Eschenmoser und neue Experimente. 150 Jahre Hüttenbau in den Alpen – 2. Teil
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Eschenmoser und neue Experimente. 150 Jahre Hüttenbau in den Alpen – 2. Teil

150 Jahre Hüttenbau in den Alpen · 2. Teil

ESchENmoSER uND NEuE Ex PERImENtE

illustrierten Buch ausführlich dar. Die rationelle Raum-ausnützung im Innern war sein oberstes Ziel, was ihn zu eigenwilligen, schneckenförmigen und polygonalen Grundrissen inspirierte. Deren Wurzeln finden sich allerdings bereits drei Jahrzehnte früher im Werk des Glarner Architekten Hans Leuzinger. Ausschlaggebend für die Grundrissgestaltung war für Eschenmoser die menschliche Anatomie. Diese führte ihn zu einer Aufreihung von trapezförmigen Schlafplätzen, die im Schulterbereich mehr Platz gewährten. Aus den unregelmässigen Grundrissen resultierten mehrfach abgewinkelte Dachformen, die Eschenmoser aus den natürlichen Formen der Bergwelt ableitete. Seine Hütten wiesen gesamthaft geringere Volumina auf als solche mit rechtwinkligem Grundriss und etwa gleich vielen Schlafplätzen.

Bereits sein erster Neubau, die 1957 eingeweihte Domhütte im Wallis, machte ihn weitherum als Hüttenarchi-

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tekt bekannt. Die eigenwilligen Erscheinungsformen wurden, zusammen mit den traditionellen Bruchsteinmauern und der im Eingangsbereich vorhandenen Terrasse, zu unverkennbaren Merkmalen seiner Neubauten und Erweiterungen. Einige Bauten, wie die Carschinahütte, die Coazhütte oder die Sewenhütte, erhielten auch Holzfassaden zwischen massiven Steinpfeilern.

Eschenmosers Entwürfe waren geleitet vom Wunsch nach unauffälliger Integration seiner mit Bruchsteinen gemauerten Bauten in die alpine Landschaft. Seine Hütten waren innovativ und neuartig in der Form, aber zurückhaltend und integrativ in ihrer Erscheinung. Sie bildeten eine prägende und einmalige, mit seinem Tod abgeschlossene Erscheinung im schweizerischen Hüttenbau.

Erste unkonventionelle hütten

In den 1960er-Jahren erhielt das Biwak als reduzierter Unterkunftstyp eine grosse Bedeutung im schweizerischen Hüttenbau. Es machte auch sehr abgelegene und wenig besuchte Gegenden zugänglich. Mit dieser neuen Hüttenform kamen auch neue Architekturformen und Materialien in Gebrauch. Das 1970 von Architekt Hans Zumbühl entworfene Biwak am Grassen beim Titlis erhielt eine Tragkonstruktion mit 30 Stahlröhren als räumliches Fachwerk, dessen Dreiecke ursprünglich mit Sperrholzplatten, später mit Metallplatten, ausgefüllt wurden. Unverkennbar ist bei diesem Entwurf die gestalterische Anlehnung an die Ideen von Jakob Eschenmoser zur Schaffung eines Maximums an Innenraum mit einem Minimum an Aussenfläche. In ähnlicher Weise entstand 1974 das neue Stockhorn-Biwak. Im Jahr zuvor war im Val Ferret das Dolent-Biwak als hexagonales Gebilde mit einer Kunststoff-Aussenhülle entstanden. Einige Biwaks wurden auch als eigentliche Metallcontainer in die Berglandschaft gestellt.

