Unterirdisches Wetter in den himmlischen Bergen
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Unterirdisches Wetter in den himmlischen Bergen SAC-Expeditionsteam kletterte im Tien-Shan-Gebirge

Ein mit Knochen übersätes Basecamp, heftige Gewitter, schwerste Spurarbeit am Berg, Gipfelerfolge und ein vorzeitiges Ende. Ein Mitglied des SAC-Expedi­tions­teams berichtet von der bewegten Reise nach China.

Die Erstbesteigung kommt früher als geplant. Nach der Ankunft im Basecamp wollten wir eigentlich nur Material auf eine Höhe von 4200 Meter bringen, dort übernachten und am folgenden Tag wieder ins Basecamp absteigen. Wir erfahren jedoch von Meteotest, dass es nur noch zwei Tage lang schön ist, deshalb entscheiden wir uns für einen Gipfelversuch. Am nächsten Morgen steigen wir durch ein 500 Meter langes Couloir auf 4800 Meter hoch und deponieren dort unser Biwakmaterial. Anschliessend kämpfen wir uns durch knietiefen Schnee bis auf den Gipfelgrat. Dieser ist so verwächtet, dass wir ihn in der Nordostwand umgehen müssen. Die letzten 100 Höhenmeter vor dem Gipfel sind sehr mühsam: Schneematsch auf Blank­eis. Die Nullgradgrenze ist auf über 5000 Meter gestiegen, und die Sonne brennt auf unsere Köpfe nieder. Am Mittag des 26. Juli stehen wir endlich auf dem bis dato namenlosen Gipfel (5418 m), wir nennen ihn «Deadman’s Peak». Es ist ein spezielles Gefühl, an einem Ort zu sein, an dem zuvor noch keine Menschenseele gewesen ist.

Schlafen im Schlachtfeld

Zehn Tage vorher waren wir in Ürümqi, der Hauptstadt des autonomen uigurischen Gebietes Xinjiang in China, gelandet. Wir, das sind die fünf Mitglieder des Teams, der Leadguide, ein Arzt und ein Team des Schweizer Fernsehens. Per Bus gelangten wir in drei Tagen nach Hotsprings. Die letzte Etappe bis ins Basecamp legten wir mit 25 Pferden zurück. Das Basecamp (ca. 3500 m) liegt hinter einem Pass, eingebettet in grünen Wiesen. Unterhalb befindet sich der 30 Kilometer lange Muzhart-Gletscher und vis-à-vis das imposante, bis zu 6627 Meter hohe Xuelian-Feng-­Massiv. In den letzten Jahren haben nur eine Handvoll Expeditionen in diesem Gebiet stattgefunden. Es gibt noch unbestiegene Gipfel und unzählige Möglichkeiten für Erstbegehungen. Nur: Dieses Bergsteigerparadies war 1945 Schauplatz einer Schlacht zwischen chinesischen Regierungstruppen und den Uiguren. Die Folgen sind heute noch zu sehen: Überall liegen Knochen, Pferdeschädel und sogar menschliche Gebeine. Unser Koch erzählt uns, dass er ein paar Jahre zuvor drei Tage lang Knochen gesammelt und sie an­schlies­send beerdigt hat. Man beginnt, sich vorzustellen, wie das Schlachtfeld wohl ausgesehen hat, und mit etwas Fantasie lassen sich plötzlich noch Reste von Schützengräben erkennen. Die schauerlichen Überreste des Gefechts haben uns dazu bewogen, unseren ersten Gipfel «Deadman’s Peak» zu nennen.

Nach dem ersten Gipfelerfolg müssen wir ein paar Tage ausruhen, um uns optimal zu akklimatisieren. Leider, denn das Wetter ist gut. Sobald wir erholt sind, verabschiedet sich die Sonne. Im Regen beginnen wir mit den ersten Mate­rial­trans­por­ten in das vorgeschobene Basislager in einem Gletscherkessel auf 3800 Metern. Von hier aus haben wir diverse Möglichkeiten, um unbestiegene Gipfel oder neue Routen zu klettern.

Lesen, jassen, Kaffee trinken

Die folgenden Schlechtwettertage verbringen wir mit Lesen, Jassen, Kaffeetrinken usw. Wir sind alle erstaunt, wie gut das Team auf so engem Raum funktioniert. Als wir endlich wieder etwas unternehmen können, beginnen Sebastian Briw, Roman von Schulthess und Sébastien Monney einen sicheren Weg durch eine Sérac-Zone auf ein Plateau zu suchen, von dem aus man zwei unbestiegene Sechstausender angreifen könnte. Lukas Hinterberger, Leadguide Denis Burdet und ich schleppen zur gleichen Zeit noch weiteres Material ins vorgeschobene Basislager. Bei einer Diskus­sions­runde am Abend entscheiden wir uns, den Plan vom Plateau zu verwerfen, die Gefahren sind einfach zu gross. Am folgenden Morgen mache ich mich mit Lukas und Denis auf, um den Red Ball Peak (4925 m) zu besteigen. Durch ein kleines Seitental erreichen wir die 500 Meter hohe Firnwand, die direkt auf den Gipfelgrat führt. Ohne nennenswerte Schwierigkeiten erreichen wir den Gipfel. Sebastian, Roman und Sébastien erklimmen auf einer Erkundungstour einen weiteren unbestiegenen Gipfel (4490 m).

