Eine faszinierende Wegbegleiterin: Die Arve – Königin der Alpen
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Eine faszinierende Wegbegleiterin: Die Arve – Königin der Alpen

Das Gewitter hat uns doch noch erwischt, wir sind durchnässt, und es ist kalt geworden. Zum Glück sind wir bald bei der Hütte und können nach der anstrengenden Bergtour in die warme, trockene Arvenstube eintreten. Wer liebt ihn nicht, den typischen Duft einer Arvenstube? Der charakteristische Geruch stammt vermutlich von ätherischen Ölen, aber erforscht ist dies nicht. Belegt ist hingegen die Wirkung des Duftes auf die Menschen: So konnte nachgewiesen werden, dass bei der Übernachtung in einem Arvenzimmer der Herzschlag reduziert und der Schlaf tiefer wird. Wer kein Arven-zimmer besitzt, kann sich auch ein Kopfkissen gefüllt mit duftenden Arvenholzspänen kaufen und so die positiven Eigenschaften des Arvenholzes nutzen. Da es weich und leicht zu bearbeiten ist, war Arvenholz von jeher ein idealer Werkstoff für die aufwendige Möbelschreinerei, für kunstvolle Wandtäfer und für Gebrauchsgegenstände wie Milchgeschirr. Zudem diente die Arve1 als Brennholz, weshalb die Arvenbestände weiträumig übernutzt waren. Dass wir heute dennoch Arven in vielen Gegenden der Schweizer Alpen finden, ist nicht nur einem Umdenken in der Holznutzung, sondern auch der Widerstandskraft dieser Baumart zu verdanken.

«Der Arvenwald ist die Zierde des Gebirges, dessen kahlen Schädel er mit weihrauchduftenden Locken schmückt», schreibt A.L. Schnidrig 1935 in den « ALPEN ». Die Faszination für diese charismatische Gebirgsbaumart ist bis heute ungebrochen, und dank moderner Forschung wissen wir inzwischen einiges mehr über ihre einzigartige und ausgeklügelte Lebensweise. Im Verlauf ihres oft mehrere Hundert Jahre langen Lebens muss eine Arve einiger Unbill trotzen. Sie erträgt Temperaturen von –40 bis +40°C und ist damit von den einheimischen Baumarten am besten an das raue Gebirgsklima angepasst. Darum bildet die Arve im Gebirge den obersten Waldsaum, dort wo es anderen Baumarten nicht mehr behagt. Meist wächst die Arve zusammen mit Lärchen, Alpenrosen und Heidelbeeren. Im Gegensatz zur Lärche als Pionierbaumart vermag die Arve einen Ort aber erst zu besiedeln, wenn der Boden eine ausreichende saure Rohhumusschicht aufweist. Erkennbar ist die Arve daran, dass sie in den subalpinen Wäldern die einzige Nadelbaumart mit fünf Nadeln pro Büschel ist. Einzelne Bäume erreichen eine Höhe von 25 Metern und einen Stammdurchmesser von 1,7 Metern. Das macht die Stämme wegen ihres eher spröden Holzes anfällig für Witterungseinflüsse. Wipfelbrüche durch Schnee, Blitz, Sturm oder Lawinen sind deshalb nicht selten. Doch Seitentriebe können wieder austreiben, und als Folge davon entstehen eindrückliche «Wetterbäume». Zu dieser Zähigkeit der Arve formulierte A.L. Schnidrig 1935: «Hier und dort steht noch so ein Recke treu auf seinem Posten, mit zerschmettertem Schaft, und streckt aus dem Felsengeröll wie eine Streitaxt kampfeslustig den Arm hervor oder kauert wie ein Greis, den der Sturm des Lebens auf die Krücken darniedergebeugt hat.»

