Fliegen war zweitrangig
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Fliegen war zweitrangig Geschichte des Gleitschirmfliegens (Teil 1)

Man schreibt einen Sommertag im Juni des Jahres 1978. Über Mieussy, einem kleinen Dorf in der französischen Haute-Savoie, geht die Sonne auf. Ihre wärmenden Strahlen fallen auf drei Bergwanderer, die forschen Schrittes zum Pertuiset, einem der vielen die Ortschaft umgebenden Gipfel, unterwegs sind. In den Rucksäcken von Gérard Bosson, Jean-Claude Betemps und André Bohn befinden sich aber weder Proviant noch Gipfelwein und das aus gutem Grund. Die drei Copains gedenken nämlich, die Korken unten im Tal knallen zu lassen, weil sie, sollte ihr Vorhaben wie geplant gelingen, nicht den Auf-, sondern den Abstieg feiern möchten. Die erfahrenen Fallschirmspringer sind auf eine Theorie gestossen. Dank den neuen, doppellagigen Ram-Air-Kalotten(1), die, im Gegensatz zu den früheren einlagigen Rundkappenschirmen, steuerbar sind, können sie vorwärtsfliegen und erreichen somit einen besseren Gleitwinkel als 1:1. Aufgrund dieser Eigenschaften sollte es möglich sein, zu Fuss zu starten, wenn Bergflanken in einem steileren Winkel ins Tal abfallen als die Flugbahn ihrer Fallschirme. Die Mission an diesem Sommertag bestand darin, diese Überlegungen auf ihre Praxis-tauglichkeit hin zu überprüfen. Oben angekommen, freuen sich die drei über den flotten Aufwind, der den steilen und der Sonne voll ausgesetzten Hang hinaufbläst. Sofort legen sie die Schirme aus. Nachdem die wenigen Leinen kontrolliert sind, stecken sie ihre Füsse durch die Bein- und ihre Arme durch die Schultergurte und ziehen alles straff. Sie ergreifen die vorderen Traggurte und heben ihre Hände seitlich bis auf Schulterhöhe. In ihrer Körperhaltung der Jesusstatue auf dem Corcovado in Rio nicht unähnlich, stehen sie jetzt startbereit da.