Als Reaktion und Kritik an dieser neuen Formen- und Materialvielfalt im Gebirge entwarf Hans Zumbühl seine Visionen für neue Hütten, die wiederum auf einem Sechseck aufbauten. Basierend auf diesen Überlegungen, an denen auch noch Jakob Eschenmoser beteiligt war, schuf dieser 1975 als letztes Werk die Bertolhütte. Sie war

Jakob Eschenmosers erste SAc-hütte war ein durchschlagender Erfolg: Bis heute prägt die 1957 eingeweihte Domhütte die SAc-hüttenbaugeschichte. Die 1890 erstellte und 1919 umgebaute Domhütte war mit 24 Plätzen bald zu klein. Den Zuschlag für den Neubau erhielt Jakob Eschenmoser.

Foto: Matthias Gehri Foto: E. W ehrli aus Clubhütten des Schw eiz er Alpen Club, 1927

wiederum mit einem polygonalen Grundriss ausgestattet, aber mit einem leichten Holzrahmen konstruiert und mit einer in die Höhe strebenden Dachform versehen. Als Abschluss dieser Experi-mentierphase zwischen 1960 und 1990 entstand die 1993 eröffnete Cabane du Velan nach Plänen des Walliser Architekten Michel Troillet. Der auf einem mandelförmigen Grundriss aufbauende Entwurf erhielt ein einfaches Holzbausystem, dessen Fassade mit einer Metallhaut eingekleidet wurde. Der unkonventionell gestaltete, schlank pro-portionierte Bau ordnet sich geschickt in die raue Gebirgslandschaft ein. Er erinnert mit seiner ökonomisch optimal organisierten Bauweise zudem an die Tradition der SAC-Hütten aus der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

1996 griffen die Basler Architekten Stéphane de Montmollin und Brigitte Widmer beim Entwurf der neuen Cabane de Saleina das alte Prinzip des einfachen Holzbaus mit Satteldach wieder auf. Nach den gleichen Regeln entstand 2003 die neue Finsteraarhornhütte, während die im selben Jahr

Der Einfluss von Eschenmoser reichte bis in die späten 70er- Jahre, wie zum Beispiel beim 1970 erstellten Biwak am Grassen, hier nach einer Aussen-renovation von 1983. mit dem schneckenförmigen, polygonalen Grundriss erreichte Eschenmoser, dass die Schlafenden mehr Platz hatten und die hütte dennoch kleiner war als jene mit einem rechteckigen Grundriss.

Inspierierend für Eschenmoser war der Glarner Architekt hans Leuzinger. Seine 1930 erbaute Planurahütte gilt heute als beispielhafte Vorgängerin von Eschenmosers späterer Grundrissgestaltung.

Foto: Schönw etter aus Clubhütten des S.A.C., 1931 Plan: Jakob Eschenmoser, Ar chiv SA C Foto: Ueli Blatter -Huwyler, Ar chiv SA C

eröffnete Capanna Cristallina bereits ein Flachdach erhielt. Mit diesen drei Bauten kam die Tradition der Holzhütte aus der Zeit um 1900 wieder zu Ehren, nun aber versehen mit einem massiv erhöhten Komfortstandard.

Die wende im hüttenbau um 2000

Ebenfalls als Holzbau über rechteckigem Grundriss mit Satteldach entstand im Jahr 2000 die neue Keschhütte, allerdings ausgestattet mit einer grossen Verglasung auf der Südseite und Sonnenkollektoren auf dem Blechdach. Diese Glaswand stellte die Grundsätze der traditionellen Gestaltung mit geschlossenen Aussenwänden und spärlicher Befensterung – gewissermassen ein roter Faden seit den Anfängen des Hüttenbaus – erstmals infrage. Bei der 2003 vom Genfer Architekten Philippe Meier entworfenen Topalihütte kam, nach der Cabane du Velan, zum zweiten Mal Blech als Fassadenverkleidung einer grossen Hütte zum Einsatz. Doch trotz ungewöhnlicher Material-wahl integriert sich dieser Bau durch die traditionelle Bauform gut in die Landschaft.

