Wie das Val de Tenneverge (F) unter Schweizer Besetzung geriet. Französischschweizerische Grenzgeschichte
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Wie das Val de Tenneverge (F) unter Schweizer Besetzung geriet. Französischschweizerische Grenzgeschichte

Französisch-schweizerische Grenz-geschichte

Wie das Val de Tenneverge ( F ) unter Schweizer Besetzung geriet

Die LK 1:50 000 der Region Emosson aus dem Jahre 1878 weist eine bemerkenswerte Besonderheit auf: Der darauf eingezeichnete Grenzverlauf zwischen Frankreich und der Schweiz schlägt der Schweiz drei Quadratkilometer französisches Territorium zu. Dabei handelt es sich um einen Fehler des Ingenieurs und Geografen L' Hardy. Er bestätigte damit amtlich die friedliche Besetzung des Tals von Tenneverge durch die dort sömmern-den Schweizer Herden.

Als wir im Gebiet von Emosson hydro-geologische Untersuchungen durchführten ( siehe ALPEN 7/2005 ), haben wir uns auch in etliche kartografische und ikonografische Dokumente vertieft. Bei deren Vergleich machten wir eine überraschende Entdeckung: Die Dufourkarten von 1861 im Massstab 1:100 000 und jene von 1878 im Massstab 1:250 000 zeigen eine schweizerisch-französische Grenze, die in etwa dem heutigen Verlauf entspricht. Anders aber die Regio-nalkarte 1:50 000 aus dem Jahr 1878: 1 Diese vom Bundesamt für Landestopographie ( swisstopo ) in Bern herausgegebene Karte vereinnahmte nebenbei einige Quadratkilometer französisches Territorium. Die Geschichte um die « Besetzung » ist ein gutes Beispiel dafür, wie 1 Gemeint ist derjenige Abschnitt, der die Blätter 525 Finhaut, 525 bis Martigny, 526 Col de Balme, 529 Orsière und 523 Gd St Bernard umfasst.

Der See von Emosson Luftbild vom Lac d' Emosson, links davon das Tal von Fer à Cheval; dazwischen liegen das Tal und der Pass von Tenneverge, unten der Speichersee von Vieux Emosson.

Foto: Jean Sesiano Foto: Institut géografique national français Lac du Vieux Emosson Col de Tenneverge Lac d' Emosson umständlich und unsicher die Herstellung von Karten in der Zeit der noch jungen Nationalstaaten war.

Auf den Spuren von L' Hardy

Die Schweizer Regierung beauftragte Guillaume-Henri Dufour, eine Landeskarte im Massstab 1:100 000 zu erstellen. Die Erhebungen dafür erfolgten ab 1833 in der Ebene im Massstab 1:25 000 und 1:50 000 in den Bergen. Mit der Vermessung der Gegend um Emosson war M. H. L' Hardy als topogra-fischer Ingenieur beauftragt. Von Finhaut aus, einem Dorf am Talrand unterhalb von Emosson, hat er sich vermutlich in den beiden aus knapp 30 Alphütten bestehenden Dörfern Emosson und Barberine nach dem Grenzverlauf zwischen dem Wallis und der französischen Haute Savoie erkundigt. Die Hirten der Gegend haben ihm dabei eine Grenzlinie beschrieben, die hier über einen Kamm verläuft. Der Kamm trennt zwei direkt von Nord nach Süd ausgerichtete Täler. Das Barberinetal auf der Schweizer Seite, in dem sich derzeit der Stausee von Emosson befindet, liegt um fast 1000 Meter höher als das benachbarte Tal Fer à Cheval. Dieses auf der französischen Seite des Kamms liegende Tal ist ein tiefes Gletschertrogtal, durch das auf etwa 1000 Meter Höhe die Giffre fliesst, ein Zufluss der Arve.

Irrtum durch Gewohnheit

Das französische Vallon de Tenneverge, ein kleines Seitental zwischen den beiden grossen Tälern, ist ein Almgebiet. Früher verband ein Pfad die Hütten nördlich von Barberine mit dem Tennevergepass. 2 Der Kontrast zwischen den beiden Tälern Barberine und Tenneverge ist beeindruckend: Barberine ist eine steinige Welt, dominiert von Schieferplatten, die zuweilen fast überhängende Felswände bilden. Verlässt man das Tal über den Tennevergepass, gelangt man in eine Art grünes Shangri-La 3, das nur hie und da von Felsen umgeben ist. Auf der rechten Talseite ragt der fast 3000 Meter hohe Pic de Tenneverge mit seinem langen Südwestgrat empor und auf der linken Talseite eine Wand des Grenzkammes der Pointe de la Finive. Ganz unten im Tal von Tenneverge erkennt man eine breite Öffnung in Richtung Fer à Cheval und Haute Savoie. Doch dieser Zugang aus Frankreich ist 2 Heute 2497 m, Grenzmarkierung 17; auf der Karte von 1878 noch auf 2484 m 3 Shangri-La heisst ein Ort, den James Hilton in seinem Roman « Lost Horizon » beschreibt. Es ist ein abgelegener, mystischer Ort im Himalaya, ein Ort des Glücks.

