Das Extremjahr 2022 | Schweizer Alpen-Club SAC
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Das Extremjahr 2022 Kryosphärenbericht

Das Jahr 2021/22 geht in die Geschichte der Kryosphärenbeobachtung ein: Sehr wenig Schnee während des Winters, Rekordschmelze der Gletscher, und Maximaltemperaturen in den oberen Schichten des Permafrosts.

Witterung und Schnee

Das Einschneien in den Schweizer Alpen erfolgte im Winter 2021/22 Anfang November, was ungefähr der Norm entspricht. Die Schneedecke blieb oberhalb von 1000 Meter am Alpennordhang bis Mitte März erhalten. Im Mittelland gab es verbreitet nur sehr wenig Schnee, an den beiden MeteoSchweiz Stationen Basel und Luzern ist es sogar erst das zweite Mal nach dem Winter 2019/20, dass überhaupt kein Schnee beobachtet werden konnte. Besonders schneearm präsentierte sich die Situation am Alpensüdhang, insbesondere im Tessin und im Simplongebiet. So wurde an mehreren Tessiner Stationen seit Messbeginn 1959 noch nie eine so geringe mittlere Schneehöhe gemessen. Über die ganze Winterperiode von November bis April betrachtet, waren die mittleren Schneehöhen verbreitet stark unterdurchschnittlich. Nur am Alpennordhang oberhalb 1200 Meter und im Engadin lagen sie bei 70 bis 100% der Normwerte (1991–2020).

Trockener und extrem warmer Sommer

Aufgrund stark überdurchschnittlicher Temperaturen im Mai und Juni verschwand die Schneedecke in allen Höhenstufen rund einen Monat früher als üblich. Die über 80-jährige Messreihe auf dem Weissfluhjoch (GR, 2540 m) zeigte mit dem 6. Juni das zweitfrüheste je gemessene Ausaperungsdatum. Nur im Jahr 1947 erfolgte die Ausaperung noch drei Tage früher. Auch damals wurden mehrere starke Saharastaubereignisse im Verlauf des Winters beobachtet, die zum beschleunigten Abschmelzen der Schneedecke beigetragen haben. Die Sommermonate waren rekordmässig heiss und sonnig, aber auch extrem trocken. Bis Mitte September gab es im Hochgebirge nur wenige Zentimeter Neuschnee.

Gletscher

Die geringe Schneemenge im Frühling 2022 war eine schlechte Schutzschicht für die Gletscher. Damit konnten die hohen Temperaturen im Sommer das Eis sehr früh schmelzen. Schon im Frühsommer braute sich so der «perfekte Sturm» zusammen. Noch nie dagewesene Abschmelzraten waren das Resultat. Die Rekorde aus dem Hitzesommer 2003 wurden pulverisiert. Besonders einschneidend war der Verlust für kleine Gletscher: drei Messreihen mussten aufgegeben werden, da das Eis fast ganz verschwand. Insgesamt hat das Gletschereisvolumen im Jahr 2022 um 3,3 Kubikkilometer abgenommen. Das entspricht einem Verlust von mehr als 6% des verbleibenden Eises. Der Wert ist besonders eindrücklich, wenn man bedenkt, dass bislang bereits Jahre mit mehr als 2% Eisverlust als «extrem» bezeichnet wurden.

Massiver Gletscherrückgang

Der Eisverlust 2021/22 war enorm: Im Engadin und im südlichen Wallis schmolz selbst auf einer Höhe von 3000 Meter eine Eisschicht von 4 bis 6 Metern Dicke ab. Das ist teils mehr als doppelt so viel wie das bisherige Maximum. Auch am Jungfraujoch, wo in früheren Hitzejahren immer etwas Schnee den Sommer überdauern konnte, wurde ein Verlust gemessen. Dazu wurde an den Gletscherzungen ein weiterer massiver Rückgang verzeichnet. Die vier Gletscher Bas Glacier d’Arolla (VS), Glacier de Moiry (VS), Wallenburfirn (UR) und Ghiacciaio del Cavagnoli (TI) zeigten im Sommer 2022 einen regelrechten Zerfall. Das Ende der zusammenhängenden Eismasse verlagerte sich jeweils um mehrere hundert Meter bergwärts. Vielerorts wurde zudem das Auftauchen von neuen Felsinseln aus dem dünnen Eis beobachtet – ein Anzeichen für die Auflösung des Eispanzers.