In neuster Zeit führt die Suche nach expressiven Formen beim Hüttenbau zu futuristischen Gebäudehüllen. Bei der Capanna Corno Gries lässt der Architekt auf dem geköpften und ausgekernten Altbau einen umgekehrten Pyramidenstumpf schweben. Die von Studenten von Andrea Deplazes, Professor für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich, entworfene neue Monte-Rosa-Hütte greift auf kristalline Formen zurück, deren Wurzeln wohl in den Biwaks der 1970er-Jahre und in den Hütten Eschenmosers zu suchen sind. Eine solche Bauform hat im Hochgebirge vor gut zwei Jahrzehnten beim

SAc-hütten von Jakob Eschenmoser typisch für Eschenmosers Bauweise ist die Seewenhütte. Dank einer aufwendigen Sanierung Als eine der späteren direkt von Jakob Eschenmoser beeinflussten SAc-hütte gilt die cabane de Bertol. 1957 Neubau Domhütte 1978 seitlicher Anbau, 2009 Ergänzungsbau 1959 Erweiterung Voralphütte 1988 zerstört durch Lawine, 1989 Neubau im gleichen Stil 1961 Erweiterung Spannorthütte 1964 Neubau Coazhütte 1982 seitlicher Anbau 1964 Neubau Bächlitalhütte 1980 Umbau, 2000 Erweiterung mit Holzbau 1966 Erweiterung Salbithütte 1979 Erweiterungsbau, 1998 Umbau 1967 Umbau Cadlimohütte 2002 Vergrösserung 1968 Neubau Carschinahütte 1985 Umbau, 1993 Erweiterungsbau 1968 Erweiterung Keschhütte 2000 Abbruch und Neubau 1970 Neubau Sewenhütte 1973 durch Lawine zerstört, Neubau durch Jakob Eschenmoser, Umbau 2006 1970 Erweiterung Albert-Heim-Hütte 1970 Umbau Sustlihütte 1992 vollständig umgebaut 1974 Wiederaufbau Sewenhütte 1974 Erweiterung Täschhütte 1976 Neubau Cabane de Bertol 2000 Umbau 1986 Umbau Capanna di Sciora Foto: Thomas Schaffer Foto: Klopfenstein, Archiv SAC im Jahr 2006 ist sie eine der wenigen hütten, die heute noch in ihrer ursprünglichen Form erhalten ist.

Projekt für ein neues Restaurant auf dem Jungfraujoch noch zu heftigen Protesten geführt. Momentan ist es noch zu früh, um über die Rezeption dieser Hütten zu urteilen. Immerhin lässt sich feststellen, dass sich diese Bauten klar von ihrer umgebenden Naturlandschaft abgrenzen und somit von einer langen Tradition im Hüttenbau Abschied nehmen.

Nicht nur bei den Neubauten, sondern auch bei den Erweiterungsbauten sind in neuster Zeit Tendenzen zu erkennen, die mit Traditionen brechen. Als Ergänzung zu den alten « introvertierten » Refugien entstehen neuartige architektonische Spielformen. Am Anfang dieser Entwicklung findet sich der 2003 vom Sankt Moritzer Architekten Hans-Jörg Ruch entworfene Erweiterungsbau mit Holzverschalung und Flachdach bei der Tschiervahütte, der in der Presse ein grosses Echo hervorrief. Der in seinen Proportionen dem Hauptbau deutlich untergeordnete und klar gestaltete Erweiterungsbau spornte offensichtlich zur Nachahmung an. Einige Beispiele, wie der neue Blechwürfel neben der Cabane du Trient ( 2006 ) oder der massive Holzriegel bei der durch Jakob Eschenmoser 1974 subtil erweiterten Täschhütte, vermögen aber nicht mehr an die hohe Gestaltungsqualität der Tschiervahütte anzuknüpfen. Besonders auffällig in der Gebirgslandschaft wirkt die Erweiterung der Medelserhütte von 2006 mit einem voluminösen Blechanbau und unkon-

mut zum Bruch mit traditionen bewiesen die Bauherren beim Erweiterungsbau der tschierva-hütte. klar mit den traditionen gebrochen haben die Architekten beim Erweiterungsbau der capanna corno Gries mit dem sehr auffälligen und ungewöhnlichen Ergänzungsbau.

