässig » keine steiler als 40°.

Werden zudem steilste Hangpartien gemieden und Entlastungsabstände in den steilsten Hängen einer Tour eingehalten, sind die wichtigsten Massnahmen getroffen, um den weissen Rausch - bei möglichst kleinem Risiko - geniessen zu können.

Emanuel Wassermann, Ausbildungsbeauftragter SAC Foto: Daniel Silbernagel Man kann die Steilheit auf der Karte oder aus der Ferne nicht genau abschätzen. Oft wird einem die effek- tive Steilheit eines Hanges erst mittendrin bewusst, besonders während einer stiebenden Abfahrt.

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