Skifahrerlawinen und Lawinenbulletin. Ein Vergleich
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Skifahrerlawinen und Lawinenbulletin. Ein Vergleich

Skifahrerlawinen und Lawinenbulletin

In der Schweiz verursachen Skifahrerlawinen die meisten tödlichen Lawinenunfälle, und zwar bei der Lawinengefahrenstufe « erheblich », gefolgt von « mässig ». 35 bis 40° steile, nordexponierte Hänge, muldenförmig oder in Kammnähe sind Eigenschaften des typischen Lawinen-hangs. Dies einige der Eckpunkte einer neuen Arbeit des SLF, basierend auf der Schadenlawinendatenbank.

In den letzten Jahren ist am Eidg. Institut für Schnee- und Lawinenforschung ( SLF ) Davos eine Schadenlawinendatenbank 1 mit allen bekannten Sachschaden-ereignissen bis und mit Winter 1998/99 sowie allen Skifahrerlawinen der letzten 30 Jahre entstanden. Von den 11 500 ( zum Teil über 100 Jahre alten ) erfassten Ereignissen sind rund 1200 Skifahrerlawinen 2, Lawinen also, die durch Personen ausgelöst wurden oder durch die Personen im freien Gelände erfasst wurden. 95% davon wurden durch Personen, 5% natürlich ausgelöst. Seit 1987 werden in der Datenbank auch die Lawinenbulletins erfasst. Der Vergleich von rund 600 Skifahrerlawinen mit dem am Ereignistag und -ort gültigen Nationalen Lawinenbulletin gibt neue interessante Ergebnisse.

Überblick Lawinenopfer und Gefahrenstufen Im Zeitraum Winter 1987/88 bis 1998/99 sind jährlich durchschnittlich 23 Personen in Lawinen ums Leben gekommen gegenüber 25 Personen im langjährigen Durchschnitt ( 65 Jahre ). Seit 1987 sind die meisten Lawinenopfer bei Skifahrerlawinen zu beklagen. Skifahrerlawinen ( Varianten und Touren ) ereignen sich vor allem bei den Bulletinstufen « mässig » und « erheblich »: 45% aller Lawinenopfer ( Skifahrerlawinen und andere Schadenlawinen ) bei Stufe « erheblich », 30% bei « mässig ». Lawinenopfer bei Gefahrenstufen « mässig » und « gering » sind ausschliesslich Touren-und Variantenfahrer ( vgl. Fig.1 ). Die Gefahrenstufe « mässig » wurde übrigens in 45% aller Bulletintage ( über 12 Jahre ), « erheblich » in knapp 30% herausgegeben ( vgl. Fig. 2 ).

Exposition und Höhenstufe Skifahrerlawinen ereignen sich bei allen Gefahrenstufen 3 vor allem in den nördlichen Expositionen. Die Höhe über Meer des Lawinenanrisses ist bei den Gefahrenstufen « erheblich » und « gross » tiefer als bei « gering » und « mässig ». Unfälle bei « erheblich » ereignen sich vor allem in den Expositionen West bis Südost mit einer durchschnittlichen Höhenlage von 2440 m ü. M. Bei « mässig » sind die Expositionen eingeschränkter – vor allem Nordwest bis Ost –, die durchschnittliche Höhenlage liegt bei 2560 m. Lawinengrösse Im Gegensatz zu Sachschadenlawinen sind bei den Skifahrerlawinen keine wesentlichen Unterschiede in der Lawinengrösse bezüglich der Gefahrenstufen zu erkennen. Skifahrerlawinen sind bei allen Gefahrenstufen durchschnittlich 200–250 m lang, 50–60 m breit mit einer durchschnittlichen Anrissmächtigkeit von rund 50 cm. Einzig Tourenunfälle sind bei « erheblich » mit 85 m signifikant breiter als bei « mässig » mit 50 m. Dass sich durch Personen ausgelöste Lawinen in ihrer Grösse nicht wesentlich unterscheiden, kann folgende Gründe haben. – Das Verhalten von Wintersportlern ist je nach Gefahrenstufe unterschiedlich: Bei hohen Gefahrenstufen werden meist kleinere und flachere Hänge befahren als bei tiefen Gefahrenstufen. Würde zum Beispiel ein Tourenfahrer bei « gross » wie bei « mässig » gleiche