Ausschnitt aus der LK 1:50 000 Martigny, Blatt 272, mit dem Mont Ruan ( im Norden ), dem Pic de Tenneverge, dem Col de Tenneverge, der Pointe de la Finive und dem heutigen Grenzverlauf. Entsprechender Ausschnitt aus der Karte 1:50 000 des Ingenieurs und Geografen L' Hardy von 1878. Mit Gelb eingezeich- Landeskar te 1:50 000 von 1878, section 1, Bl. XX II. Aufnahme von M. L' Har dy net das Vallon de Tenneverge bzw. der in seiner Karte der Schweiz zugeschlagene Gebietsteil jenseits der heutigen Grenze Auf der Tour des Ruans ( vgl. S. 32 ff. ) erhält man somit auch einen Einblick in dieses grenz-geschichtlich interessante Gebiet.

Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo ( BA 071433 ).

nicht leicht, das Gelände ist sehr steil und brüchig. Auch der Weg vom Pas Noir bis Croix Moccand und von der Rigole ist – jedenfalls für Schafe und Rinder – nicht begehbar. Schon seit Menschengedenken haben deshalb Schweizer und nicht französische Tiere den Sommer im Tal von Tenneverge verbracht. Man kann sich also leicht vorstellen, dass die Hirten dem Topografen L' Hardy eine Grenze gezeigt haben, die am Rande jenes Bereichs verläuft, den sie immer aufgesucht haben, und im vorliegenden Fall das ganze Tal von Tenneverge umfasste.

Die gewagte Übernahme eines imaginären Wegs

Betrachtet man L' Hardys 1:50 000er-Karte von 1878, stellt man fest, dass die Grenzlinie beim Punkt 2675 ( aktuell 2711 m ) ihren Verlauf ändert und der Kammlinie genau in westlicher Richtung folgt. Und da stösst sie, oh Wunder, auf einen völlig imaginären Weg, der vom Fer à Cheval herkommt. Hätte es ihn je gegeben, hätten die französischen Hirten ihre Herden problemlos ins Tal von Tenneverge führen können. Von diesem Punkt 1367 zieht die Grenze zum Pic de Tenneverge hoch, der nebenbei auch annektiert wird, und stösst erst dann auf den eigentlichen Grenzkamm. Vergleicht man die historische Karte von 1878 mit der heutigen, stellt man zudem fest, dass das Tal eine erhebliche Kürzung erfahren hatte. Während heute der Tennevergepass 2,4 km vom Felsabbruch am Talende Richtung Fer à Cheval entfernt ist, mass diese Distanz bei L' Hardy nur 1,4 km.

Es scheint, dass unser Topograf die Kotisationspunkte des Grenzmassiv- abschnitts und des Tales, die dann 1888 auf der französischen Generalstabskarte 1:50 000 Blatt Annecy-Ost Nr. 160 erschienen, vorgängig ausfindig gemacht hatte. Dufour hatte seine Mitarbeiter angewiesen, an den Grenzpunkten den fremden Kotisationsangaben zu vertrauen. Auf dieser Karte sind der Weg vom Pas Noir und von der Passage von Rigole durch eine gerade durchgehende Linie eingezeichnet. L' Hardy hat diesen Verlauf der Grenzlinie also, ohne mit der Wimper zu zucken, übernommen, ihn aber 600 Meter tiefer als den traditionellen Weg gelegt. Zweifellos hat er durch die Hirten auch von dem höher gelegenen und schwierigeren Übergang erfahren, da er ihn auf der Karte vermerkt hat. In der Tat haben die Hirten diesen Übergang, den heutigen Normalweg, schon von jeher genutzt, um auf legale oder illegale Weise Handel mit den Savoyarden zu betreiben.

Ende gut, alles gut

Um diese wandernde Grenze ein für alle Mal festzulegen, stehen seit 1891 auf dem Pass und der Kammhöhe drei Grenzsteine aus Granit. Alle Ausgaben der Schweizer Karten nach 1878 wurden korrigiert, der Pic de Tenneverge und sein Tal kehrten so wieder in den Schoss Frankreichs zurück – die Ehre war gerettet! War etwa Paris verantwortlich für diese Korrektur? Jedenfalls sind zum Glück nicht alle Schweizer Topografen beim Einzeichnen des Grenzverlaufes so wagemutig wie L' Hardy. 4 a Jean Sesiano, Genf ( ü ) 4 Quelle: « Unsere Landeskarten », französische Ausgabe der ALPEN 1/1979 Steinböcke auf der französischen Seite des Col de Tenneverge Das Vallon de Tenneverge über dem Fer à Cheval Fotos: Jean Sesiano Ankunft am Col de Tenneverge nach dem Aufstieg von der Schweizer Seite. Im Hintergrund der Südwestgrat des Pic de Tenneverge Der kleine See im Vallon de Tenneverge Herbstliche Stimmung beim Blick ins Tal von Fer à Cheval auf 850 Metern Höhe.. " " .Von links nach rechts: Pic de Tenneverge ( 2985 m ), dessen Pass und Tal, dann die Pointe de la Finive ( 2838 m )

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