Arven tragen erstmals nach ungefähr 60 Jahren Blüten, die im obersten Kronendrittel gebildet werden und so für uns Menschen von unten kaum erkennbar sind. Dafür sind die männlichen und weiblichen Blüten optimal dem Wind ausgesetzt, der für die Bestäubung sorgt. Erst im Folgejahr wachsen die weiblichen Blütenstände zu drei bis acht Zentimeter dicken und bis zehn Zentimeter langen Zapfen heran, und die Samen reifen vollständig aus. Die bis zu 150 Samen pro Zapfen wiegen je etwa ein Viertel Gramm und sind von einer harten Schale umgeben. Das weiche Innere ähnelt den Pinienkernen, ist nährstoffreich und schmackhaft. Es war früher eine willkommene, wenn auch aufwendig zu gewinnende Ergänzung des Speiseplans und ein wertvolles Exportprodukt. Dies hinterliess Spuren: Im Engadin heissen die Arvenzapfen «Betschla», wovon der Nachname Bezzola abgeleitet ist. Und ursprünglich sollen die Engadiner ihre Nusstorten mit Arvennüsschen anstelle der heute verwendeten Baumnüsse hergestellt haben.

Nicht nur für uns Menschen, auch für den Tannenhäher stellen Arvensamen eine willkommene Nahrung dar. Da Arvensamen schwer sind und keine Flughilfen haben, ist die Arve auf die Ausbreitung durch Tiere, hauptsächlich den Tannenhäher, angewiesen. Dies ist auch der Grund, weshalb man selten intakte Arvenzapfen zu Gesicht bekommt. Die allermeisten reifen Zapfen fallen nicht vom Baum, sondern werden von Tannenhähern geholt und zu sogenannten Zapfenschmieden transportiert. Das sind Baumstrünke oder Astgabeln, wo die Zapfen eingeklemmt und wie auf einer Werkbank mit dem kräftigen Schnabel bearbeitet werden. Die Samen werden entweder sofort geöffnet und gegessen oder ungeöffnet als Vorrat gelagert. Dafür geeignete Verstecke sind Baumstrünke, grössere Steine, Felsblöcke, Böschungen oder Geländekanten, und dies bis über die Waldgrenze hinaus. Solche Stellen weisen auch im Winter eine nicht zu dicke Schneedecke auf und können vom Häher leicht wiedergefunden werden. Die Verstecke werden etwa zwei Zentimeter tief in der Streuschicht angelegt. Auf seinen Transportflügen kann ein Häher mit bis zu 100 Samen in seinem Kehlsack Distanzen von 15 Kilometern und bis 600 Höhenmeter überwinden. Ein Häher legt innerhalb einer Saison ungefähr 10000 Verstecke mit je bis zu zehn Nüsschen an. Die versteckten Samen sind von bester Qualität – schlechte Samen vermag der Vogel auszusortieren. Ungefähr 80% der Verstecke findet der Tannenhäher später wieder – auch im Winter unter der Schneedecke. Die verbleibenden Verstecke sind jedoch nicht verloren, sondern für die Arve überlebenswichtig. Denn was für den Tannenhäher ideale Verstecke sind, bietet auch geeignete Bedingungen für die Keimung der Samen. So sorgt der Häher für eine natürliche Verjüngung der Arve im Gebirgswald und durch die Transportflüge auch für deren Ausbreitung an Orte, wo bisher keine Arven stehen. Auf Bergtouren kann man immer wieder solche Hähersaaten als Ansammlungen von Jungarven entdecken. Für den Fall, dass die Häher alle ihre Vorräte vertilgen, ist die Arve ebenso gerüstet: Alle vier bis fünf Jahre sorgen Mastjahre dafür, dass es so viele Zapfen gibt, dass unmöglich alle Samen aufgefressen werden können.

Bei genauem Hinsehen lässt sich feststellen, dass ausgewachsene Arven häufig mehrstämmig sind. Diese sind entweder deutlich verwachsen, oder der Stamm teilt sich an der Stammbasis. Der Grund dafür ist das Auskeimen mehrerer Samen eines Häherverstecks, die in der engen Kinderstube auf- oder gar zusammenwachsen. Klarheit darüber, wie viele Individuen einen «Baum» bilden, liefert nur eine genetische Untersuchung. Mit ähnlichen Methoden, wie sie in der Kriminalistik oder bei Vaterschaftsanalysen verwendet werden, kann anhand des genetischen Fingerabdrucks die tatsächliche Anzahl Individuen festgestellt werden. Dabei sammeln WSL-Forscher Nadeln von jedem Stamm und isolieren daraus das Erbmaterial ( DNA ). So konnten sie zeigen, dass viele der mehrstämmigen Arven auf der Glarner Rautialp tatsächlich aus mehreren Individuen bestehen.