1 Erstellt wurde die Schadenlawinendatenbank ursprünglich im Rahmen des Nationalfonds-Pro-jektes 31 ( « Klimaänderungen und Naturkatastrophen » ). Dort wurden alle natürlich ausgelösten Schadenlawinen erfasst. Vor allem mitgewirkt haben dort Martin Laternser und Martin Schneebeli. Stephan Harvey hat mit grosser Unterstützung von Frank Tschirky, Hansjörg Etter, Jürg Schweizer, Chatrigna Signorell und Cornelia Züger die bereits bestehende Datenbank für Skifahrerlawinen erweitert. Für die Eingabe der Schadenlawinen von 1999 waren Michael Brüendl und Pascal Sieber verantwortlich. 2 Diese Zahl ist dank der wertvollen Rückmeldung diverser Tourenfahrer, Bergführer und Patrouilleure über Lawinenunfälle zustande gekommen. Nur mit möglichst vielen Informationen über Lawinenunfälle aller Art ( auch glimpflich verlaufene ) können aussagekräftige Auswertungen mit Wirkung für die Zukunft gemacht werden. 3 Bei den Skifahrerlawinenunfällen musste wegen geringer Unfallzahlen auf Auswertungen mit Gefahrenstufe « sehr gross » verzichtet werden.

Bei dem zurzeit vorherrschenden Begehungsverhalten von Wintersportlern weisen Skifahrerlawinen bei allen Bulle-tinstufen gleiche Ausdehnung auf, haben die gleiche Anrissmächtigkeit und werden ungefähr in Hängen der gleichen Steilheit und ähnlicher Geländeform ausgelöst. Die deutlichsten Unterschiede sind in der Höhe über Meer der Anrissgebiete und in der Häufigkeit der Lawinen zu finden.

Die meisten Lawinenunfälle auf Touren geschehen bei Bulletin-stufe « mässig »! Das Risiko eines Personenschadens auf Touren ist bei « mässig » und « erheblich » etwa gleich.

Fo to :H .J .E tte r, SLF Foto: S. Harvey DIE ALPEN 4/2002

Hänge befahren, so wären die ausgelösten Lawinen grösser.

– Die Geländeform begrenzt häufig die Grösse der Lawinen ( Abgrenzung am Rande durch Geländerücken oder Felsen ).

– Trotz unterschiedlicher Stabilität führt die Bruchausbreitung, die unter anderem von der Härte bzw. Zugfestigkeit der abgleitenden Schicht abhängt, schliesslich zu ähnlichen Lawinengrössen.

Geländeform und Hangneigung Skifahrerlawinen ereignen sich an ähnlichen Geländeformen, und zwar unabhängig von den Bulletinstufen. Rund 80% werden in Kammlagen, felsdurchsetztem Steilgelände oder in konkavem Gelände ( Mulden, Rinnen, Couloirs ) ausgelöst. Rund 20% ereignen sich an Hanglagen ohne spezielle Geländeform. Eine Schlüsselgrösse bei der Beurteilung der Lawinengefahr ist die Steilheit des Hanges, wozu aus der LK 1:25 000 die steilsten Hangpartien innerhalb der An-rissfläche gemessen wurden. Der Mittelwert der steilsten Hangpartien liegt bei den Gefahrenstufen « mässig », « erheblich » und « gross » bei 39°, bei « gering » sind es 41°. 18% aller Skifahrerlawinen bei « mässig » haben eine Anrissfläche, die flacher ist als 35°, bei « erheblich » sind es 24%. Die geringsten Anrissnei-gungen bei Skifahrerlawinen sind bei « erheblich » zu beobachten ( vgl. Fig. 4 ). Die Anrissgebiete von Skifahrerlawinen sind also bei allen Gefahrenstufen gleich steil und haben ähnliche Geländeform. Dieses Resultat der Unfallstatistik berücksichtigt allerdings in keiner Weise die unterschiedliche Auslösewahrscheinlichkeit bei unterschiedlichen Gefahrenstufen und das tatsächlich eingegangene Lawinenrisiko der Schneesportler. Dazu fehlen zurzeit Begehungszahlen. Die Interpretation, dass Steilhänge bei allen Gefahrenstufen gleich gefährlich sind, ist daher unzulässig, muss doch Folgendes berücksichtigt werden: Je steiler ein Hang in mit Ski befahrba-rem Gelände ist, desto grösser ist die Auslösewahrscheinlichkeit einer Schneebrettlawine. Bei tieferen Gefahrenstufen sinkt allgemein die Auslösewahrscheinlichkeit einer Schneebrettlawine und die Gefahrenstellen sind weniger verbreitet. Das heisst, dass die in der Praxis bei Risikominimierungsme-thoden ( z.. " " .B. elementare Reduktionsmethode ) häufig angewandte 5-Grad-Ab-stufung der steilsten Hangpartie pro Gefahrenstufe zu ähnlicher Auslösewahrscheinlichkeit und zu ähnlichem Risiko führt.