Die 1993 neu erbaute cabane du Velan ist typisch für die jüngste Phase im hüttenbau, in der mit Formen und Baumaterialien experimentiert wird.

Foto: Dr es Balmer Foto: Ar chiv SA C Foto: Dr es Balmer

ventionellen Fensterformen. Neben diesen expressiven Gegensätzen finden sich aber auch in neuerer Zeit Erweiterungen, die weniger Kontraste zum Altbau setzen. So wurde etwa die Wildstrubelhütte 2005 von Architekt Beat Bäriswil mit einem zweiten Bau ergänzt, der die traditionelle Gestaltungsweise mit einem neuen Materialkonzept weiterführt. 2008 erhielt die Terrihütte eine Erweiterung, bei der Architekt Gion Caminada die Tradition des SAC-Hüttenbaus im 2O. Jahrhundert aus Bruchstein wieder aufnahm.

Das Feld der baulichen und gestalterischen Möglichkeiten scheint heute unendlich gross. « Der SAC ist offen für innovative architektonische Lösungen », heisst es im aktuellen Leitbild des SAC dazu vielsagend. Die neusten Tendenzen im Hüttenbau sind wohl auch der bauliche Ausdruck eines grundlegenden Wandels bei der Benut-zerschaft. Einige ehemals karge Unterkünfte in den Bergen haben sich zu eigentlichen Berggasthäusern gewandelt, um einer neuen, anspruchsvolleren Kundschaft ein Bergerlebnis zu ermöglichen. Die architektonische Vielfalt im Gebirge ist aber wohl auch Spiegelbild des aktuellen Bauens. Verfremdung von Materialien, Gegensätze von Formen und Farben sind als Gestaltungselemente gefragt. Diese Entwicklungen hätten Jakob Eschenmoser, den bedeutendsten Hüttenarchitekten im 2O. Jahrhundert, möglicherweise wenig gefreut. 1973 bemerkte er in seinem Buch: « Wenn ein Bauwerk gut in die Landschaft passt, dann spricht man stolz von Landschaftsschutz. Wenn es aber weniger gut passt, dann redet man von ‹zu-kunftsgerichteter Bauweise›. » In diesem Spannungsfeld pendelt der aktuelle Hüttenbau. Erst die nächste Generation wird darüber urteilen können, mit welchen Qualitäten die Architekten und der SAC die Tradition des Hüttenbaus und ihren Bezug zur Umgebung weiterentwickelt haben. a

Bibliografie:

Andenmatten Erwin, Einsame Perlen von unschätzbarem Wert. Wahlfacharbeit an der ETH Zürich, Zürich 1989. Architektenlexikon der Schweiz 19./20. Jahrhundert. Hg. von Isabelle Rucki und Dorothee Huber, Basel/Boston/Berlin 1998.

Dreier Yves, Topalihütte. Eine Hütte, eine Unterkunft. In: Werk, Bauen und Wohnen, 10/2003.

Eschenmoser Jakob, Vom Bergsteigen und Hüttenbauen, Zürich 1973.

Furter Willy, Hunziker Manfred, Das grosse Clubhüttenbuch, 6. Auflage, Bern 2002.

Hans Leuzinger ( 1887–1971 ), Pragmatisch modern. Katalog der Ausstellung im Kunsthaus Glarus, Zürich 1994.

Petitjean Marc, SAC-Hütten: Geschichte, Entwicklung und Typologie. Wahlfacharbeit an der ETH Zürich. Unveröffentlichtes Typo-skript, Zürich 1997 ( Archiv SAC Bern ).

typisch für die gegenwärtige Bauweise ist die neue capanna cristallina, 2003 eröffnet. Die Architekten haben dabei den holz - bau des ausgehenden 19. Jahrhunderts wieder aufgegriffen.

Foto: Marco Volken

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