Schlichtes Glück in Mafate
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Schlichtes Glück in Mafate Wie sich La Réunion (F) dem Sog der Modernisierung entzieht

Der Talkessel Cirque de Mafate ist ein Stück Paradies, das von der Welt abgeschnitten ist. Vor 15 Jahren haben sich die Einwohner dem Bau einer Strasse widersetzt, um ihre Lebensweise und ihre einzige Einnahmequelle, den Wandertourismus, zu erhalten.

«Am 29. August 2019 starb Ivrin Pausé im Alter von 91 Jahren. Er war der Briefträger von Mafate. Von 1951 bis 1991 lief er insgesamt 253 000 Kilometer, das heisst sechsmal um die Erde. Auf seinem Rücken trug er 15 bis 18 Kilo Post, die zugestellt werden musste», schreibt Ziggy in der Schülerzeitung des Cirque de Mafate. Willkommen auf der Insel La Réunion. Mafate ist einer der drei Talkessel der Insel. Sie wurden durch die Erosion des Piton des Neiges geschaffen, eines Vulkans, der vor 20 000 Jahren erloschen ist. Mafate ist unzugänglicher als die anderen zwei Talkessel, Cilaos und Salazie, und wie aus der Zeit gefallen.

«Vor 15 Jahren haben sich die Einwohner dem Bau einer Strasse widersetzt, damit ihre Lebensweise und ihre einzige Einnahmequelle, der Wandertourismus, erhalten bleibt», erzählt Jennifer, die eine Herberge in Marla betreibt. Ihr Blick sucht den Horizont ab: «Der Col des Bœufs ist heute Morgen bedeckt. Der Helikopter wird nicht in der Lage sein, uns die Vorräte zu bringen», befürchtet sie. Marla ist einer der Weiler in Mafate. Es sind winzige tropische Dörfer, die meist aus Touristenunterkünften bestehen. Manchmal gibt es einen Lebensmittelladen oder einen Schuppen, der pompös als «Bar» bezeichnet wird und wo es schwierig ist, heisse Getränke zu bekommen, wenn das Feuer nicht angezündet ist. Aber das Bier in der Flasche oder vom Fass steht innerhalb einer Minute auf dem Tisch. In Marla gibt es 50 Einwohner, von denen 48 eine Herberge betreiben.

Der Wandertourismus als einzige Einnahmequelle

Die einzige Einkommensquelle für die 900 Einwohner von Mafate bildet der Wandertourismus. Das bisschen Ackerbau und Viehzucht, das sie betreiben, ist für die Versorgung der Touristen vorgesehen. Im winzigen Lebensmittelladen von Marla gibt es ein buntes Angebot: von Obst und Gemüse, das vor Ort angebaut oder aus der Grossstadt importiert wird, über Stockfisch, Brot und Kuchen bis hin zu Duschschläuchen und sogar Turnschuhen. Wenn einem die Schuhe kaputtgehen, ist das in Mafate der einzige Ersatz. «Der Helikopter bringt uns einmal pro Woche Nachschub», erklärt die Lebensmittelverkäuferin. Sie ist eine fröhliche Frau mit einem starken lokalen Akzent und einer Wollmütze auf dem Kopf. «Aber das ist nicht billig: 850 Kilo Waren kosten 160 Euro plus Überlandtransport.» Die Einwohner hier geben sich mit wenig zufrieden: eine Genügsamkeit, die von ihnen selbst gewählt wurde. Man kann sogar vom Glück in der Einfachheit sprechen: «Es mangelt uns hier an nichts. Gesundheit und Bildung sind kostenlos, und wir leben in Harmonie mit der Natur», sagt Jennifer.

Ein Garten Eden

Mafate ist ein wahrer Garten Eden. Es ist ein seltsamer und wahrscheinlich einzigartiger Ort. Steile, schwarze Wände und felsige Gipfel, die sich inmitten von Schluchten erheben, schneiden ihn von der Welt ab. Die Vegetation ist eine erstaunliche Mischung aus tropischen Pflanzen. An manchen Orten wandert man auf Vulkangestein, aus dem riesige Granitblöcke hervorragen, die entweder von den Titanen vergessen oder von Eruptionen wieder ausgespuckt worden sind, eine raue, wilde Mondlandschaft. Alles, was wir hören, sind das Rauschen des Flusses in der Schlucht und das Rascheln des Windes in den Filaos, den tropischen Nadelbäumen. Hier und da treffen wir auf ein paar Kühe oder Geisslein.

Um die Mittagszeit herum ziehen aufgrund der Insellage oft Wolken auf. Aber kommt einmal die Sonne durch, explodiert das gesamte Farbenspektrum, und in dieser gewittrigen Atmosphäre wirkt alles noch lebendiger und schillernder. Angesichts der faszinierenden archaischen Natur verfliegt die Müdigkeit rasch, und wir steigen weiter die endlosen Stufen den Hang hinauf – um danach einfacher wieder hinunter ins Tal zu gelangen, wo die Rivière des Galets durch tiefe Schluchten fliesst. Ihre Becken laden zum Bade.

Die Stille ist fast absolut. Nur manchmal vernehmen wir das Zwitschern der Vögel, das Krähen der Hähne oder ein Eselsgeschrei. Ab und an dröhnen Helikopter. Wir wissen nicht, ob sie hauptsächlich zur Versorgung der Einwohner oder auch für Ausflüge mit Touristen eingesetzt werden. Es ist Oktober, und die Nächte sind schon sehr kühl, aber wenn der Himmel aufklart, scheinen die Sterne zum Greifen nah und heller denn je.