Unterschied Touren–Varianten Bei « mässig » und « erheblich » werden etwa gleich viele Personen in Skifahrerlawinen erfasst. Die meisten Tourenfahrer werden bei « mässig », die meisten Variantenfahrer bei « erheblich » erfasst. Etwa zwei Drittel aller erfassten Personen in Skifahrerlawinen waren auf Touren, etwa ein Drittel auf Variantenabfahrten unterwegs. Risiko-Index Dividiert man die Anzahl der erfassten Personen pro Gefahrenstufe ( vgl. Fig. 5 ) mit der Häufigkeit der Bulletin-stufe über 12 Winter, so erhält man einen einfachen Risiko-Index 4 für das Eintreten eines Personenschadens. Dies wurde für die Anzahl erfasster Personen auf Touren und Variantenabfahrten gemacht mit unterschiedlichen Resultaten ( vgl. Fig. 5 und 6 ).

Tourenunfälle Auf Touren geraten am meisten Personen bei Bulletinstufe « mässig » in eine Lawine. Die meisten Todesopfer sind aber bei « erheblich » zu beklagen. Die Berechnung des Risiko-Indexes bei Touren ergibt von « mässig » bis « gross » nur einen minimen Anstieg des Risikos eines Personenschadens. Für Touren ist der Risiko-Index bei « erheblich » und « mässig » praktisch gleich. Dies hat mit dem vorsichtigeren Verhalten von Tourenfahrern bei « erheblich » zu tun. Die Wahrscheinlichkeit für das Auslösen einer Lawine und die Anzahl der Gefahrenstellen sinken zwar von « erheblich » zu « mässig », aber mit dem Befahren von lawinenträchtigeren Hängen bei « mäs-

4 Um das individuelle Lawinenrisiko für eine Einzelperson zu berechnen, müsste die Anzahl Personen in potenziellen Gefahrenbereichen für jede Gefahrenstufe bekannt sein ( effektives Schaden-potenzial ).

Fig. 1: Anzahl Lawinenopfer pro Gefahrenstufe in den Wintern 1987/88 bis 1998/99 mit total 248 Lawinenopfern während der Bulletinperiode. 45% aller Lawinenopfer sind bei Stufe « erheblich » zu beklagen. Fig. 2: Prozentuale Häufigkeit der Gefahrenstufen des Nationalen Lawinenbulletins von Winter 1987/88 bis 1998/99 ( 12 Jahre ).

0 20 6% 30% 45% 18% 1% 40 60 80 100 120 seh r g ross gro ss erhe bli ch mä ssig ge ring Gefahrenstufe An za hl La w inenopfe r Anzahl Lawinenopfer pro Gefahrenstufe Andere Schadenlawinen Skifahrerlawinen 0 10 20 30 40 50 sehr gross gross erheblich mässig gering Verteilung der Gefahrenstufen über 12 Jahre Gefahrenstufe %-A nteil gering mässig erheblich gross Anzahl Skifahrerlawinen pro Gefahrenstufe Fig. 3: Anzahl Skifahrerlawinen pro Gefahrenstufe in den verschiedenen Expositionen und Höhenstufen. Zeitraum: Winter 1987/88 bis Winter 1998/99, total Anzahl Unfälle 511 DIE ALPEN 4/2002

sig » sinkt das allgemein eingegangene Risiko auf Touren von « erheblich » zu « mässig » nicht wesentlich. Mit dem vorherrschenden Begehungsverhalten von Tourenfahrern in der Praxis ist das Risiko eines Personenschadens bei den verschiedenen Gefahrenstufen nicht wesentlich anders.

Variantenunfälle Am meisten Lawinenunfälle bei Varianten ereignen sich bei Stufe « erheblich », mehr als doppelt so viele wie bei « mässig ». Auch die meisten Todesopfer sind bei « erheblich » zu beklagen. Das Risiko eines Personenschadens steigt bei Variantenabfahrten exponentiell mit der Gefahrenstufe an. Ohne Berücksichtigung von Begehungszahlen und mit dem in der Praxis vorherrschenden Verhalten sind Variantenabfahrten bei « erheblich » vier Mal so riskant wie bei « mässig ». Dies kann folgende Gründe haben: Das vorherrschende Verhalten bei Variantenabfahrten ist offensiver als bei Touren ( vor allem bei hohen Gefahrenstufen ). Viele Hänge werden bereits bei « erheblich » befahren, sodass dann an darauf folgenden Tagen mit häufig mässiger Lawinengefahr bereits weniger unverspurte Hänge vorhanden sind und die Lawinenauslösewahrscheinlichkeit schon deshalb sinkt. Zudem ist die Zahl der unerfahrenen Personen im Varian-tengelände grösser als bei Tourenfahrern.