Die Arve ist in den Alpen und den Karpaten heimisch. Während der letzten Eiszeit wurde sie jedoch aus dem Alpenraum verdrängt und hat vermutlich gerade noch am südöstlichen Alpenrand überlebt. Von dort aus besiedelte sie den Alpenraum nach und nach erneut und erreichte vor circa 7000 Jahren ihre grösste Verbreitung. Danach folgte ein Rückzug in höhere Lagen, ausgelöst durch die damalige Klimaerwärmung, aber auch weil die Arve von der später eingewanderten Fichte verdrängt wurde.Vor etwa 800 Jahren setzten grossflächige Alpweiderodungen und die Holznutzung den Arvenbeständen zu. Dabei litt nicht nur die Arve, sondern der gesamte Waldbestand. Erst mit dem Forstgesetz von 1876 wurden die Rodungen gestoppt. Aufgrund der Ressourcenknappheit im Berggebiet schränkten aber noch im 2O. Jahrhundert Waldweide und Streunutzung die Arvenverjüngung ein.

Die bewegte Geschichte hinterliess auch auf der Landkarte Spuren: Mindestens 76 Berg-, Flur- und Ortsnamen sind von « Arve » abgeleitet, z.B. Arvengarten, Arbenhorn und natürlich Arolla. Dass die Baumart früher häufiger und weiter verbreitet war, zeigt auch das Arvenbühl bei Amden, wo die namengebende Baumart nicht mehr vorkommt. Heute erstreckt sich das Schweizer Areal der Arve vom Wallis bis ins Engadin, wobei sie vorwiegend in den inneralpinen Trockentälern mit ihren extremen Temperaturschwankungen zu finden ist. Aber auch in den Randalpen sind gelegentlich Arven anzutreffen, so z.B. im Glarnerland, Sarganserland, Berner Oberland, in der Waadt oder in den Tessiner Bergen. Dabei handelt es sich aber meist um kleine, räumlich isolierte Bestände. Neue Forschungen zeigen, dass insbesondere diese Bestände einer unsicheren Zukunft entgegenblicken.

Eine genetische Untersuchung an der WSL im Jahr 2009 konnte aufzeigen, dass die Arve auf ihrem nacheiszeitlichen Weg von Osten her in die Westalpen an genetischer Vielfalt verloren hat. Die genetische Vielfalt zusätzlich reduziert hat der langfristige Bestandesrückgang in den Arvenvorkommen der Nordalpen. Experimente haben nun gezeigt, dass der Keimungs-erfolg von Samen aus kleinen Beständen gering ist, was sich langfristig als Problem für die Erhaltung solcher Vorkommen herausstellen könnte. Diese Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die langfristige Erhaltung der Arve gerade in den kleinen isolierten Beständen nicht selbstverständlich ist. Weiteres Ungemach dürfte die Klimaänderung bringen. Grössere Niederschlagsmengen bei höheren Temperaturen könnten dem Jungwuchs zusetzen, denn unter solchen Bedingungen können Schäden durch Schneeschimmel und andere Pilzkrankheiten häufiger werden. Über den Verlust, der das Verschwinden der Arve aus den Alpen bedeuten würde, schrieb bereits A.L. Schnidrig in den « ALPEN »: « Ungestillt bliebe dann des Wanderers stille Sehnsucht nach dem Wipfelrauschen des weihrauchduftenden Arvenwaldes, und zu spät käme des Naturfreundes reuige Beteuerung: es ist schade um den herrlichen Arvenwald, die Zierde unseres Gebirges. » Die Arve hat sich von der früheren Übernutzung erholt, und um ihre Bestände steht es heute weit besser als zu Zeiten von A.L. Schnidrig. Aber gesichert sind die Vorkommen der Arve besonders in den Randalpen deswegen noch nicht.

Elias Landolt, Unsere Alpenflora, SAC Verlag, Bern 2003; Jacques Gilliéron, Tiere der Alpen, SAC Verlag, Bern 2005 1 Deutsch: Arve ( CH ), Zirbe, Zirm, Zirbelkiefer ( D/A ); Französisch: Arolle; Italienisch: Pino cembro, Cirmolo: Rätoromisch: Schember; botanische Bezeichnung: Pinus cembra ( Familie: Pinaceae, Föhrengewächse ).

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