Permafrost

Die frühe Ausaperung in den hohen Lagen und der heisse Sommer sind auch in den obersten Metern im Permafrost deutlich messbar. Die Jahresmittel der Oberflächentemperatur sind im Vergleich zum eher kühlen Vorjahr 2021 vielerorts über 1°C angestiegen, an vielen Standorten auch über die bisherige Rekordmarke aus dem Jahr 2003. Die Auftauschicht – die oberste Schicht über dem Permafrost, die jeweils im Sommer auftaut – war im Jahr 2022 an zwei Dritteln der Bohrlochstandorte so mächtig wie noch nie seit Messbeginn. Zum Beispiel am Stockhorn (VS) taute der Untergrund bis in eine Tiefe von 5,2 m auf. Auf dem Schilthorn (BE) wurde eine neue absolute Rekordmarke der Auftauschicht von über 13 m erreicht. An Standorten mit einem hohen Eisgehalt im Untergrund (z.B. Flüelapass, GR) änderte zwar die Auftauschicht nur wenig, doch die Temperaturen waren in den obersten Metern auch hier aussergewöhnlich hoch.

In 10 Meter Tiefe ist es noch kühler

Die Änderungen an der Oberfläche sind in der Tiefe erst mit zunehmender Verzögerung bemerkbar. So dauert es etwa ein halbes Jahr, bis sie eine Tiefe von 10 Meter erreichen. Hier sind die Permafrost-Temperaturen von 2022 noch vom kühleren Vorjahr beeinflusst, und sind daher sogar leicht zurückgegangen. Diese Abkühlung erklärt auch den schweizweiten Rückgang der Blockgletscher-Geschwindigkeiten um rund 30%. Unterhalb etwa 15 Meter reagieren die Temperaturen nicht mehr auf jahreszeitliche Schwankungen, sondern auf langfristige Klimaveränderungen. Hier setzte sich der Erwärmungstrend fort und die Temperaturen waren vielerorts so hoch wie noch nie seit Messbeginn.

Blockgletscher kriechen immer schneller

Auch wenn Blockgletscher im Schweizer Hochgebirge weit verbreitet sind, ist dieses typische Permafrost-Phänomen in der Landschaft weniger bekannt als die Gletscher. Auf den ersten Blick mögen sie aussehen wie grobblockige Schutthalden. Bei genauerem Hinschauen ist jedoch die charakteristische Zungenform mit der steilen Front erkennbar, und oft auch Stauchwülste quer zur Fliessrichtung. Blockgletscher sind vereinfacht gesagt eisübersättigte Schutthalden, die mit einer Geschwindigkeit von einigen Dezimetern bis Metern pro Jahr talwärts kriechen. Die Erforschung von Permafrost im Gebirge begann vor gut 50 Jahren mit diesem Phänomen. Die längste kontinuierliche Temperaturmessung im Gebirgs-Permafrost wird seit 1987 im Blockgletscher Murtèl-Corvatsch (GR) erhoben. Die Bedeutung dieser Forschungstradition für das Verständnis der Erdgeschichte wurde 2022 mit der Aufnahme der Engadiner Blockgletscher in die Liste der 100 geologischen Weltkulturerbestätten der UNESCO gewürdigt. Die Kriechgeschwindigkeit der Blockgletscher wird im Rahmen von PERMOS an 18 Standorten jährlich mit GPS-Messungen beobachtet. Es hat sich gezeigt, dass die Änderungen der Blockgletschergeschwindigkeit generell der Permafrost-Temperatur in etwa 10 bis 15 Meter Tiefe folgt, und dass die Blockgletscher seit den 1950er-Jahren immer schneller kriechen. Dies wurde auch in anderen Gebirgsregionen beobachtet.

Kryosphärenmessnetze Schweiz

Die Beobachtung der Kryosphäre umfasst Schnee, Gletscher und Permafrost. Die Kommission für Kryosphärenbeobachtung koordiniert die Beobachtungen und die Messnetze. Die Schnee-, Gletscher- und Permafrostmessungen werden von verschiedenen Bundesämtern, kantonalen Forstämtern, Forschungsinstitutionen des ETH Bereichs und den Universitäten und Hochschulen getragen. Sie beinhalten rund 150 Schnee-Messstationen (www.slf.ch, www.meteoschweiz.ch). Messungen an etwa 120 Gletschern werden im Rahmen des Schweizer Gletschermessnetzes GLAMOS durchgeführt. Das Schweizer Permafrostmessnetz PERMOS umfasst rund 30 Standorte, an denen Permafrost-Temperaturen, Änderungen im Eisgehalt und/oder Blockgletschergeschwindigkeiten gemessen werden.

Autor / Autorin

Matthias Huss, Christoph Marty, Andreas Bauder, Jeannette Nötzli, Cécile Pellet

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