Eine Grundschule für manchmal nur vier Kinder

Um von Aurère nach Cayenne hinunterzugelangen, durchquert man einen erstaunlichen Nadelwald. In dieser vertrauten Vegetation erinnern einen nur die hellgrünen Agaven daran, dass man sich tatsächlich noch in den Tropen befindet. Rasch erreicht man Ilet à Malheur, einen Weiler mit etwa 40 lachenden und gastfreundlichen Seelen, der seinen Namen zu Unrecht trägt.

An diesem Montagmorgen ist die Grundschule immer noch leer. Der Unterricht beginnt für die vier Schülerinnen und Schüler aller Klassenstufen erst mittags, da der Lehrer von La Possession aus rund dreieinhalb Stunden zu Fuss hinaufsteigen muss. Nach der Primarschule müssen die Kinder runter an die Küste fahren und bei einer Gastfamilie wohnen, um weiterführende Schulen zu besuchen.

In der kleinen Kirche wird bloss alle zwei Wochen eine Messe gefeiert, da der hiesige Pfarrer die ganzen Kirchen in Mafate nur zu Fuss erreichen kann. Es sind typische französische Weiler, lediglich der Polizeiposten fehlt: «Hier gibt es kein Verbrechen, wir kennen uns alle und lassen die Tür immer offen», versichert ein Bewohner. Öffentliche Dienstleistungen werden von Frankreich aus durch Subventionen bereitgestellt. Die Abfälle der Insel werden einmal im Monat per Helikopter abgeholt. Der Postbote kommt einmal in der Woche, der Arzt einmal im Monat, und zwei Krankenschwestern teilen sich die Touren durch den Cirque. Sie sind zu Fuss unterwegs, aber im Notfall gibt es einen kostenlosen Helikopterflug.

Wir halten für einen köstlichen «café grillé», einen hausgerösteten Kaffee, bei Marie an. In ihrer pastellfarbenen Hütte mit dem typischen Wellblechdach thronen die Trophäen ihres Mannes, eines ehemaligen Laufchampions, der auch den Ultratrail des Mont Blanc bestritten hat. Heute verwaltet er die Hälfte der Schulen in Mafate, und wenn er gerade nicht arbeitet, trägt er den Proviant für die Familie in einem 15- bis 20-Kilo-Rucksack hoch.

Während unserer Sechstagestour im Cirque haben wir nur wenige Einwohner auf unseren Wegen getroffen, dafür viele Wanderer, vor allem solche aus Frankreich. Aber am Wochenende sind wir einer Menge Einheimischer begegnet, die sich auf die Diagonale des Fous vorbereitet haben, einen berühmten Trail, der sich über die ganze Insel zieht und Mitte Oktober ausgetragen wird.

Herbergsleben

Roche Plate liegt direkt am Fuss einer beeindruckenden Wand, die bei Einbruch der Dunkelheit fast schon bedrohlich wirkt. Als wir ankommen, liefert ein Helikopter gerade das Küchenholz für den gesamten rund 100 Seelen umfassenden Weiler. «In den 30 Jahren, seit es den Helikopter gibt, hat sich unser Leben schon stark verbessert», erklärt Johan, der freundliche Manager der Herberge. Obwohl noch jung, würde er Mafate «für nichts auf der Welt verlassen». Ausserdem bereitet sein Vater Merlin das beste Hühnercurry zu, das wir je gekostet haben. Eine wunderbare Abwechslung zur täglichen «rougail saucisses» – dem Nationalgericht der Insel La Réunion.

Die Unterkünfte in Mafate sind einfach, aber komfortabel ausgestattet und haben sogar heisses Wasser zum Duschen. Elektrizität wird hauptsächlich durch Sonnenkollektoren erzeugt, und gekocht wird mit Holz oder Gas. Es gibt nur sehr wenige Steckdosen und kein WLAN, aber 4G ist überall. Im Oktober wird es gegen 18.30 Uhr dunkel, das Essen wird kurz danach serviert. Dazu bekommen wir Rum oder Punsch. Abends senkt sich in den höher gelegenen Weilern oft der Nebel, und es wird kalt. Da die Herbergen ausser dem Speiseraum, der bis zum Essen geschlossen bleibt, keinen Gemeinschaftsraum haben, kann es bisweilen recht melancholisch werden. Das ist aber Teil der Seele des Ortes. «Ich bin vor etwa 20 Jahren nach Mafate gekommen. Viel hat sich nicht verändert, aber die Unterkünfte sind deutlich besser geworden», meint Fred Lang, der Organisator der Expedition.

Eine erstaunliche und sicher einzigartige Erfahrung

Frühmorgens weckt uns das Krähen der Hähne, und wir werden Zeugen eines prächtigen Sonnenaufgangs. Die Vögel zwitschern in der leichten Brise, die Sonne lässt rasch die Berggipfel erstrahlen, und der Blick auf den Talkessel und die Schluchten ist atemberaubend, absolute Harmonie.

Die sechs Tage Isolation zwischen riesigen Felswänden werden ein unvergessliches Erlebnis bleiben, auch wenn es manchmal etwas anstrengend war. «Mafate erinnert mich an ein Buch mit dem Titel König Salomos Schatzkammer», sagt Patrick Sériot, ein erfahrener Wanderer, der weit herumgekommen ist. «Die Geschichte spielt in Ostafrika an einem völlig unzugänglichen Ort. Man betritt eine vergessene Welt, in der die Menschen auf unvorstellbare Weise und sehr weit voneinander entfernt leben. Es erinnert auch ein bisschen an die Alpen im 14. Jahrhundert, wo die Menschen in einem geschlossenen Kreislauf gelebt haben. Ich habe noch nie einen Ort mit derart schwindelerregenden Hängen und solch verrückten Höhenkontrasten gesehen. Und mir war noch nie so kalt in den Tropen ... Aber ich liebe es!»

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