Über Stock und Stöcke
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Über Stock und Stöcke

Wenn ich mit meinem Vater in einer Clubhütte übernachtete, schämte ich mich oft ein bisschen wegen unserer Ausrüstung. Im Vorraum standen die Eispickel der richtigen Bergsteiger, wir dagegen besassen nur Spazierstöcke mit Eisenspitzen. Obwohl wir über Gletscher wanderten, fühlte ich mich minderwertig gegenüber den zünftigen Hochtouristen mit ihren Pickeln und Steigeisen.

Heute tragen Wanderer und Wanderinnen ihre Stöcke aussen auf den Rucksack geschnallt, so selbstbewusst wie Alpinisten ihr Eisgerät. Die Ausrüstung sendet ein deutliches Signal: Aus Alpenbummlern sind Sportler geworden. Wandern heisst jetzt Trekking. Der Wanderstock ist ein Hightechprodukt, einer Eisaxt technologisch ebenbürtig. Was soll man über einen Spazierstock erzählen, wenn man nicht gerade ein Robert Walser ist? Über Trekkingstöcke jedoch kann man abendfüllend diskutieren: von der ergonomischen Form der Griffe, dem Verschlusssystem des Teleskopschaftes bis zur auswechselbaren Carbidspitze. Nebst dem Technischen scheiden sich die Geister auch an Fragen wie: Sind Wanderstöcke knieschonend oder nur Placebo? Vermindern sie Unfälle, oder erhöhen sie das Risiko von Stolpern, Abstürzen und Handverletzungen? Zwischen Wanderstockfreunden und -skeptikern öffnen sich dabei Abgründe. Ein SAC-Tourenleiter schloss eine sportliche Bekannte von einer Clubtour aus, weil sie ohne Stöcke mitwandern wollte.

Dass Wandern in jüngster Zeit zum Megatrend geworden ist, ist sicher auch der massenhaften Verbreitung von Wanderstöcken zu verdanken. Prominenteste Botschafterin der postmodernen Wanderbewegung ist die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel – im Urlaub im Südtirol stets mit Stöcken unterwegs.

Ich bin kein Wanderstockgegner, wie gewisse Zungen behaupten, ich besitze Wanderstöcke. Benutze sie aber selten, und dann meist nur einen. Beim Auf- und Absteigen halte ich meinen Körper gern stockfrei in Balance und habe die Hände frei. Oft begegne ich Wanderern, die über ihre Stöcke gebückt wie Vierfüssler den Berg hochstaken, als habe sich der Mensch nicht in prähistorischer Zeit für den aufrechten Gang entschieden. «Leider wissen nur Wenige, wann der Stockeinsatz sinnvoll ist», schreibt ein Südtiroler Bergretter. Angela Merkel wird es wissen, sie ist offenbar noch nie gestolpert – jedenfalls nicht über ihre Wanderstöcke.

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