Hüfttief spuren

Endlich erhalten wir per Satellitentelefon einen positiven Wetterbericht von Meteotest: Ein viertägiges Schönwetterfenster kündigt sich an. Da die Nullgradgrenze sehr hoch ist und es immer noch viel Neuschnee hat, entscheide ich mich, mit Lukas nicht wie geplant die 2500 Meter hohe unbestiegene Ostwand des Xuelian West zu versuchen, sondern den Westgrat. Roman, Sebastian, Sébastien und Denis wollen den bereits begangenen Ostgrat auf den Nordostgipfel klettern. Allerdings kann Roman schliesslich wegen einer Beinverletzung nicht mittun.

Die Verhältnisse sind nicht gerade optimal. Zwischen knöchel- und hüfttief muss gespurt werden. Lukas und ich steigen auf 5200 Meter auf, wo wir die Nacht verbringen. Sebastian, Sébastien und Denis gehen auf 5600 Meter und verbringen eine ausgesetzte Nacht auf dem Grat. Die Akklimatisation ist aufgrund des schlechten Wetters etwas mager ausgefallen, und alle haben zu kämpfen. Ich leide an akuter Bergkrankheit. Lukas und ich entscheiden uns, auf 5700 Metern die Nacht zu verbringen und anschliessend abzusteigen. Die anderen drei steigen auf den Vorgipfel, richten dort ein Camp ein und gehen dann weiter bis auf den Gipfel des 6518 Meter hohen Xuelian Nordost. Beim schönsten Sonnenuntergang können sie sich den wohlverdienten Gipfelhandschlag geben. Die Nacht verbringen sie auf dem Vorgipfel und steigen am folgenden Morgen ins Basecamp ab.

Drei Meter Neuschnee

Die nächsten zwei Tage verbringen wir an der Sonne, erholen uns und tanken Energie für die nächste Tour. Dann meldet Meteotest für die kommenden Tage drei Meter Neuschnee. Wir wollen es nicht glauben, doch einen Tag später bestätigen die Meteorologen die schlechte Nachricht. Jetzt, wo wir endlich akklimatisiert gewesen wären und alle noch so motiviert sind! An unseren eigentlichen Zielen konnten wir uns gar nicht versuchen. Es fällt uns schwer, das Basislager zu verlassen, in dem wir die vergangenen 22 Tage verbracht haben. Aber wir haben keine Wahl: Unsere Expedition ist schlagartig vorbei. Wir organisieren so schnell wie möglich die Pferde und reisen zurück ins Tal nach Hotsprings. Die verbleibenden neun Tage in China verbringen wir in ­einem Rissklettergebiet nördlich von Ürümqi.

Trotz dem vielen Regen war die Expedition erfolg- und vor allem lehrreich. Wir werden unser Wissen an JO-Leiter weitergeben, aber auch als Freunde weiter zusammen in den Bergen unterwegs sein.

Tien Shan

Das Tien-Shan-Gebirge liegt im Grenzgebiet zwischen China, Kirgistan und Kasachstan. Es erstreckt sich über eine Fläche von 1 000 000 Quadratkilometern und ist damit fünfmal so gross wie die Alpen. Der Name des Gebirges bedeutet auf Chinesisch «himmlische Berge».

Lehrgang für talentierte Bergsteiger

Das Expeditionsteam des SAC ist ein Förderprogramm für junge Bergsteigerinnen und Bergsteiger. In mehreren Ausbildungsblöcken, verteilt über drei Jahre, lernen die Teilnehmenden Techniken in den verschiedenen Bergsportdisziplinen und erhalten Einblick in die Organisation, die Logistik und die Vermarktung einer Expedition.

Die Expedition ins Tien-Shan-Gebirge war der Abschluss des zweiten Ausbildungsgangs von 2013 bis 2016. Neben den fünf jungen Athleten reisten Leadguide Denis Burdet, zwei Ärzte und ein Kamerateam des Schweizer Fernsehens nach China. Das Fernsehen wird im Januar die Sendungen über die letzte Etappe in China zeigen.

Dritter Lehrgang startet: Nachwuchs gesucht

Für den dritten Lehrgang von 2017 bis 2019 sucht der SAC wieder nach motivierten Bergsteigerinnen und Bergsteigern aus den JO's. Wichtigste Voraussetzungen sind Freude am Klettern, Erfahrung im Abenteuergelände (Hochtouren, Clean Climbing usw.c.) und die Bereitschaft, im Team für ein gemeinsames Ziel zu arbeiten. Infos: www.sac-cas.ch/expedition

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