Fazit Die meisten tödlichen Lawinenunfälle sind Skifahrerlawinen, von denen sich 45% bei der Lawinengefahrenstufe « erheblich », 30% bei « mässig » ereignen. Die meisten der Variantenunfälle geschehen bei « erheblich », die Tourenunfälle sind bei « mässig » häufiger. Mit dem zurzeit vorherrschenden Verhalten von Wintersportlern haben Skifahrerlawinen bei allen Lawinengefahrenstufen ähnliches Ausmass und ähnliche Gelände-charakteristik ( Länge, Breite, Anrissmächtigkeit, Neigung und Geländeform ). Der typische Lawinenhang ist unabhängig der Gefahrenstufe 35 bis 40° steil, nordexponiert und muldenförmig oder befindet sich in Kammnähe. Die Auslösewahrscheinlichkeit und die Verbreitung der Gefahrenstellen sind bei den verschiedenen Bulletinstufen unter-schiedlich. a

Stephan Harvey, SLF

Literatur zu Unfallauswertungen

Schweizer J.: Was ist eine Skifahrerlawine? ALPEN 1/2000 Signorell C.: Skifahrerlawinenunfälle in den Schweizer Alpen – Eine Auswertung der letzten 30 Jahre. Diplomarbeit, Geographisches Institut Universität Basel und SLF, 2001.

Tschirky F., Brabec B., Kern M.: Lawinenunfälle in den Schweizer Alpen – Eine statistische Zusammenstellung mit den Schwerpunkten Verschüttung, Rettungsmethoden und Rettungsgeräte. Sonderdruck: Durch Lawinen verursachte Unfälle im Gebiet der Schweizer Alpen, Eidg. Institut für Schnee- und Lawinenforschung ( SLF ) Davos, 2000.

Fig. 4: Prozentuale Häufigkeit der Hangneigung pro Gefahrenstufe ( Dichtekurve ). Die steilste Hangpartie der La-winenanrissfläche ist bei allen Gefahrenstufen etwa gleich. Skifahrerlawinen ereignen sich mehr oder weniger an ähnlichen Geländestellen ( Form, Neigung usw. ), unabhängig der Gefahrenstufe. Die Auslösewahrscheinlichkeit und die Verbreitung der Gefahrenstellen ist jedoch bei den verschiedenen Bulle-tinstufen unterschiedlich. Fig. 5: Anzahl erfasste Personen auf Touren und Variantenabfahrten pro Gefahrenstufe. Die meisten Tourenfahrer werden bei « mässig », die meisten Variantenfahrer bei « erheblich » erfasst. Total wurden 1100 Personen in Skifahrerlawinen erfasst. Fig. 6: Vergleich des Risiko-Indexes eines Personenschadens auf Touren und bei Variantenabfahrten. Während das Risiko eines Personenschadens für Variantenabfahrten bei « erheblich » vier Mal grösser ist als bei « mässig », ist bei Touren der Unterschied unbedeutend. ( « Gering » bei Touren = 1, wurde als Basis gesetzt ). Der Risiko-Index steigt vor allem bei Variantenabfahrten mit der Gefahrenstufe an. Das heisst, dass mit dem zurzeit vorherrschenden Begehungsverhalten Variantenfahrer bei « erheblich » und « gross » ein höheres Risiko eingehen als bei « mässig » und « gering ». Oder anders gesagt: Variantenabfahrten sind bei « gering » und « mässig » sicherer als Touren.

Grösse von Skifahrerlawinen, aufgeteilt in Touren und Varianten für jede Gefahrenstufe

Gesamtlänge [m] Breite [m] Anrissmächtig-Mittlere Höhe keit [cm] über Meer [m] Touren Varianten Touren Varianten Touren Varianten Gering 275 110 65 45 40 50 2760 Mässig 200 200 50 50 40 55 2560 Erheblich 265 200 85 50 50 50 2435 Gross 300 220 70 50 50 50 2270 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 10 8 6 4 2 0 12 Hangneigungen von SkifahrerlawinenAn teil gering mässig gross erheblich Hangneigung ( steilste HP ) 0 50 100 150 200 250 300 350 400 450 500 gross erheblich mässig gering Anzahl erfasste Personen auf Touren und Varianten ( Skifahrerlawinen ) pro Gefah- renstufe ( Winter 1987/88 bis 1998/99 ) An za hl Gefahrenstufe Varianten Touren 0 1 2 3 4 5 6 gross erheblich mässig gering Risiko-Index ( Anzahl erfasste Personen/Häufigkeit Gefahrenstufe ) Ri siko- In de x ( G er ing bei To ur en =1 al s Ba si s ) Gefahrenstufe 1 O.1 2.5 O.7 3 2.5 3.9 4.9 Varianten Touren DIE ALPEN 4/2002

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