150 Jahre Piz «Coaz»
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150 Jahre Piz «Coaz» Zur Erstbesteigung des Piz Bernina

Am 13. September 1850 erreichten der 28-jährige Churer Topograf Johann Coaz und seine Domleschger Gehilfen, die Brüder Jon und Lorenz Ragut Tscharner, den höchsten Gipfel des schweizerischen Engadins und des italienischen Veitlins. Weil der heute 4048,6 m vermessene Kulminationspunkt des Kantons Graubünden noch keinen Namen hatte, nannte Coaz ihn Piz Bernina. Er ist seit der Degradierung des benachbarten Piz Zupò der einzige Viertausender der gesamten Ostalpen.

«Um 6.00 abends standen wir auf der ersehnten erhabenen Spitze auf reinem von keinem menschlichem Wesen betretenen Boden, auf dem höchsten Punkt des Kantons 4052 m ü. M. Ernste Gefühle ergriffen uns. Das gierige Auge schweifte über die Erde bis an den weiten Horizont und tausend und tausend Bergspitzen lagerten sich um uns, felsig aus glänzenden Gletschernmeeren emportauchend. Erstaunt und beklemmt sahen wir über diese grossartige Gebirgswelt hin.» Erstbesteiger Johann Wilhelm Fortunat Coaz (1822-1918) schrieb diesen Text gestochen scharf in sein Tagebuch.

Im Jahresbericht der Naturforschenden Gesellschaft Craubündens von 1856 erschien der Tagebuchein-trag von Johann Coaz in leicht veränderter Form unter dem Titel «Topographischer Überblick über den Bernina-Gebirgsstock und Beschreibung der Ersteigung seiner höchsten Spitze». Konnte 1856 bereits vom Goldenen Zeitalter des Alpinismus gesprochen werden, waren sechs Jahre zuvor erst neun Viertausender der Alpen erstiegen worden. Aber dann kamen Coaz, als Topograf in eidgenössischem Auftrag unterwegs, und seine beiden Mitarbeiter Jon und Lorenz Ragut Tscharner, sahen und siegten. « Den 13.9.1850, etwas nach 6.00 verliess ich, begleitet von meinen beiden erprobten Führer, mit dem Messapparat und den nötigen Instrumenten zur Ersteigung versehen das Bernina Wirtshaus (2050 m ü. M.). Der Morgen war kalt, das Thermometer zeigte -2 Grad R. Der Horizont verkündete einen schönen Tag, kleine Wölkchen wurden leicht vom Nordwind bewegt », notierte Coaz in sein Tagebuch. Die drei Pioniere bestiegen den Piz Bernina direkt vom Tal aus: 20 Stunden mit insgesamt 2300 Höhenmetern und 24 Kilometern. Sie irrten durch das heute unpassierbare Labyrinth, kletterten über den Ostgrat empor und hatten beim nächtlichen Abstieg durch den wild zerschrundeten Morteratschgletscher sehr viel Glück.

Dass bei der Erstbesteigung des Piz Bernina nicht nur berufliche Gründe mitspielten, zeigt die Bemerkung in seinem 1917 veröffentlichten Text « Aus dem Leben eines schweizerischen Topographen von 1844 bis 1851 »: «Während meiner Aufnahme des grossartigen Gletschermassivs des Bernina behielt ich die höchste Erhebung desselben immer im Auge und sagte mir, die Berninaspitze, als die hervorragendste im gesamten graubündnerischen Gebirge, muss durch ein Landeskind und womöglich durch einen Oberengadiner zuerst bewältigt werden.» Der Wunsch ging fast ganz in Erfüllung: Alle drei Erstbesteiger des Piz Bernina stammten aus Graubünden, der Ingenieur aus Chur, die Vermessungsgehilfen aus Scheid im Domleschg. Und dass sie - wenigstens am Piz Bernina - nicht nur dem Vermessungsauftrag nachkommen wollten, beweist die Tatsache, dass sie die entsprechenden Instrumente am Fuss des Ostgrats zurückliessen und sich ganz aufs Klettern und den Gipfel konzentrierten, den sie kurz vor der Dämmerung betraten. Da wäre es zum Triangulieren ohnehin zu spät gewesen!