Der Pionierflug Im nächsten Moment rennt Bosson beherzt los. Die sieben Kammern seines Fallschirms füllen sich mit Luft, und dank der Steilheit des Geländes steht die Kappe erstaunlich schnell über ihm. Jetzt beschleunigt er voll. Als er nicht mehr schneller rennen kann, bremst er seinen Schirm ein wenig an, und tatsächlich: Seine Füsse verlieren den Boden so plötzlich, dass er in der Luft noch weiterstrampelt. Als Bohn und Betemps ihren Freund sicher in der Luft sehen, setzen auch sie zum Start an. Bedingt durch den mit heutigen Werten verglichen miserablen Gleitwinkel von 3:1 fliegen die drei Pioniere nahe dem Hang ein paar lächerliche Kurven: Nach wenigen Minuten landen sie am Fuss des Berges, wo sie sich umarmen. So verlief die Geburtsstunde des Gleitschirmfliegens. Denn in den nächsten Tagen und Wochen lassen die drei Franzosen ihrem ersten Flug viele weitere folgen, und die Nachrichten über die geglückten Flüge verbreiten sich in Windeseile. Bereits 1979 eröffnet Gérard Bosson als Folge einer unumkehrbaren Sportbewegung in Mieussy die weltweit erste « école de parapente ». Die « Vorflieger » aus den USA Doch die drei Pioniere in Mieussy waren nicht die Ersten, die sich mit einem Fetzen Tuch, das durch ein paar Leinen mit einer Art Klettergurt verbunden ist, von Bergen stürzten. So trug der 1912 geborene US-Amerikaner Francis Melvin Rogallo, der bei der NASA arbeitete und als Erfinder des Deltafliegers bekannt ist, wesentlich zur Erfindung des Flächenfallschirms bei. Bereits 1948 liess er einen flexiblen Gleiter patentieren. Dieser bestand aus nebeneinanderliegenden, nach vorne offenen und hinten verschlossenen Stoffröhren, die mittels Leinen mit dem einige Meter unter der Kappe hängenden Gurtzeug verbunden waren. Der Fahrtwind strömte durch die Öffnungen, und der dadurch in den Zellen entstehende leichte Überdruck verwandelte das Tuch in eine durch ausgeklügelte Leinengeometrie bestimmte Tragflächenform. Im Gegensatz zu seinen Deltaplänen landete die Idee des flexiblen Flügels aber vorerst in der Schublade. Erst nach der Freigabe des Patents durch die NASA Anfang 1964 griff Domina Jalbert auf sie zurück und kombinierte sie mit seinem eigenen im Januar 1963 patentierten Konzept. Den daraus entstandenen Flügel, der zukunftsweisend nach dem Staudruckprinzip funktionierte, meldete er unter dem Namen Parafoil zum Patent an. Obwohl Jalberts Parafoil den heutigen Fall- und Gleitschirmen sowohl in Form als auch in Funktion deutlich näher kam, gehen die ersten fussgestarteten Flüge auf das Konto einer anderen Konstruktion. Dave Barish, auch er ein Mitarbeiter der NASA, hob 1965 regelmässig mit seinem Sailwing zu kurzen Gleitflügen ab. Sein Fluggerät bestand aus fünf nebeneinanderliegenden, einlagigen Stoffbogen. In den folgenden Jahren propagierte Barish zusammen mit seinem Sohn Craig und Dan Poynter, einem bekannten Fallschirmspringer, die neue Sportart unter dem Namen Slope Soaring2 in verschiedenen Skigebieten der USA. Der durchschlagende Erfolg blieb jedoch aus. Ende der 60er-Jahre stellte Barish die Entwicklung des Sailwing ein. Auf den Punkt gelandet Die wenigen Individualisten, die sich Anfang der 70er-Jahre in Europa mit der Weiterentwicklung des Bergfliegens befassten, benutzten den aus den Konzepten von Rogallo und Jalbert hervorgegangenen und von Letzterem patentierten Parafoil. Wie in Mieussy waren es auch in der Schweiz vor allem Fallschirmspringer, die in den Anfängen fussgestartete Flüge mit Ram-Air-Schirmen durchführten, und zwar von möglichst steilen Flanken. Das hatte praktische Gründe. Punktlandewettbewerbe waren damals sehr populär, und obwohl Fallschirmspringen der einzige Sport ist, bei dem auch die Meister vom Himmel fallen, musste man trotzdem viel üben, um zu den Besten zu gehören. Und um genau das ging es diesen Abenteurern: Möglichst günstig mit der Bergbahn oder zu Fuss statt mit dem Flugzeug in die Höhe, und dann möglichst oft das präzise Landen üben. Der Flug als solcher war nur Mittel zum Zweck. In der Schweiz starteten diese gleitenden Fallschirmspringer beispielsweise vom Säntis oder Männlichen. Letzterer entwickelte sich zu einem Mekka des Fallschirmsports. Ein schwieriges Fluggerät Es gab aber noch eine zweite Gruppe von Sportsleuten, die die fussstartfähigen Flächenfallschirme und die Mitte der 80er-Jahre daraus entwickelten Gleitschirme für sich entdeckten: die Alpinisten. Auch für sie war der Flug sekundär; ihnen ging es in erster Linie um den bequemen und schnellen Abstieg. Diese Haltung führte aber teilweise auch zu Problemen. So wählten viele Bergsteiger, die einen Schirm benutzten, die Gipfel weniger nach ihrer fliegerischen Eignung aus, sondern vielmehr wegen der alpinistischen Attraktivität. Zudem besassen nur wenige unter ihnen fliegerische Vorkenntnisse und hatten somit kaum eine Ahnung von Aerodynamik und idealem Flugwetter. Dies führte immer wieder zu Startversuchen in ungeeignetem Gelände und/oder bei ungünstigen Windbedingungen. Einige dieser Starts gingen schief. Leinen blieben beim Aufziehen an scharfkantigen Steinen hängen, rissen entzwei, oder der gewählte Startplatz war dermassen steil, dass er einen kontrollierten Startabbruch unmöglich machte. Manchmal herrschte ein etwas böiger Aufwind, der sich kurz nach dem Abheben als sogennantes Leerotor erwies, der dem Schirm eine kreativere Form verpasste und ihn samt Piloten unsanft zu Boden drückte. Die meisten, denen solche oder ähnliche Missgeschicke geschahen, kamen mit ein paar Schürfungen und blauen Flecken davon. In den Anfängen der alpinen Gleitschirmfliegerei kam es aber auch, so wie in allen Pionierzeiten der verschiedenen Flugsportarten unvermeidbar, zu einigen schwereren Unfällen. Das forderte alle heraus. Der 1974 von Drachenfliegern gegründete Schweizerische Hängegleiter-Verband ( SHV ) erarbeitete mit den Gleitschirmflugschulen neue Ausbildungskonzepte mit Sicherheit als oberster Priorität. Die Hersteller versuchten – einige mit mehr, andere mit weniger Erfolg –, Geräte mit einfacheren Starteigenschaften und Fehler verzeihendem Flugverhalten zu konstruieren. Die Piloten gruppierten sich, gründeten Clubs und Vereine und tauschten Erfahrungen aus. Diese Massnahmen zeigten schon bald die Wirkung. In der zweiten Hälfte der 80er-Jahre wurde das Gleitschirmfliegen um einiges sicherer. Ungefähr zur gleichen Zeit eröffneten einfacher zu startende und leistungsfähigere Schirme den geübten und vielleicht auch etwas waghalsigeren Piloten unter den Alpinisten neue, bis dahin ungeahnte Möglichkeiten.

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