Der Piz Bernina war die bedeutendste der 31 Erstbesteigungen von Coaz. Unter den Coaz'schen Gipfeln finden sich weitere berühmte und beliebte Ziele: Flüela-Wisshorn (3085 m), Krone (3186 m), Piz Faschalba (3048 m), Hoch Ducan (3063 m), Piz Kesch (3417 m), Piz Üertsch (3267 m), Piz Calderas (3397 m), Tschima da Flix (3300 m), Piz Sarsura (3178 m), Piz Umbrail (3033 m), Piz Lischana (3105 m), Piz Murtèl (3433 m), Piz Corvatsch (3451 m), II Chapütschin (3386 m), Piz Misaun (3248 m) sowie Piz Tschierva (3546 m).

Von 1875 bis 1914 amtete Johann Coaz als eidgenössischer Oberforstinspektor. In dieser Zeit kümmerte er sich besonders um die Schutzwaldwirtschaft, um Lawinen- und Wildbachverbauungen, um den Jagd- und Vogelschutz, um die Fischerei sowie um die Inventarisierung der Wälder. Seine Publikationen zu den Bäumen und Lawinen der Schweiz setzten Standards.

1922 montierte die Sektion Bernina zum 10O. Geburtstag von SAC-Ehrenmitglied Coaz eine Gedenktafel zu Ehren des Bernina-Erstbesteigers an einem Felsblock bei der Boval-Hütte. 1926 wurde die Chamanna Coaz zuhinterst in der Val Roseg eingeweiht. Einen Piz Coaz hingegen sucht man auf der Landeskarte der Schweiz vergeblich. Ob das 150-Jahr-Jubiläum der Erstbesteigung des Piz Bernina Anlass bietet, in den Bündner Alpen einen Gipfel nach ihm zu benennen oder einen Gipfel umzubenennen? Er, der dies selbst nie gewollt hätte, war (zu Recht) stolz auf seine Touren und vor allem auf die Erstbesteigung des Piz Bernina. Kurz vor seinem Tod erinnerte er sich: «Am zweiten Tage nach der Ersteigung begab ich mich nach Samaden und teilte im Kasino meinen Bekannten die stattgefundene Ersteigung des Bernina mit, fand aber nur zweifelndes Lächeln, denn der Bernina gilt als unersteigbar. Erst vor der Ortschaft, da, wo gegenwärtig das Hotel Bernina steht, vermochte ich die Herren von der Ersteigung des Bernina zu überzeugen, indem ich ihnen mit dem Fernrohr die auf der Berninaspitze flatternde Fahne zeigte.»

«Zwischen den beiden grossen Tälern, die gegen den Berninapass und den Maloja ansteigen, steigt sie, Brust und Haupt frei, hinter einer anmutigen Schranke von Wald und Fels hervor, einsam und doch eine Gruppe von Gipfeln.» So schön beschrieb der Schweizer Schriftsteller Jakob Christoph Heer den Piz Bernina in seinem Reisebuch Streifzüge im Engadin von 1898. Und beantwortete dezidiert die Geschlechterfrage: « Eines fasse ich nicht, nämlich warum man so oft <der> Bernina sagt und schreibt; ich schreibe <die> Bernina, denn das ist höchstens bei den Schullehrern falsch, die den Berg nur von der Landkarte kennen; wer aber Sinn für die Poesie eines Naturbildes hat, wird mich gewähren lassen; denn sie ist weiss Gott eine Jungfrau, die Bernina. » So verwendete Heer auch in seinem Roman-titel die weibliche Form. « Der König der Bernina » erschien im September 1899 in der deutschen Familienzeit-schrift Gartenlaube und kam im Mai 1900 als Buch auf den Markt-beides mit durchschlagendem Erfolg. Dank dieses Romans konnte die Gartenlaube ihre Auflage vorübergehend um 30000 auf rund 250000 Exemplare steigern, und bis zum 2. Weltkrieg gehörte er zu den 30 meistgelesenen Büchern Deutschlands. Hätte der Bestseller « Der König des Bernina » gelautet, wäre die Bernina kaum ein Thema.

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